A.B. Exner

Spätes Opfer


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sein. Rauchen hätte dem entgegen gestanden, also war die logische Konsequenz, nicht zu rauchen. Zuerst wollten wir uns einen Überblick über die Möglichkeiten des Marktes verschaffen. Das Riesenrad war der geeignete Ort hierfür. Da es noch vor sieben Uhr am Abend war, war die Schlange vor der Kasse nicht so lang. Der Ausblick war fantastisch und ernüchternd zugleich. Ernüchternd, weil es diesig war, kein Schnee lag und der Lichtschmuck des Marktes und der Buden einfach nur albern wirkte. Fantastisch war der Blick, weil der gesamte Rummel zu unseren Füßen lag. Da andere Leute auch noch einsteigen wollten, fuhren wir in kleinen Schritten, Gondel für Gondel, nach oben und warteten dann dort. Als wir ganz oben waren, standen wir eine gewisse Zeit. Und länger. Nach ein paar Minuten machte sich Unruhe breit. In der Gondel unter uns hatten die Gäste aufgehört zu singen und zu schaukeln. Noch eine Gondel tiefer verkündete eine kreischende Kinderstimme, dass es kalt sei. Nun, das merkten wir dann auch so langsam. Es gab einen Defekt in der Elektrik. Sogar die Beleuchtung des Riesenrades war erloschen. Nach etwas mehr als fünfzig Minuten, Dirk hatte immer wieder auf die Uhr geschaut, wussten wir genauer als geplant, wo sich die Stände auf dem Markt befanden, die wir besuchen wollten. Es war arschkalt. Und windig. Dirk hatte in der Zeit sieben Zigaretten geschafft. Das Riesenrad bewegte sich. Nach weiteren zehn Minuten waren wir unten angekommen. Was kaputt war, interessierte niemanden. Es gab das Geld zurück und gut war es. Dirk hatte keine Zigaretten mehr. Vera hatte Durst und ich musste pinkeln. Wir verabredeten uns am Stand vor der Glasbläserei. Dort wurde die Kunst des Glasziehens vorgeführt. Somit brannte dort der Brenner des Handwerkers, ergo, es musste warm sein. Dirk musste in den Bahnhof zum Zeitungskiosk, dort wollte er seine Kippen holen. Vera und ich hatten den gleichen Weg. Ich ging pinkeln, Vera wartete vor dem Wagen. Dann besorgten wir uns einen frisch aufgebrühten Holundertee und verkrümelten uns in die windstillste Ecke des Zeltes. Es roch wunderbar nach Zimt, Glühwein und Anis. Sie erzählte mir, dass sie das mit dem Rauchen nicht verstünde. Ich antwortete ihr, dass ich in sie verliebt sei. Die folgenden Sekunden kann ich nicht vergessen. Sie starrte mich an. Lange. Der Becher mit ihrem Tee dampfte und verschleierte wie streichelnder Nebel ihr wundervolles Antlitz. Am anderen Ende des Zeltes erblickte ich Dirks Mutter. Was mich an die Verabredung mit ihm erinnerte. Ich unterbrach die Stille mit dem Hinweis darauf, dass Dirk uns bei den Glasbläsern erwarten würde. Wir standen auf. Sie reichte mir nicht die Hand. Sah mir nur tief in die Augen. Dann erklärte sie mir, dass sie mit Dirk zusammen sei. Sprach´s und stiefelte in Richtung des vereinbarten Treffpunktes. Ich dackelte mit eingezogenen Schultern hinterdrein. Was war, wenn sie es Dirk erzählte? Sie hatte an diesem Abend keine Chance, es ihm zu erzählen. Dirk kam nach über einer Stunde angetorkelt. Er hatte einen Lehrling aus seinem Betrieb getroffen, der ein Lehrjahr weiter war. Beide hatten Bier und Berliner Luft getrunken. Ein Likör, der nach Pfefferminze schmecken sollte. Dirk war ganz begeistert. Seine Mutter war entgeistert. Vera enttäuscht. Ich verstand es nicht. Überhaupt war ich nicht in der Lage, mir eine Emotion parat zu legen, wenn so etwas geschah. Ich verstand es eben einfach nicht. Der Geburtstag verlief anders als sonst. Ruhiger. Mit einer Mutter in permanenter Überwachungshaltung. Als Dirk auf dem Balkon seine fünfte Zigarette geraucht hatte, stand Vera auf und wollte gehen. Dirk nahm sie in den Arm und hielt sie kurz auf. Den Kuss, den er wollte, bekam er nicht. Sie werde ihn nicht küssen, wenn er gerade geraucht habe. Das sei einfach nicht auszuhalten. Eine Stunde später, es war nach zehn, wandte ich mich ebenfalls zum Gehen. Zwei Leute aus der Parallelklasse waren noch da. Sie wollten mit Dirk nur eben noch eine rauchen und dann ebenfalls verschwinden. Also ging ich los. Der nächste Morgen drohte. Am 17.Dezember musste ich bei der Inventur in meinem Lehrbetrieb helfen. Mein Ausbilder hatte extra darum gebeten, dass ich schon um halb sieben bei ihm sei. Am dritten 17. Dezember dieses Jahrhunderts war irgendetwas in Kitty Hawk los gewesen. Während ich nach Haus ging, fiel es mir ein. Der erste Motorflug der Geschichte. Die Brüder Wright. Ich öffnete die Haustür. Der eine Bruder hieß Wilbur. Wie hieß der andere? Erste Etage. Hier wohnten die Wilkes und die Oma Schubotz. Irgendwas mit einem Selbstlaut am Anfang. Zweite Etage. Erster Selbstlaut – A. Nein, das passte nicht. E? Auch nicht. Die Namensschilder zeigten, dass die Familien Lange und Raszczinkiy hier wohnten. Dritte Etage und ich war vor meiner Wohnungstür. Irgendwas mit dem Buchstaben I? Nein. Dann jetzt… Sie begrüßte mich mit dem Vorwurf, weshalb ich so lange auf mich warten ließe. Vera hatte ein Taschentuch in der Hand und fragte, ob sie noch mit reinkommen könne. Meine Mutter schaute zwar etwas verständnislos, machte uns dann aber doch einen Tee und schimpfte, weil mein Pullover so nach Rauch stank. Mutter hatte sich das Rauchen erst vor ein paar Jahren abgewöhnt und reagierte seither so. Vera saß in meinem Sessel und schaute aus dem Fenster. Ich sagte kein Wort. Nicht nur Tee, auch ein paar selbstgebackene Kekse brachte Mutter und fragte was los sei. Vera berichtete von Zigaretten und Alkohol. Von Dirks Kollegen, die einfach immer nur irgendwelche Feiern im Kopf hätten und über ihre Arbeit nur schlecht sprachen. Von ihrer großen Enttäuschung, wenn Dirk wieder nicht zu einer Verabredung gekommen war. Oder er kam, nur verspätet oder nicht mehr nüchtern. Sie war so traurig. Meine Mutter war so verständnisvoll. Ich wusste nichts. Weder was ich sagen sollte, noch wie reagieren oder gar helfen. Ich war jung und naiv. Das Leben um mich herum war bunt. Ich hatte Ziele und Ideen. Das Interesse, Dinge, die nicht richtig sein konnten, zu hinterfragen? Nein. Gefühle zu deuten? Nein. Zu verstehen, weshalb andere traurig oder entrüstet waren? Nein. Immer wieder berührten meine Mutter und Vera die Themen, die nach meinem Verständnis schon längst erledigt waren. Waren Frauen so kompliziert? Sie redeten viel. Ich hörte den beiden Frauen zu. Und verstand nichts. Wenn man sich aus dem Balkon meines Zimmers lehnte, dann konnte man erkennen, ob in Veras Wohnung Licht brannte. Ich sah in immer kürzeren Abständen nach. Denn dann könnte sie endlich nach Hause gehen. Weshalb war sie noch hier? Sie wollte nicht allein zu Haus sein. Meine Mutter hätte sie sogar bei uns schlafen lassen. Kurz vor Mitternacht stupste meine Mutter mich an. Ich war wohl weggeknickt. Ich sollte Vera nach Haus bringen. Vor dem Haus hakte sie sich bei mir unter. Es waren nur ein paar Meter. Im Schatten des Eingangstores zu ihrem Haus zog sie sich an mir hoch und küsste mich auf die Wange. Verwirrt küsste ich sie auf den Hals und wandte mich zum Gehen. Vera sah zu mir hoch. Sie nahm meine Wangen in ihre Hände, erklärte mir, dass ich eine Überraschung sei und verschwand im Treppenhaus. Flugs ging ich mit rein. Ich wollte eine Erklärung. Überraschung? Sie antwortete mit gesenktem Blick, dass ich immer akzeptiert hatte, dass Dirk und sie ein Paar waren. Dass ich bis gestern keine Gefühlsregung in ihre Richtung zugelassen hatte. Und jetzt, wo sie bereit wäre, mir alles zu geben - das hätte ich doch spüren müssen - wolle ich einfach verschwinden. Als ich zwei Stunden später in meine Wohnung schlich, war meine Mutter schon im Bett. Wir hatten uns zwei Stunden lang nur festgehalten und geküsst. Im Treppenhaus vor ihrer Wohnung. Ich musste ins Bett. An Schlafen war nicht zu denken. Also zurück zur letzten ungelösten Aufgabe des Tages. Wie war das? Dann kam der Geistesblitz. Orville, Orville Wright. Das war der Name des Bruders. 1903, Orville und Wilbur Wright. Wobei, da gab es immer noch die Geschichte mit dem ausgewanderten Deutschen. Ein Franke soll es gewesen sein. Angeblich sollte der schon zwei Jahre vorher in der Luft gewesen sein. Wie war denn nun wieder dessen Name? Irgendwas mit Adler, glaubte ich mich zu erinnern. Da hatte ich dann wieder eine Grübelaufgabe.

      Reginald Hübler

      Er war so stolz, als er mir davon berichtete. Ein Vietnamese, der gegen die Amerikaner gekämpft hatte, war einer der Tauchausbilder in der Einheit, in die Bert versetzt worden war. Hung wurde immer mehr zu seinem Freund. Gemeinsam fuhren die beiden in den ersten Urlaub nach Berlin. Hung wollte unbedingt den Tauchclub Nautilus kennenlernen, in dem Bert inzwischen ein Ehrenmitglied war. Das war so üblich, wenn ehemalige Gefährten zur Fahne gerufen wurden. In diesen vier Tagen in Berlin entwickelte sich die Situation, die dafür sorgte, dass Bert aus der DDR fliehen konnte.

       Hung nahm also an einem Tauchtraining teil, hielt Vorträge zu einer Diashow. Redete über den heroischen Kampf gegen die Amerikaner. Zeigte seine Orden und Auszeichnungen und erklärte die technischen Merkmale der Tauchausrüstung, welche die Vietnamesen zusammen mit den Genossen aus der großen ruhmreichen Sowjetunion entworfen hatten. Bert hing das alles zum Hals raus. Hung fügte sich und Berts Trainingskumpels waren nur genervt. Einzig den Parteibonzen und der Führungsriege des Vereines schwoll die Brust. Nicht nur wegen Hung, sondern auch wegen Bert Klose.

       Er hatte am Abend vor der Reise erfahren,