Katja Darssen

High Energy


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schaute sie ihren Händen hinterher, überlegte kurz und stellte das ganze Espressozeug wieder weg. Heute nahm sie sich Zeit für eine Kanne Tee, genau wie am Wochenende. Vielleicht sollte ich auch diese Diplomarbeit noch einmal genauer ansehen. Die Hausaufgaben ihrer großen Kinder, die nicht ganz ihre waren. So wollte sie das doch sehen. Sich um die Studenten kümmern. Sie nahm eine der englischen Teetassen, die Kanne und das Teelicht aus der Vitrine, öffnete ein Küchenfenster. Vogelgezwitscher drang zusammen mit der Kälte herein. Diese Küche hatte sie wirklich gut hingekriegt. Tisch und Stühle waren handgefertigt. Unter dem Essplatz lag ein gewebter Teppich. Die hölzernen Küchenschränke, die riesige Spüle, Herd und Kühlschrank waren großzügig auf den Dielen angeordnet. Mit einem Seufzer goss sie das Teewasser auf. Sie holte die Diplomarbeit, setzte sich an den Küchentisch, trank heißen Tee in der kalten Luft vor dem offenen Fenster, las, machte Notizen. Das war ordentlich, fand sie. Nach zwanzig Seiten hatte sie genug. Isabel verschwand noch einmal im Bad. Ihr Haar musste sie noch ein bisschen in Form bringen. Makeup, Lidschatten, Kajal, Puder, Lippenstift. So, da bin ich wieder. Im Schlafzimmer warf sie ihren Morgenmantel auf das Bett und zog sich an. Einen schwarzen Rollkragenpullover. Dazu suchte sie die Tweedhose heraus, in die sie diesen schönen dunkelbraunen Gürtel ziehen konnte, dazu die dunkelbraunen Pumps. In der Küche hatte sie sich entschieden, das Auto zu nehmen. Mittlerweile war es 8:30 Uhr. Natürlich würde sie im Stau stehen. Vielleicht hätte es außerdem der Gesundheit besser getan, sich ein wenig zu bewegen. Aber nicht heute! Sie nahm den Blazer vom Haken, verließ die Wohnung, lief die Treppen hinunter, hielt der Frau mit dem Kinderwagen die Haustür auf, ging zu ihrem Golf, der unter einem sich regenden Fliederstrauch abgestellt war, schmiss ihre dunkelbraune Aktentasche auf den Beifahrersitz und stieg ein.

      Nach ruppigen Wettkämpfen im Straßenverkehr war sie an der Parkhauseinfahrt der Maiers Business School angelangt. Neonröhren erhellten den Parkkeller aus Beton. Sie stellte das Auto auf einem Platz für die Lehrkräfte ab. Klack, klack hallten ihre Schuhe. Klack. In diesem Keller mit diesen schönen Schuhen. Ein Jammer! Zum Institut gelangte sie durch eine Eisentür, deren Farbe an einigen Stellen abgeblättert und dessen Fenster aus kleinen, grünlich schimmernden Glasbausteinen immer staubig war. Heute Morgen fiel es ihr dramatisch auf. Empört ergriff sie die schwarze Plastikklinke und stapfte in das Treppenhaus.

      Ganz anders erging es allmorgendlich Viktors Sekretärin, die mit ihm inzwischen in die achte Etage am Hauptsitz der EnVer AG umgezogen war. Ihr sogenanntes Vorzimmer war riesig und nagelneu eingerichtet. Ihr Chef, Professor Doktor Viktor Schlegel, war jedoch ganz der alte geblieben. Nur war er selten da. Vortragsreisen, Verhandlungen mit Partnern und vor allem seine Tätigkeit im neuen Forschungszentrum ließen ihm kaum Zeit, aus seinem neuen Büro heraus zu agieren. Heute war er schon den ganzen Tag lang im Kronberger Schlosshotel. Vorstandsklausur, das hört sich doch gut an, fand die Sekretärin.

      Ihr Chef jedoch hatte einen anstrengenden Tag gehabt, wie er jetzt am Abend in seiner Suite feststellte. Sein Hemd war durchgeschwitzt und ein herber Geschmack verklebte ihm den Mund. „Dieser Viktor, wie wir ihn über kurz oder lang alle nennen werden, ist die beste Wahl, denn er ist ein hervorragender Mittelfeldspieler“, hatte Hofmacher heute Nachmittag gesagt. Viktor legte sein Sakko auf das Doppelbett, riss die Krawatte herunter, begann sein Hemd aufzuknöpfen. Er würde auch nach hinten sehen, hatte Hofmacher hinzugefügt. Diese Human-Resources-Dame hatte sich erlaubt, einen Spaß zu machen, wonach er dabei mal nicht gegen seine Anlagen laufen solle. Hofmacher hatte gelacht. Die anderen beiden Vorstandskollegen, darunter Dr. Paul Moritz, hatten auf ihre Unterlagen geschaut. Hofmacher hatte sich geräuspert. „Alle könnten sich an ihm, Viktor, ein Beispiel nehmen.“

      Es war wie in der Schule gewesen. Er ließ das Hemd vor das Bett fallen und ging in die Dusche.

      „Wenn er dann noch die Speicherkapazität seines Wasserstoff-Batterie-Dingens hochsetzen könnte, wäre alles perfekt.“ Das hatte dieses Strategieäffchen zu sagen gewagt.

      „Die benötigten Ressourcen wird sich Viktor schon beschaffen und dann wird er es mit unserem Wasserstoff-Akkumulator schon hinkriegen“, hatte Hofmacher entgegnet. Das Budget war mit Jan Mauerkamp bereits besprochen. Mauerkamp hatte beteuert, dass das Budget nicht in Frage gestellt werde, damit Nachfrage und Angebot schnellstmöglich korrespondieren könnten.

      Hätte ich einhaken sollen, fragte sich Viktor hier oben in seinem Zimmer. Muss ich mich rechtfertigen? Er fragte sich, welchen Platz er denn nun einnahm? Warum hatten sie über ihn statt mit ihm geredet? Er war doch mit ihnen in einem Raum gewesen. Gehöre ich nun dazu oder nicht? Und wozu gehöre ich dann eigentlich? Er kam aus dem Bad, zog sich frisch an.

      Stephan Brückner würde helfen, die dezentralen Versorgungsansätze seiner Kunden auf uns zu lenken, hatte Hofmacher gesagt. Wenn Viktor ehrlich war, wusste er, dass das der Auslöser seiner schlechten Laune war. Vor Wochen hatte er den Brückner zum Mittag getroffen, weil es Hofmacher gewollt hatte. Er hatte mit dem Oberputzmann über Sicherheitsvorkehrungen und Schulungen für seine Leute gesprochen. „So ein Forschungszentrum ist eben kein simples Büro“, hatte Brückner gesäuselt. Bald hatte er sich wie ein Verwandter Hofmachers aufgeführt, der ein neues Familienmitglied kennenlernte. „Josef hat mir schon alles über Sie erzählt. Wer weiß, vielleicht ergeben sich ungeahnte Gemeinsamkeiten.“

      Damals habe ich es nicht glauben wollen und nun steht der Typ tatsächlich auf der Matte. Aber jeder wird die Akkus haben wollen. Auch ohne Brückner! Viktor schüttelte den Kopf. Und jetzt schmeißen wir sogar unsere Klausur für ihn um. Wahrscheinlich ist er schon da. Was soll das werden? Eine konspirative Sitzung zu nächtlicher Stunde?

      Im Kaminzimmer bedankte sich Stephan Brückner dafür, dass man auf seine Termine Rücksicht genommen hatte. Selbstverständlich kam er auch spät am Abend gerne zur Klausur des Vorstandes und hatte sich im Vorfeld bereits Gedanken gemacht. Viktor hielt sich an einer Cola fest, während der späte Gast von ‚konkreten Interessenten für die innovativen Lösungen der EnVer‘ redete. Brückner führte seine belastbaren Beziehungen zur Staatskanzlei, der Gemäldegalerie, der Uni, Bereichen des Flughafens bis hin zum hiesigen Fußballstadion ins Feld. Schließlich war er ihr Facilitymanager. „Selbstverständlich werde ich, wie immer gerne, mit der EnVer kooperieren, damit Zukunftsgedanken auch Realität werden.“

      Was bildet der sich ein? Viktor fühlte sich in seiner Abneigung bestätigt.

      „Freunde“, Brückner sagte tatsächlich Freunde, „es wird mir ein Vergnügen sein, euch zu unterstützen.“

      „Jeder unserer Schritte sollte miteinander harmonisieren“, sagte der Marketingvorstand Moritz.

      Springen alle auf diesen Quatsch an, weil es schon nach 23 Uhr ist? Schon wieder fühlte sich Viktor draußen. Die Neuausrichtung der EnVer AG mit Hilfe dieses Mannes? Aber dann wäre dieser Brückner zu allererst und vor allem mein Partner. Das geht nicht. Das ist unsinnig. Viktor nahm sein Glas und trank. Sicher habe ich es falsch verstanden. Der Wasserstoff-Akku würde nach ein paar Wochen Forschungsarbeit die Kapazität von mindestens 100 MWh haben. Jetzt musste noch an der Schnelligkeit gearbeitet werden, damit Strom via Brennstoffzelle praktisch ohne Unterbrechung zum Verbraucher gelangen würde. Wenn Sonnen- oder Windenergie einmal nicht zur Verfügung standen, durfte nicht erst das Licht ausgehen, bevor der Akku einsetzte. Viktor ratterte alles herunter. Aber äußern musste er sich hier nicht. Alle Anwesenden wussten, warum er zum Vorstand für Forschung und Entwicklung gemacht wurde. Das Thema des Wasserstoff-Akkus war zu zukunftsträchtig, um es nicht auf diese Ebene zu heben. Hofmacher hatte Viktors Team bis zu einem Jahr ungestörtes Forschen zugesichert. Spätestens dann würden sie so weit sein, einen Durchbruch in Größe, Kapazität und Reaktionsgeschwindigkeit zu erzielen. Und danach wird Brückner fehl am Platze sein. Die innovativsten Stromversorgungslösungen, die die Welt je gesehen haben wird, mussten nicht über das Hintertürchen eines Facilitymanagers platziert werden.

      4 Freundinnen

      Die gelben Frühblüher am Straßenrand und vor den Hauseingängen waren nun keine Besonderheit mehr. Überall spross frisches Grün. Aufbruchsstimmung machte sich breit. In Isabel regte sich auch etwas, das sie allerdings noch nicht greifen konnte. Sie nippte an ihrem zweiten Glas Vollrads-Riesling und lächelte ihre alte neue Freundin Sarah an. Am Nachbartisch ließ eine ältere Dame kleine Kuchenkrümel