Eva Tanner

Taube in der Tanne


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      Eva Tanner

      Taube in der Tanne

      Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Ein autobiografischer Roman.

      Dieses ebook wurde erstellt bei

      

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       PROLOG: DU BIST NICHT DABEI GEWESEN

       BILDER UND GESCHICHTEN

       DER BREITE UND DER SCHMALE WEG

       SCHLOSS PICHELSDORF

       EINE ROLLE GROSCHEN

       DAS LEDERLAGER

       TAUBE IN DER TANNE

       ES GEHEN ÜBER DIE ERDE DER STRASSEN UND WEGE SO VIEL

       NUR DIE DUMMEN MÜSSEN LESEN

       Impressum neobooks

      PROLOG: DU BIST NICHT DABEI GEWESEN

      Ein bewölkter Sommertag im August neunzehnhundertachtundachtzig. Brieselang, ein kleiner Ort im Bezirk Potsdam in der DDR, nordwestlich von Berlin, nur etwa fünfzehn Kilometer von West-Berlin entfernt. Ein Tagesvisum ist unser Eintritt in dieses ferne Land, in dem sich auch unsere Vergangenheit versteckt.

      Die kleine Gruppe klettert aus einem alten Saab und schleppt Picknickkörbe und Decken durch eine Schneise, die von der Nauener Chaussee aus durchs Unterholz führt.

      "Ja,“ sagt meine Mutter, "hier war es". Sie marschiert vorneweg und schwingt ihren Plastikkorb mit den frischen Erdbeeren, den Servietten und dem Zucker. Sie ist klein, ein Meter sechzig, vierundsiebzig Jahre alt und für einen Ausflug in hüfthohes Unkraut elegant in schwarz-weiß gekleidet: Enger Pepitarock, schwarzer Sommerpullover und eine lange, weiße Perlenkette. Mit von der Partie sind Gerd, ihr Lebensgefährte, und mein Mann Peter, die das nötige Geschirr und Decken tragen.

      "Wenn die Bäume damals schon so groß gewesen wären, hätten die Russen uns nie gefunden" sagt Mutter nun. "Aber damals sah man die Dachspitze von der Straße aus." Damals war das Jahr neunzehnhundertfünfundvierzig.

      Am Ende der Schneise öffnet sich der Wald zu endlosen Feldern und einer Ruine. Ein Haus, das abgebrannt ist, dessen Außenwände und Schornstein aber noch stehen.

      Für einen Moment stehen wir still und versuchen uns zu orientieren. Dann zeigt Mutter auf den Kellereingang, von außen zugänglich: "Da habe ich die letzte Kuh, die uns geblieben war, immer reingeführt, wenn ich sie von der Weide holte. Wir brauchten die Milch für dich und Hans-Peter. Aber die Russen haben sie doch gefunden. Sie sind ja jede Nacht gekommen. Und da oben, im ersten Stock, da haben Sparvins gewohnt, sie waren russische Zwangsarbeiter und haben uns bei der Ernte geholfen. Die Küche im Erdgeschoß haben wir uns geteilt. Und oben unter dem Dach haben wir alle geschlafen. Vom Kinderzimmerfenster hat Oma einmal ihren vollen Nachttopf über russische Soldaten ausgekippt.“

      Wir breiten unsere Decken unter alten Birnenbäumen aus, dahinter vier riesige Pappeln. Diese Bäume hat mein Vater gepflanzt! Ich beiße fast euphorisch in eine noch unreife Birne, egal, es sind doch eigentlich meine Birnen, auch fast ein halbes Jahrhundert später!

      Wo jetzt nur Unkraut wächst und eine verkohlte Ruine steht, waren früher ein Haus und eine große Scheune. In der Tür der Scheune hing meine Schaukel, und ich habe mit dem Gesicht in die Scheune hinein geschaukelt, weil drinnen der Bulle war. Ich behielt ihn immer ängstlich im Auge.

      Mutter erinnert sich und erzählt. Auch Geschichten, die schon lange ein Teil meiner eigenen Geschichte geworden sind.

      Sparvins hatten einen kleinen Sohn, den sie meiner Oma tagsüber in die Obhut gaben, während die anderen Erwachsenen auf dem Feld oder in Berlin arbeiteten.

      Da, im Erdgeschoß, in der Küche saßen wir an einem großen Tisch zum Essen und Spielen. Waren die Wände nicht hellgrün? Wenn der Junge mal musste, verzog er sein Gesicht und schaukelte auf seinem Kindersitz hin und her. Oma wusste, was es bedeutete. Dann noch ein Weilchen warten, damit sie sicher sein konnte, dass das Kind in die Windeln gemacht hatte. Nun konnte sie loslegen. Schreien und Schimpfen und dann auf den blanken Po mit dem Kochlöffel hauen, bis das Schreien das ganze Haus durchdrang. Aber nur mein Bruder Hans-Peter und ich, Marie-Luise, damals noch Püppi, hörten es. Der Hof lag am Ende dieser Schneise mitten durch den Wald. Dahinter die Felder, die sich bis zum Niederneuendorfer Kanal zogen. Ein einsamer, kleiner Hof, der in seinen Mauern die Angst vor der Brandbombe, die durch das Dach ins Kinderzimmer gefallen war, beherbergte, das Flehen der Eltern, als die russischen Soldaten uns erschießen wollten. Herr Sparvin hatte sich vor die Gewehrläufe gestellt und um das Leben dieser Deutschen gebettelt: „Sie haben nie die Hand zum Hitlergruß gehoben!“

      Und um den Hof, in den Wäldern, ein Teppich zarter, weiße Buschwindröschen, wie in jedem Frühjahr, auch im April neunzehnhundertfünfundvierzig.

      Auf unseren Decken unter den Birnenbäumen wird es kühl. Die Erdbeeren sind aufgegessen, der Kaffee getrunken. Es wird Zeit wieder in Richtung Grenze zu fahren, vielleicht noch einen Abstecher in den Ort Brieselang zu machen.

      Ich biege mit dem Saab vor einem Bahnübergang nach rechts Richtung Brieselang ab. Die Straße ist wie überall von Bäumen gesäumt, und ein trockener Graben verläuft parallel dazu. "Hier hab ich mich in den Graben geworfen!" schreit Mutter plötzlich.

      Ich fahre langsamer. Und sie erzählt, wie sie Hans-Peter an der Hand hatte, mich im Kinderwagen vor sich her schob und am Ende der Straße eine Fahrzeugkolonne der Roten Armee kommen sah. Sie warf sich mit ihren Kindern und dem Kinderwagen in den Graben und hielt mir den Mund zu, bis die Fahrzeuge vorbeigefahren waren.

      "Das muss für uns entsetzlich gewesen sein,“ sage ich, "ein richtiges Trauma.“

      "Sei nicht albern! Du hast davon nichts gemerkt!"

      "Wieso habe ich nichts gemerkt? Ich bin doch dabei gewesen!"

      "Du warst ein Jahr alt, du erinnerst dich doch gar nicht. Du bist gar nicht dabei gewesen!"

      Stille im Auto. Dann versuchen unsere Männer belanglose Konversation, die bald verstummt. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter im Rückspiegel, die Bitterkeit hat tiefe Linien um ihren Mund hinterlassen. Sie fühlt sich in ihrem Leid nicht genügend gewürdigt und sie ist mir so nahe, dass ich ihre Gedanken in mir selbst wiederfinde.

       Sie war damals neunundzwanzig Jahre alt gewesen, als Vater diesen Hof neunzehnhundertzweiundvierzig gekauft hatte, nachdem die ersten Bomben auf Lübeck und Köln gefallen waren. Sie hatte so nicht leben wollen - auf dem Land - mitten im Wald, nur den Bauern Reschke in einigen Kilometern Entfernung. Aber Vater meinte, sie wären hier vor den zu erwartenden Bomben auf Berlin sicher.

       Im ersten Jahr gab es noch keinen Strom im Haus, weil der Hof zu abseits lag. Hans-Peter, ihr kleiner Sohn, war erst zwei Jahre alt. Nur Oma war da, um mit anzupacken.