Eva Tanner

Taube in der Tanne


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ist eine Schlampe" beendet Marlies das Friseurspiel.

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      In Püppis Garten in Hennigsdorf gibt es eine große, alte Scheune, voll gestopft mit spannendem Gerümpel und alten Möbeln. Auch Papas Selbstfahrer steht dort, wenn er ihn nicht braucht. Er ist aus Holz, wie ein Bett auf Rädern. Papa kann darin seine Beine ganz ausstrecken und ihn nur mit den Armen lenken und fahren. Mama hatte ihr erzählt, dass Papa als kleiner Junge an Kinderlähmung erkrankte, aber darunter konnte sich Püppi nichts vorstellen. Sie steigt in den Selbstfahrer und wickelt sich gemütlich in eine Decke. Papa kann nur schlecht laufen. Wenn er sich setzt, dann knackt immer etwas in seinem linken Bein, und beim Laufen stützt er sich auf einen Gehstock. Neulich Abend hatte sie heimlich beobachtet, wie er seinen Gehapparat auszog, und da sah sie, dass das linke Bein dünn und kurz war. Es hing schlaff unter seinem Nachthemd raus.

      Auch Papa ist die ganze Woche zum arbeiten in Berlin, und wenn er am Wochenende nachhause kommt, küsst er seine Tochter und sagt "Na, wie geht’s meiner kleinen Püppi?" und sein Schnurrbart kitzelt sie auf der Wange. Für Papa ist sie Püppi, für die anderen meistens Luischen. Hans-Peter ist Mamas Prinz, ansonsten immer Hänschen oder Hans-Peter. Die Großen haben alles geregelt.

      Mama hat so ihre Geheimnisse: Unter ihrem Nachthemd wölben sich oben zwei große Rundungen, und dazwischen ist so ein Spalt, der wie ein Gang aussieht. Wo der wohl hinführt, und ob die Rundungen die Pappeier sind, die sie zu Ostern bekommen hatten, mit Zuckereiern drin? Wenn sie sich an die Rundungen schmiegt, ist es aber schön weich. Leider lässt Mama sie nicht in die Öffnung des Nachthemdes gucken, um mehr zu erfahren. Auch wird Püppi nur sehr selten in den Arm genommen.

      In dieser Scheunentür hängt eine Schaukel, und so lange der Hahn nicht frei herumläuft, ist sie ihr Lieblingsplatz. Kommt der Hahn und hat es mal wieder auf ihren Kopf abgesehen, heißt es ins Haus flüchten. Aber heute ist er im Hühnergehege mit dem gesamten Federvieh eingesperrt. Sie beäugt ihn widerwillig durch den Maschendraht - die weichen Kücken kann sie nun auch nicht streicheln. Steigt auf ihre Schaukel und denkt an das kuschelige Federkleid. „Das Jesuskind lag auch auf Stroh, so wie ihr“ erzählt sie ihnen. Die Schaukel schwingt höher und höher. „Und weil es immer lieb und artig war, wohnte es im Himmel, beim lieben Gott. Aber der Hahn natürlich nicht.“

      Das Jesuskind ist in Püppis frühen Jahren häufig anzutreffen. Im Wohnzimmer hängt ein großes Bild über dem Sofa, da steht das Jesuskind - schon groß und stark und mit langen, braunen Locken - mitten im Kornfeld und hält einen gebogenen Stab in der Hand. Hinter ihm die untergehende Sonne, und da, wo die Wolken sind, ist der Himmel. Wenn Oma doch einmal Zucker in der Mehlsuppe hat, sagt sie "Himmlisch!"

      Ihr Haus ist nie fertig gebaut worden, es fehlt noch die obere Etage. Über dem Erdgeschoß ist ein Flachdach mit Dachpappe. Dort regnet es öfter mal durch, und dann bilden sich große Wasserflecken an der Decke. Aber im Treppenhaus führt schon eine Treppe nach oben und hört direkt unter der Decke mit einem Absatz auf. Ein schöner Platz zum Spielen. Und weil im Erdgeschoß nur die Küche, das Wohnzimmer, Mama und Papas Schlafzimmer und das Bad sind, muss auch im Keller gewohnt werden.

      Hier gibt es einen großen Raum, in dem Püppi, Oma, Hans-Peter und Dackel Strolchi schlafen. Strolchi hat eine Kiste mit Decken direkt am Ofen. Wenn niemand guckt, springt Strolchi in Püppis Bett. "Schmeiß das Vieh aus dem Bett!" schreit Oma dann. Tiere darf man also nur klammheimlich, hinter dem Rücken der Erwachsenen kuscheln und lieben. Im Bett, im Stroh, wo immer man ein warmes Plätzchen findet. Vor dem Schlafengehen wird gebetet: "Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm." Aber Püppi denkt dabei schon an ihre Flusen, die sie von der Wolldecke rupfen wird: die Flusen werden zu kleinen Bällchen oder Sträußen geformt. In der Dunkelheit wiegt das leise Rupfgeräusch sie in den Schlaf.

      Über Omas Bett hängt ein Gemälde, so groß wie das Bett selbst. Es zeigt den schmalen und beschwerlichen Weg in den Himmel und die breite und bequeme Straße in die Hölle. Auf der rechten Seite windet sich der schmale Weg über Stock und Stein und endet an einem Tor, hinter dem sonnenbestrahlte Wolken die Pforte zum Himmel zeigen. Auf der linken Seite sieht man am Ende der breiten Straße ein Feuer lodern und darüber Menschen in großen Kübeln, die gekocht und von kleinen Teufeln mit Gabeln gestochen werden. Das Jesuskind ist nirgends zu sehen. Aber die Sache ist klar: Rechts müssen die Menschen mühsam entlang wandern, immer steil bergauf, gebeugt von Lasten auf den Schultern, bis sie Erlösung an der Himmelspforte finden. Die Straße auf der linken Seite ist bequem und breit und die Menschen tanzen und trinken, bis sie in der Hölle landen.

      Im Keller gibt es auch noch eine Waschküche, in der in einem großen Zuber aus Zuckerrüben dunkler Sirup gekocht wird. Püppi hasst den Geruch, der dann durch den Keller zieht: moderige Erde und Schweinefutter. Sie hält den Atem an, wenn sie an der Waschküche vorbei ins Schlafzimmer läuft.

      ****

      "Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast" betet Papa inbrünstig hinter gefalteten Händen. Püppi blinzelt durch die Lider und sieht die gesenkten Köpfe von Mama, Papa, Oma und Hans-Peter. Es muss Sonntag sein, sonst wären Mama und Papa nicht da. Sie sitzen um den großen Tisch herum, die Petroleumlaterne wirft warmes Licht auf ihre Teller. Es ist wieder einmal Stromsperre.

      Am Fenster steht ein dickbauchiges Weinfass. Durch seine geschwungenen Glasröhrchen blubbert Kürbiswein. Während der Woche zapft Oma sich immer ein Gläschen ab, damit sie gut schlafen kann. Papa weiß davon nichts. Hans-Peter bekommt auch ein Gläschen: „Mit neun Jahren bist du ja schon ein großer Junge.“ Püppi ist noch zu klein für so etwas. Aber auf die Kürbisse im Garten kratzt sie die Anfangsbuchstaben ihres Namens: ML. Marie-Luise kann sie noch nicht schreiben. ML wächst dann mit den Kürbissen, bis sie groß und dick sind und geerntet werden.

      Während alle ihre Kohlsuppe löffeln und Papa vom Geschäft in Berlin erzählt, hofft Püppi, dass sie nun, am Wochenende, nicht im Keller schlafen muss, sondern bei Mama im Schlafzimmer. Manchmal holt Mama sie erst spät in der Nacht aus dem Keller und legt sie zwischen sich und Papa. Papa zieht dann immer ins Wohnzimmer, weil er so laut schnarcht. "Er sägt schon wieder dicke Bäume" sagt Mama, und so hat Püppi mit ihrer geliebten Mama das große Bett ganz allein.

      In ein paar Tagen hat Marlies Geburtstag, und Mama hat Püppi als Geschenk eine kleine Tafel Schokolade und ein mit Schokolade überzogenes Lebkuchenherz mitgebracht. Sie soll beides bis zum Geburtstag aufbewahren. So liegt das süße Geschenk eingewickelt in Püppis Puppenwagen, neben ihrer Zelluloidpuppe Greta.

      Sie riecht an der Puppe, zieht ihr eine Socke aus und nagt und lutscht an den Zehen. Der Puppenfuß ist schon tief verdellt. Wenn etwas gut riecht muss sie es unbedingt in den Mund nehmen. Neulich erst hat sie einen Löffel Sand geschluckt. "Du traust Dich nicht!" hatte Marlies gesagt. "Doch, ich trau mich!" entschied Püppi und gab dann nach einigem Überlegen dem weißen Sand den Vorzug gegenüber Schwarzem. Auch an den Blättern der Hainbuchenhecke am Zaun hat sie sich versucht: schmeckte wie Spinat ohne Mehlklumpen. "Ich bin schon satt" verkündete sie, als Oma zum Essen rief und ohne Zweifel wieder Spinat mit Klumpen gekocht hatte.

      Die Schokolade liegt also neben der Zelluloidpuppe. Das erste Stück schmeckt nicht, Schokolade ist nicht so vertraut wie das Puppenbein, aber beim zweiten Happen ist es schon viel besser: klebrig und süß! Die Tage sind lang, Mama weit weg, und täglich bricht Püppi ein Stückchen Schokolade von der kleinen Tafel. Der Geburtstag kommt, und Püppi trägt nur das Lebkuchenherz zu Marlies. Die dreht es in ihren Händen. "Ist das alles?" sagt sie. "Natürlich", sagt Püppi und übt sich im schlechten Gewissen.

      Nach der Feier trifft Püppi auf Hanna, die auf dem Gartentor hin und herschwingt. Marlies hatte sie nicht eingeladen. Püppi knufft Hanna ein bisschen. Die landet schräg auf dem Zaunpfosten und wird vom Gartentor eingeklemmt. Püppi schiebt das Tor noch ein wenig mehr Richtung Torpfosten und guckt dabei in Hannas Gesicht.

      "Hör auf, du tust mir weh!" klagt Hanna. Es tut ihr weh? Wo sie doch immer so viel Dresche bekommt!? Püppi schaut sich grübelnd die eingeklemmte Hanna an und entschließt sich, nicht weiter zu drücken.

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      Der