Eva Tanner

Taube in der Tanne


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ist gut. Onkel Rudolf ist Cousine Angelikas Papa und Onkel Karl Cousine Ilschens Vater. Sie schläft wieder ein, hört nicht, wie nach einiger Zeit das leise Paddeln stoppt und der Motor angeworfen wird.

      Vom Havelkanal nach Westen, auf die westliche Seite des Niederneuendorfer Sees. Sie sind im Westen und können bis nach Spandau, an die Scharfe Lanke in West-Berlin fahren. Sie sind in ihrem neuen Zuhause angekommen.

      ****

      SCHLOSS PICHELSDORF

      "Hier bleiben wir aber für immer wohnen!“ hatte Mama dem Papa erklärt. "Bei den Hypothekenzahlungen wird uns Gott sei Dank auch gar nichts anderes übrig bleiben!"

      Und Oma hatte zu Püppi gesagt: "Da kommt fließend Warmwasser aus dem Hahn in der Wand - wir sind jetzt im Westen". Das geht Püppi überprüfen. Jeden Tag warmes Wasser, das wäre was! Sie dreht im Bad beide Hähne auf: Aus dem einen kommt kaltes Wasser, aus dem anderen abgestandenes, ebenfalls kaltes. ’Das ist also warmes Wasser aus dem Hahn’ grübelt sie. Dann springt unten, in der Küche, mit einem Wumm der Gasboiler an und Papa ruft nach oben, dass sie Gas sparen müssten und heute nicht Sonnabend sei. Da könne sie dann in warmem Wasser baden. Es hatte sich also doch nichts geändert. Gebadet wurde schon in Hennigsdorf nur am Sonnabend.

      Ihr Haus steht in einer kleinen Straße mit Kopfsteinpflaster. Diesmal hat es ein richtiges Ziegeldach. Der Garten ist winzig, aber dafür stehen riesengroße Tannen am Haus. Man steigt ein paar Stufen hoch und geht durch eine gewölbte Tür hinein. Gegen die Kälte schützt von innen ein dicker, grüner Filzvorhang. Vom Korridor links gehen das Esszimmer und das Wohnzimmer ab, beide durch einen Vorhang getrennt. Das Esszimmer hat grüne Seidentapete, und der Vorhang ist auf dieser Seite ebenfalls im gleichen grünen Muster. "Biedermeier" seufzt Mama selig und Püppi merkt sich diese Güteklasse. Das Wohnzimmer hat rotgemusterte Seidentapeten, und links vom Erkerfenster geht es raus auf eine kleine Terrasse. Am Ende des Korridors, gegenüber der Eingangstür, liegt die Küche mit einem Tisch in der Mitte und Einbauschränken an den Wänden und einer Speisekammer. Ihre alte Küche war viel größer. Dann gibt es noch eine Gästetoilette, den Treppenaufgang und die Kellertür.

      Am Fuße der Kellertreppe ist ein fensterloser Raum mit einer Lattentür, in dem Oma Äpfel und Kartoffeln lagert. Man riecht die Äpfel schon wenn man im Flur die Kellertür öffnet. Im Laufe des Winters müssen sie immer mal wieder gedreht werden, damit sie keine Liegestellen bekommen, und trotzdem schleicht sich nach einigen Monaten zu dem Apfelduft ein Hauch Modergeruch ein. Püppi erinnert sich dann an den Geruch der eingekochten Zuckerrüben im Keller in Hennigsdorf.

      Nur in der Waschküche riecht es nicht nach Äpfeln, sondern nach Waschlauge: In einem riesigen Kupferbottich wird die Wäsche gekocht, direkt über dem offenen Feuer. Von der Waschküche aus geht es hinaus in den Garten, damit die Wäsche im Freien trocknen kann.

      Neben der Waschküche ist der Kohlenkeller. Oma ist die erste, die im Winter aufsteht, und jeden Morgen kann man sie beim Heizen und Kohlenschaufeln erleben, ein Tuch um den Kopf, damit sie nicht für den Rest des Tages nach Kohlenstaub riecht. Und hinterher zieht sie sich weitestgehend aus und wirft ihre Wäsche in den Bottich. Sie mag es nicht, wenn sie jemand dabei sieht, aber natürlich haben die Kinder dieses Spektakel mitbekommen. So konnten Püppi und Hans-Peter ihre Wissenslücken über Körperlichkeiten erwachsener Frauen schließen. Dabei standen sie Apfelduft umweht im Vorratsraum und spähten durch die Lattentür zur Waschküche.

      Niemand muss mehr im Keller schlafen, denn es gibt im ersten Stock drei Schlafzimmer und das Bad. Im größten Zimmer schlafen Mama und Püppi, dann Hans-Peter und Oma nebenan, durch eine Tür miteinander verbunden. Papa schläft allein im kleinsten Zimmer. Es ist nur Platz für sein Bett - ein großes Eichenbett mit hohem Kopf- und Fußende, auf dem tagsüber eine Häkeldecke aus braun-orangefarbener Wolle liegt.

      Die Decke war Tante Lilos Geschenk, als Papa heiratete und es Püppi noch nicht gab. Quer vor das Fenster hat er einen kahlen Baumstamm geklemmt, auf den er seine Pflanzen wachsen lässt. Mit all den Rankpflanzen sieht es aus, als wenn der Stamm noch lebte. Auf der Fensterbank stehen seine Setzlinge und auf dem Fußboden Töpfe mit eingeweichten Eierschalen zum Düngen. Die Eierschalen stinken. In Püppis und Mamas Zimmer steht ein Bücherregal quer zwischen den Betten, so dass beide ihr eigenes Reich haben. Dann gibt es noch einen großen dreigeteilten Kleiderschrank mit Spiegeltüren. Das Glas der Spiegel ist geschliffen, und wenn die Sonne scheint, bricht sich das Licht in tausend Farben.

      Das schönste aber ist der Balkon vor ihrem Zimmer. Von dort aus schaut man zur Havel, und Püppi hört nachts durch die geöffneten Balkontüren das Tuten der Dampfer und Schleppkähne, wenn sie unter der Freybrücke durch an Pichelsdorf vorbeifahren. Sie kann dort früh im Sonnenschein mit ihrem Ball die "Zehnerprobe" spielen: Ball an die Hauswand, einmal in die Hände klatschen, bevor man ihn auffängt, zweimal in die Hände klatschen, dreimal klatschen und unter dem Bein durch an die Wand, in die Hände klatschen – zehn Aufgaben, die sie meist nicht alle schafft.

      An den Tannen im Garten dürfen Hans-Peter und Püppi nicht mit dem Taschenmesser rumschnitzen, weil die sonst bluten, wie Papa ihnen erklärt. Die größte ist eine Douglasie mit weichen Nadeln und zwei sind Blautannen. Mama und Papa sind jetzt jede Nacht zu Hause, weil der Weg zu ihrem Geschäft am Kaiserdamm in Charlottenburg nicht mehr so weit ist.

      Püppi ist schon einmal da gewesen und hat sich die Werkstatt und das Lederlager angeschaut. Onkel Rudolf arbeitet auch dort. "Dein Papa macht hier Einlagen für Leute, die schlecht laufen können". Das verstand sie, denn ihr Papa konnte ja auch schlecht laufen.

      ****

      Sie sitzen zu ihrer ersten gemeinsamen Mahlzeit im Esszimmer, an einem großen Tisch mit schweren Eichenstühlen, mit denen man nicht so gut kippeln kann. Papa und Mama jeweils am Kopfende und Oma und die beiden Kinder an den Längsseiten. Es hatte Krautklöße gegeben, Unmengen davon. Püppi hatte die Weißkohlrippen diskret beiseite geschoben. Kohl hatte sie schon in Hennigsdorf nicht gemocht. Alles Gemüse aus dem Garten war ihr zuwider gewesen. Nun gab es keinen Gemüsegarten mehr, und das Gemüse wurde in Geschäften gekauft. Aber es gab kein Entrinnen vom Kohl in allen Varianten, auch im Westen nicht.

      Als Nachspeise gibt es nun Bananen. Länglich gebogene, gelbe Dinger, und Püppi hat einfach in die Schale gebissen.

      Papa belehrt die Kinder über Südfrüchte: "Erst schälen, dann reinbeißen. Die Innenseite der Schale isst man auch. Auch bei Apfelsinen! Sie sind teuer genug, wir wollen nichts verschwenden."

      Mama verzieht bei dem Gehörten das Gesicht, stapelt lautstark die benutzen Teller und trägt sie in die Küche. Püppi starrt die geschälte Banane an: "Und diese braune Stelle hier? Die ist ganz matschig!"

      "Von matschigen Bananen bekommt man Lepra" weiß der große Bruder.

      Dann folgt eine angeregte Unterhaltung über abfallende Finger und Zehen, alles wohl durch matschige Bananen verursacht. Mama kommt wieder zurück, beladen mit einem großen Tablett, auf dem eine Kaffeekanne, das Kaffeegeschirr und Milch und Zucker stehen. "Gibt es kein schöneres Thema?"

      "Papa, erzähl uns eine Geschichte!" ruft Püppi, die genug von der Insel der Leprakranken hat.

      "Ja, also dieses Haus war das Sommerhaus von Frau Hessler", beginnt Papa und nimmt einen großen Schluck Kaffee. „Ein Sommerhaus!“ ruft Püppi begeistert. „Und wo war das Winterhaus?“

      „Eigentlich wohnte sie im Schloss am Ende der Halbinsel. Ob es früher ein wirkliches Schloss war, weiß ich nicht, jedenfalls haben die Nachbarn es uns so erzählt. Frau Hessler war die Geliebte des dänischen Kronprinzen, und sie hatte drei Söhne mit ihm. Aber sie durfte ihn nicht heiraten, weil sie eine Bürgerliche war. So hat sie einen Antiquitätenhändler geheiratet, aber sie stand trotzdem immer unter dem Schutz der dänischen Krone.“ Püppi seufzt tief und sagt „Weiter, Papa!“

      „Als die Russen kamen, durfte sie das Schloss mit ihrem Wagen verlassen, weil die dänische Standarte an ihrem Auto wehte. Jetzt ist das Schloss nur noch