Eva Tanner

Taube in der Tanne


Скачать книгу

Er war selbst behindert, hatte von einer Kinderlähmung ein gelähmtes Bein zurückbehalten und das hieß, dass immer sie die Koffer schleppen musste und das Baby und das Holz, das sie im Wald sammelten, und die Kartoffeln, die sie von den Feldern holten. Als dann Sparvins kamen und die Stromleitungen ihren kleinen Hof erreichten, wurde es besser. Dann wurde ihre Tochter geboren und wieder war es eine schwere Geburt. Als die Fliegeralarme begannen fiel eine Brandbombe durchs Dach, direkt in eines der Kinderbetten, während sie im Keller saßen.

       Niedlich war Püppi gewesen, mit großen Kulleraugen und blonden Haaren! "Ach, was haben Sie für eine Käthe Kruse Puppe im Wagen!“ hatte einmal eine fremde Frau gejubelt, als sie den langen Weg vom Hof nach Alt-Brieselang geschafft hatte, um Milch zu kaufen, nachdem die Russen die letzte Kuh vom Hof geholt hatten. Der Jubel der Frau hatte ihr gut getan, denn sie hatte nicht ohne Mühe ihrer kleinen Püppi aus Stoffresten ein Jäckchen genäht und ihr ein buntes Kopftuch umgebunden. Vor allen Dingen war Hans-Peter nun nicht mehr allein, seine Schwester konnte ihm eine Spielkameradin sein.

       Im Wald lagen noch Waffen und Munition, und er musste immer über den "Schwarzen Weg" entlang nach Brieselang zur Schule. Einmal hatte sein Vater ihn blutig geschlagen, weil er Waffen ausgegraben hatte. Neunzehnhundertsechsundvierzig war es bitterkalt gewesen und sie hatte für ihn noch nicht einmal einen warmen Mantel gehabt. Und zur Einschulung keine Schultüte! Sie war erst wieder beruhigt als sie neunzehnhundertachtundvierzig nach Hennigsdorf zogen, wo sie an die S-Bahn angeschlossen waren und wo es eine Schule und Geschäfte gab.

      Mutter hatte lange uns abgewandt aus dem Fenster geschaut, jetzt sah ich im Rückspiegel sie wieder nach vorn schauen und mich anlächeln. Es wird dunkel und wir nähern uns dem Grenzkontrollpunkt Staaken. Was aber ist meine eigene Geschichte? Meine inneren Bilder von Brieselang sind geprägt von denen meiner Mutter, von ihrer Angst und ihrer Not. Ich muss weiter nach eigenen Bildern suchen, die erst in Hennigsdorf, im Jahr neunzehnhundertachtundvierzig, klare Formen annehmen.

      Mir fallen Max Liebermanns Worte ein „Was vom Leben übrig bleibt, sind Bilder und Geschichten“.

      ****

      BILDER UND GESCHICHTEN

      Vier Kinder, der Größe nach wie die Orgelpfeifen aufgereiht. Bewölkter Himmel, kahle Bäume, der Hühnerstall hat schon lange keine Farbe mehr gesehen.

      Es ist Ostern, kurz nach dem Krieg, und die Eierkörbchen sind von herausragender Wichtigkeit. Die Kinder hatten ihre Körbchen bei der Suche gefüllt, und die Kleinste konnte es nicht fassen, dass in ihrem nur Platz für ein einziges Ei war. Das frühe Leid dieser Ungerechtigkeit hatte Tränen ausgelöst, bis der Vater rief „Püppi, nun lächel doch!“ So stehen auf dem nun schon vergilbten Foto nur artige und lächelnde Kinder.

      Neben ihr Cousine Angelika, eine Hahnenkammrolle im blonden Haar und zu dem nun schon größeren Eierkörbchen ein liebevolles Lächeln für ihre kleine Cousine.

      Dann Cousine Ilschen, das Körbchen wohlgefüllt, aber ihr Blick gilt nicht den Eiern, sondern ihrem Cousin Hans-Peter, der neben ihr steht, seinen Arm um ihre Schulter. Sie strahlen sich an und lassen Körbchen Körbchen sein.

      Püppi, Hans-Peter und Ilschen in langen Hosen, die aus Wolldecken genäht sind und immer leicht nach Mottenkugeln riechen; sie werden durch Hosenträger gehalten. Püppi trägt dazu ein schickes Kosakenoberteil auch aus einer Wolldecke. Angelika im karierten Kleid und blank geputzten roten Schuhen, mit einem Riemchen über dem Fußspann.

      Nach der Aufnahme bricht die Zwietracht aus! Püppi ist eifersüchtig auf Ilschen, die so einen großen Korb hat und nun auch noch von ihrem, Püppis, großen Bruder Hans-Peter so liebevoll in den Arm genommen wurde!

      "Ilse - keiner will´se!" brüllt sie und stürzt in ihrer dicken Wolldeckenhose davon. Raus auf die Straße, hin zu Walthers Haus, einer Wochenendlaube. Den muss sie jetzt ärgern! "Walther, wenn er pupt, dann knallt er!" brüllt sie. "Geht er in den Keller pupt er immer schneller. Geht er auf den Boden schießt er helle Kanonen!"

      ****

      DER BREITE UND DER SCHMALE WEG

      Neunzehnhundertneunundvierzig. Hennigsdorf, ein kleiner Ort im Nordwesten von Berlin. Die AEG und ein Stahlwerk sind der Arbeitgeber für viele Einwohner. Aber die meisten fahren nach Berlin zum Geldverdienen. Einfamilienhäuser und zweigeschossige Mehrfamilienhäuser prägen das Straßenbild. Am Ende der Karl-Liebknecht-Straße stehen Hochspannungsmasten, die den Ort mit Strom versorgen. Die Sirenen der beiden Fabriken teilen den Tag in Arbeits- und Freizeit.

      Durch die geschlossenen Klappläden dringt das Quietschen eines Handleiterwagens, entfernt sich langsam vom Haus. Das Kind hält die Augen geschlossen, wühlt sich tiefer ins Kissen. Weiß, wie Mutter jetzt den Wagen hinter sich herzieht, auf dem Weg zum Bahnhof. Durch die Siedlung, über den schwarzen Schotterweg, und dann trägt sie die S-Bahn nach Berlin. Für eine ganze Woche.

      Es steht auf, zieht die Schublade mit Mutters Wäsche raus, drückt ihr Gesicht in die weichen Pullover - rot und gelb. Sie duften nach ihrer Mutter. Ihre schöne Mama - mit rabenschwarzen Locken, klein und zierlich und in weiten, schwingenden Röcken! "Püppi!" ruft Oma, "komm frühstücken!" Das Frühstück schmeckt nicht. Es gibt Mehlsuppe mit Zucker. Der Zucker reicht nur für Püppi und den großen Bruder Hänschen. Oma isst die Suppe ohne Zucker.

      "Iß ordentlich, damit du nächstes Jahr zur Schule gehen kannst!" Das Essen schmeckt überhaupt nie. Immer sind Mehlklumpen im Spinat, der Rosenkohl in Mehlschwitze und dann die ewige Mehlsuppe. "Wenn wir das Mehl nicht hätten, wären wir im Krieg verhungert" erklärt Oma und schiebt den Teller vor Püppis Nase.

      Püppis großer Traum ist die Schule. Ein ganzes Jahr noch, und die Zeit vergeht so langsam. Mamas Schultertasche hat lange Riemen. Püppi wickelt sie sich um die Schultern - wie ein richtiger Tornister sieht es aus. ‚Alle werden glauben, dass ich zur Schule gehe’ denkt sie und marschiert singend die Straße runter zu Marlies. "Schia, schia, schia scho! Schrippen jibt’t im HO!"

      "Meine Oma pellt Knochen" hat Marlies Püppi neulich erklärt und diese so Ekliges über Marlies Eßgewohnheiten vermuten lassen. Pelle von Knochen konnte auch nicht besser sein als Mehlsuppe.

      Marlies schwingt auf dem Gartentor hin und her. "Wollen wir spielen?" ruft sie. Püppi folgt ihr in den Garten. "Wir spielen Friseur" schlägt Marlies vor. "Ich schneide dir die Haare ab und du jibst mir’n Groschen dafür." Püppi betrachtet ihre langen, blonden Haare sorgfältig. "Nee, lieber nicht." "Du hast doch nur dünne Ziepen. Mutti sagt, man muss oft schneiden, und dann werden sie dicker." Püppi ist immer noch nicht überzeugt. Hinter ihnen, im Treppenhaus, schlägt eine Tür zu und Getrappel nähert sich schnell.

      "Das ist bestimmt die Hanna" sagt Marlies. " Ihre Mutter ist eine Schlampe".

      "Was ist eine Schlampe?" fragt Püppi.

      "Na, wenn man mit Russen schläft is’ man ne Schlampe!"

      "Meine Mama schläft mit mir, aber nicht mit Russen" erläutert Püppi die häusliche Lage.

      Hanna kommt zu ihnen rüber. Sie hat ein verheultes Gesicht und wischt sich mit der Hand unter der Nase lang.

      "Na, hat’se dich wieder verdroschen?" fragt Marlies hämisch. Hanna kann nur schlucken und schniefen. Marlies greift nach ihren Zöpfen. "Wir spielen Friseur und du jibst mir ’n Groschen, wenn ich dir die Haare schneide".

      Und schwupps zieht sie eine Schere aus ihrer Kittelschürze und säbelt an Hannas Zöpfen rum. Aus dem Schniefen wird Gebrüll. Hanna und Marlies liegen kreischend auf dem Boden. Hanna mit nur noch anderthalb Zöpfen, der eine ausgefranst wie ein kaputtes Elektrokabel. "Meinen Groschen her!" brüllt Marlies der wieder ins Haus flüchtenden Hanna hinterher.

      "Jetzt wird die wieder verdroschen. Aber det ist die ja jewohnt!" Sie klopft sich den Sand vom Kleid und lauscht angestrengt zum Treppenhaus hin.