Olaf Sandkämper

Enophasia


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schon hinter dem Baum verschwunden war und dann dein Rufen hörte, entschied ich mich anders. Wenn du nicht gerufen hättest …“

      Dem Zwerg versagte die Stimme. Wie ein Häufchen Elend saß er auf dem großen Stein und war den Tränen nahe. Rosenblüte drückte ihre Wange gegen seine und Morgenröte sagte ganz leise: „Wir alle leben. Und das verdanken wir dir. Ohne dich wäre alles aus gewesen. Du bist ja nicht fortgelaufen und in meinen Augen wirst du immer ein Held sein!“

      „In meinen auch!“, bekräftigte Rosenblüte. „In meinen sowieso!“, erklärte auch Schneekristall. Silberstreif lächelte ihn an und Simnil wusste, wie dieses Lächeln gemeint war.

      Dann sprach der Hengst: „Es ist gut, dass du dir das jetzt alles von der Seele geredet hast. Du hast die Wahrheit gesagt, und das obendrein noch auf dem 'Stein der Rede'. Er mag es gar nicht, wenn der, der auf ihm steht und spricht, lügt!“

      Simnil schaute ihn irritiert an. „Ja, mein lieber Simnil, DAS HIER ist der 'Palast des Lichts' - und du sitzt mitten auf dem Rednerpult!“

      „Ja … aber … wieso?“, stotterte der Zwerg, der völlig überrascht war. „Was hast du denn erwartet?“, fragte Silberstreif. „Einen Palast aus Stein? Wir sind Einhörner, Geschöpfe des Waldes, wir haben doch keine Häuser. Und sag selbst, kannst du dir einen Palast aus Stein vorstellen, der prächtiger wäre als das alles hier?“

      Nein, das konnte Simnil nicht. Aber er fragte sich, warum dieser Palast so leer war. „Ich dachte, hier wäre mehr los. Wir sind ja ganz alleine! Wo sind denn die anderen Einhörner alle hin?“, fragte er.

      „Allein?“, lachte Silberstreif, „wir sind doch nicht allein!“

      Und als hätten sie auf diese Stichwort gewartet, betraten plötzlich von allen Seiten her Einhörner den Palast.

      Der Zwerg war erstaunt und erschrocken zugleich. Er, der bis vor kurzem noch nie ein Einhorn gesehen hatte, sah sich nun von einer ganzen Herde umringt. Aus ihrer Mitte trat nun ein alter Hengst hervor, und ging würdevoll auf die Gruppe zu. Er begrüßte sie mit dem traditionellen Gruß der Einhörner: „Ich freue mich, dass eure Hufe den Weg zu uns gefunden haben!“

      Silberstreif antwortete genauso traditionell: „Wir freuen uns, dass wir hier willkommen sind – Vater!“.

      Simnil stutzte und horchte auf. Dieses alte Einhorn war also der Vater von Silberstreif. Am Ende war der noch ein Prinz oder so etwas, denn es schien so, als gab der Alte hier den Ton an. Simnil fand es etwas übertrieben, wie die beiden so dastanden und Höflichkeitsfloskeln austauschten. Baumzwerge waren wortkarger und ihre Begrüßungen fielen sehr viel kürzer aus. Oft war es nicht viel mehr als nur ein Kopfnicken. Bei den Einhörnern jedoch war nach seinem Geschmack alles, jedes Wort und jede Geste eine Spur zu würdevoll.

      Der Alte wandte sich nun seinen Enkeln zu und war sichtlich entzückt über die kleinen, quicklebendigen Einhörner. Die beiden waren etwas verhalten und erhielten von Morgenröte einen aufmunternden Stups mit dem Maul, damit sie sich ihrem Großvater näherten.

      Auch die anderen Einhörner kamen nun näher, um die Kleinen in Augenschein zu nehmen und um Silberstreif und Morgenröte zu beglückwünschen. Besonders Schneekristall mit seinem leuchtend weißen Fell stand im Mittelpunkt. Aber auch Rosenblüte wurde ausreichend bestaunt.

      Simnil stand abseits und nahm nur Wortfetzen auf wie „... so ein weißes Fell...“, „...sprechen sie schon? ...“, „sieh nur, ihre Hörner sind schon da! ...“ „...so hübsche Zwillinge ...“ und fühlte sich ziemlich überflüssig.

      Bislang hatte noch niemand Notiz von ihm genommen. Nun aber trat Silberstreif mit seinem Vater aus der Herde heraus und kam auf Simnil zu.

      „Und wer ist dieser ungewöhnliche Gast?“, fragte das alte Einhorn und sah den Zwerg prüfend an.

      Simnil fühlte sich unbehaglich. Er wusste nicht, ob der Alte ihm wohl gesonnen war oder nicht.

      „Das ist Simnil, Vater“, sagte Silberstreif rasch, bevor der selbst antworten konnte. „Ein geschickter Waldläufer, mutig und listenreich. Und ein großartiger Freund! Ohne ihn wären Morgenröte und die Kinder vermutlich nicht mehr am Leben. Simnil, darf ich dir meinen Vater Nebelstreif vorstellen?“

      „Angenehm“, sagte der Zwerg kurz und knapp.

      „Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen“, antwortete Nebelstreif reserviert.

      Dann nahm er seinen Sohn zur Seite, um sich alles, was auf der Reise vorgefallen war, ganz genau berichten zu lassen und ließ den Baumzwerg einfach stehen.

      Zum Glück kamen gleich darauf die Fohlen zu ihm gelaufen, um sich von ihm streicheln zu lassen, was von den übrigen Einhörnern mit Erstaunen verfolgt wurde. Sie sahen fragend zu Morgenröte hinüber, die die drei mit einem warmen Blick bedachte und keine Anstalten machte, ihre Fohlen zu sich zu rufen.

      Nachdem Silberstreif mit seinem Vater einige Zeit abseits gestanden hatte, trabte Nebelstreif plötzlich eilig in die Gruppe zurück.

      „Er beruft den 'Rat der Einhörner' ein“, erklärte Silberstreif dem Baumzwerg, der ihn fragend ansah. „Mein Bericht hat ihn doch sehr aufgewühlt. Ich denke, in wenigen Augenblicken wird er zur Herde sprechen.“

      „Ist dein Vater ein König, oder so etwas?“ „Nein“, lachte der Hengst, „wo denkst du hin? Er ist der Ratsälteste und verantwortlich für die Sicherheit der Herde. Sieh nur, da kommen sie schon!“

      Simnil sah, wie neun Einhörner in Reih und Glied hinter dem 'Stein der Rede' Aufstellung nahmen, auf dem er selbst gerade noch gesessen hatte. Nebelstreif sprang hinauf und wieherte einmal laut und durchdringend. Sofort verstummten alle Gespräche. Die, die das Rund schon verlassen hatten, kamen neugierig zurück, um zu hören, was es Neues gab.

      „Einhörner von Enophasia“, begann Nebelstreif. „Es gibt eine beunruhigende Nachricht, die mir mein Sohn soeben mitgeteilt hat!“ Dann erzählte er ihnen von den Erlebnissen, die die fünf Neuankömmlinge auf ihrer Reise zum 'Palast des Lichts' erlebt hatten. Die Herde hörte atemlos zu und sah sich beunruhigt an, denn viele hatten bislang noch nichts von der Finsternis gehört.

      Als das alte Einhorn von Simnils Kampf gegen die beiden Raubkatzen berichtete, richteten sich auf einmal alle Augen auf den Baumzwerg. Es war ihm sichtlich unangenehm, inmitten dieser fremden Wesen im Mittelpunkt zu stehen. Aber die Blicke, die ihm die Tiere zuwarfen, waren freundlich und warmherzig, wussten sie doch nun, was dieser kleine, tapfere Kerl für Morgenröte und die Kleinen getan hatte.

      Simnil war aufgefallen, dass eines der Einhörner aus dem Rat der neun nur dastand und einen abwesenden Eindruck machte. Er machte Silberstreif darauf aufmerksam.

      „Das ist Blauhorn“, flüsterte dieser. „Er hat vor vielen Jahren seine Gefährtin Eisblume verloren. Sie verschwand spurlos. Seither trauert er. Ich habe ihn seitdem nicht mehr fröhlich gesehen.“

      Als die Rede auf das geheimnisvolle Rauschen und auf Rosenblütes Vision kam, schauten sich die Einhörner ratlos an. Niemand schien sich darauf einen Reim machen zu können.

      Silberstreif sah den Baumzwerg an und sah den gleichen, nachdenklichen Gesichtsausdruck in seinen Augen wie damals im Wald.

      „Simnil, wenn du glaubst, etwas zu wissen, dann musst du es jetzt sagen!“, sagte er eindringlich und so laut, dass alle es hören konnte. Nebelstreif verstummte und sah, wie die anderen Einhörner auch, aufmerksam zu ihnen hinüber.

      „Na ja“, begann der Baumzwerg zögernd, „genaues weiß ich auch nicht, aber ein Wesen, das solch ein Geräusch beim Fliegen machen kann, muss schon sehr groß sein, … so groß wie ein … Drache!“

      Einen Moment lang herrschte Totenstille. Doch dann wieherte ausgerechnet Blauhorn, der die ganze Zeit geistesabwesend auf den Boden gestarrt hatte, laut auf: „Ein Drache! Ha, Ha, Ha! In ganz Enophasia gibt und gab es noch nie Drachen! Ihr wurdet von einem kleinen Lufthauch zum Narren gehalten. Doch halt, was rede ich. Wisst ihr noch, wie der alte Rabak mal einen gezaubert hat.