Olaf Sandkämper

Enophasia


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wandte Morgenröte ein. „Die Baumkronen sind hier viel zu dicht. Niemand von uns konnte etwas sehen.“

      „Ich habe es auch nicht mit meinen Augen gesehen“, erwiderte die Kleine. „Ich sah es in meinem Kopf, Mama!“

      Morgenröte rieb tröstend und ein wenig hilflos ihre Nüstern an Rosenblütes Hals. Silberstreif sah zu Simnil herüber, der sich nachdenklich über seinen Bart strich. Wenn der Zwerg wusste, was da über ihre Köpfe hinweggefegt war, behielt er es jedenfalls für sich.

      Im Palast des Lichts

      Nach diesem neuerlichen Vorfall brachen die Gefährten sofort auf. Zum ersten Mal auf ihrer Reise setzten die Einhörner ihre Schnelligkeit ein und waren bald weit in das scheinbar unendliche Grün des Landes vorgedrungen.

      Simnil saß mit sehr gemischten Gefühlen auf Silberstreifs Rücken. Er hatte noch seinen ersten Ritt in guter Erinnerung und hielt sich krampfhaft an der Mähne fest. Aber da die beiden Fohlen die Geschwindigkeit vorgaben, waren die Fünf nicht allzu schnell unterwegs. Trotzdem hatten sie am Ende des Tages einen langen Weg zurückgelegt. Langsam fühlten sich die Reisenden sicherer. Die vertrauten Stimmen des Waldes waren nun wieder wie gewohnt zu hören und die Luft war erfüllt mit dem würzigen Duft der Bäume.

      Als es dämmerte, suchten sie sich ein geschütztes Plätzchen. Sie fanden es unter einem großen Baum mit weit ausladenden und niedrigen Ästen, der am Rande einer kleinen Waldlichtung stand. Silberstreif lauschte eine Weile in den Wald hinein, während die Fohlen bei ihrer Mutter tranken und Simnil sich sein Abendessen im Dickicht suchte. Nach einiger Zeit wandte sich der Hengst seiner Familie zu und sagte zufrieden: „Wir haben heute ein großes Stück unseres Weges hinter uns gebracht und werden den 'Palast des Lichts' schon morgen erreichen. Heute Nacht können wir beruhigt schlafen. Hier sind wir sicher.“

      In diesem Augenblick kam Simnil freudestrahlend aus dem Unterholz, bepackt mit Blaubeeren, Pilzen, und Walderdbeeren.

      „Schaut euch das an!“, rief er, „die Wälder sind voll davon. Das gibt einen Festschmaus.“

      Er schickte sich an ein Feuer zu machen, während er fortfuhr: „Hätte ich das gewusst, wäre ich schon früher in diesen Teil der Wälder gezogen.“

      Simnil merkte zu spät, dass er sich verplappert hatte und hoffte, dass es keinem weiter aufgefallen war.

      Aber schon hörte er Schneekristall enttäuscht fragen: „Du warst noch nie hier? Ich dachte du warst schon mal im 'Palast des Lichts'!“

      „Ja, weißt du, Schneekristall“, stotterte der Baumzwerg, „Ich war noch nie in DIESEM Teil des Waldes. Hier scheint es besonders viel von den leckeren Sachen zu geben.“

      „Ach so“, sagte Schneekristall und kuschelte sich mit dieser Antwort zufrieden neben seine Schwester. Simnil spürte Silberstreifs Blick auf sich ruhen und fühlte sich ganz schlecht.

      Spät in der Nacht, als die Einhornfamilie tief und fest schlief, saß er immer noch am Feuer, rauchte nachdenklich seine Stummelpfeife und starrte in die Flammen. Plötzlich spürte er einen Schatten neben sich und erschrak gewaltig. Aber es war nur Silberstreif, der aufgewacht war und neben ihn an das Feuer trat.

      „Na Simnil, kannst du nicht schlafen?“

      „Nein!“, antwortete dieser düster. „Ein schlechtes Gewissen ist kein sanftes Ruhekissen.“

      „Wenn es darum geht, dass du Schneekristall nicht die Wahrheit gesagt hast, dann hole es doch morgen einfach nach. Er wird dir schon nicht böse sein.“

      „Das ist es nicht – nicht allein“, gab der Zwerg zurück. „Es ist auch so, dass … Rosenblüte war doch so stolz auf mich, weil ich ihnen im Kampf gegen die Raubkatzen beistand. Sie sagte, sie hätte im ersten Moment gedacht, ich würde sie alle im Stich lassen und hat sich für diesen Gedanken auch noch geschämt!“ Simnil blickte Silberstreif an. Tränen rannen über sein Gesicht.

      „Aber die Wahrheit ist, genau das hatte ich vor! Ich wollte sie feige im Stich lassen. Wenn sie mir nicht so verzweifelt hinterher gerufen hätte …, wer weiß, ob ich zurückgekommen wäre. Als ich diese furchtbaren Bestien sah, bekam ich panische Angst und wollte nur noch weg. Ich bin kein Held. Ich bin nur …“

      Silberstreif unterbrach ihn: „DU hast meine Familie gerettet. Vielleicht wolltest du weglaufen, aber du bist geblieben. Mutig zu sein bedeutet, dass man etwas tut, obwohl man Angst davor hat. Und jetzt hast du schon wieder Mut bewiesen, weil du mir das alles gesagt hast. Rosenblüte ist zu Recht sehr stolz auf dich.“

      Silberstreif kam so dicht an Simnil heran, dass sich ihre Köpfe beinahe berührten. „Und ich bin es auch!“

      Simnil sah beschämt zu Boden. Damit, dass das Einhorn ihm trotz allem Mut bescheinigte und auch noch stolz auf ihn war, hatte er nicht gerechnet.

      Silberstreif war lautlos zu seiner Familie zurückgekehrt und legte sich zu ihr. Simnil zog die Jacke enger um seinen Körper, legte sich ans Feuer und grübelte noch lange über das Gesagte, bevor er schließlich einschlief.

      „He, wach auf du Faulpelz!“ Schneekristall stupste Simnil mit seinem weichen Maul an. „Papa sagt, heute erreichen wir den ‚Palast des Lichts’. Toll, nicht war?“ „Ja, ganz toll“, brummte Simnil verschlafen und gähnte herzhaft.

      Die Sonne ging eben am Horizont auf und tauchte die kleine Waldlichtung in ein goldenes Licht. Der Zwerg staunte, als er Schneekristall ansah. Das kleine Fohlen umgab eine Aura aus Licht, so hell, dass es fast in den Augen weh tat.

      „Was ist mit deinem Fell, Schneekristall?“

      „Ach nichts, das ist immer so bei mir wenn die Sonne scheint“, war die unbekümmerte Antwort.

      „Hör mal Schneekristall, wegen des Palastes …“

      „He ihr zwei, seid ihr so weit? Wir wollen weiter!“, rief Morgenröte die beiden. Sofort war der kleine Hengst mit zwei, drei Sprüngen an ihrer Seite und Simnil sah sich um seine letzte Chance gebracht, seine Geschichte mit dem ‚Palast des Lichts’ richtig zu stellen.

      Das letzte Stück der Reise verlief ruhig, ja fast langweilig, hätte sich der Wald jetzt am späten Vormittag nicht in seiner ganzen Pracht gezeigt. Das Sonnenlicht durchflutete die Baumkronen und brachte das Grün zum leuchten. Die Luft war erfüllt vom Zwitschern der Vögel und vom Summen der Bienen, die emsig zwischen den Zweigen herum flogen. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte, und tranken süßen Nektar. Die beiden Fohlen liefen mal hierhin und mal dorthin, um die kleinen Wunder zu bestaunen, die der Wald für sie bereithielt.

      Nachdem sie so eine Weile marschiert waren, stellte Simnil fest, dass die Bäume dichter wurden, was das Weiterkommen erschwerte. Gerade als er sich über die Wahl des eingeschlagenen Weges beschweren wollte, betraten sie ganz unvermittelt eine kreisrunde Lichtung. Das Blätterdach der hohen Bäume war hier so dicht, dass es eine natürliche Kuppel bildete, mit einer großen Öffnung in der Mitte, durch die die Strahlen der Sonne herein fielen und den ganzen Platz mit Sonnenlicht überfluteten.

      Simnil, ganz von dieser märchenhaften Kulisse gefangen genommen setzte sich auf einen großen flachen Stein, am Rande der Lichtung und sah sich staunend um. Schneekristall stand an seiner Seite und war ebenfalls sehr beeindruckt.

      „Schöner kann es im ‚Palast des Lichts’ auch nicht sein“, hörte Simnil ihn sagen.

      Der Baumzwerg sah ihn mit ernsten Augen an und sprach: „Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Schneekristall. Ich weiß nicht, wo dieser Palast ist. Ich bin auch noch nie dort gewesen.“

      „Aber warum hast du das dann behauptet?“, fragte der kleine Hengst und sah seinen Freund verständnislos an. „Ich weiß es nicht“, antwortete dieser zerknirscht. „Wahrscheinlich deshalb, weil ihr mich alle für so großartig gehalten habt. Da wollte ich wohl größer und besser erscheinen, als ich in Wahrheit bin. – Und du Rosenblüte“, wandte sich Simnil an die kleine