Gerhard Gemke

Theater in Bresel


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keuchte sie. „Kurt und Knut!“

      Zwei noch nicht ganz elfjährige Gesichter blickten mit großen Augen an ihrer Mutter empor. Doppeltes Schulterzucken. Dann rannten die Zwillinge an Adelgunde vorbei und lehnten sich über das Balkongeländer.

      „Huhu!“, schrie Knut hinunter.

      „Er war's!“, schrie Kurt und zeigte auf seinen Bruder.

      „Nein, der mit dem Schnee im Gesicht!“, schrie Knut.

      „Wer hat denn hier …“ Weiter kam Kurt nicht, denn er kaute bereits eine Ladung schmutzigweißer Eiskristalle. Prustend wischte er sich den Matsch aus Augen, Ohren und Nasenlöchern. „Das kriegst du wieder!“

      Aber Adelgunde war schneller. Sie hatte sich wieder gefasst und packte ihre beiden Sprösslinge am Schlafittchen. „Ab in die Schule mit euch, und zwar dalli!“ Schon bugsierte sie die zwei zappelnden Früchtchen durchs Wohnzimmer in den Flur der Breselberg-Rummelpottschen Villa.

      „Und falls ihr euren Fußball sucht, fragt die beiden Weihnachtsmänner dort unten.“

      „Das kriegst du wieder!“, zischte Kurt, als sie wie begossene Pudel die Treppe hinunter stapften. Fast hätten sie dabei eine absonderliche Gestalt über den Haufen gerannt, die sich schimpfend die Stufen hinaufquälte.

      Eine Minute später klingelte es. Adelgunde kniete im Wohnzimmer und wischte gerade die Schneereste weg, die ihre Nachkommen auf den Holzdielen zurückgelassen hatten. Ärgerlich grunzend riss sie die Tür auf.

      „Was habt ihr denn nun schon wieder vergess… – ach, hallo Sibylle …“

      Draußen stand Sibylle. Sibylle von Oelmütz. Um genau zu sein: Fräulein Sibylle von Oelmütz. In schneebedecktem Lodenmantel und Winterstiefeln.

      „Was machst du denn … ähm … ja komm doch rein.“

      „Willst du nicht wissen, wie's mir geht?“ Sibylle rauschte ohne den Ansatz einer Begrüßung an Adelgunde vorbei und verteilte den Schneematsch unter ihren Sohlen auf dem Parkett.

      „Ja – doch. Wie geht's dir?“

      „Schlecht, meine Liebe, ganz schlecht.“

      Adelgunde seufzte. Sie wusste, was jetzt kam. Es war immer das Gleiche. Ächzend bückte sie sich mit dem Wischlappen nach den neuen Pfützen.

      „Könntest du bitte die Schuhe …“

      Unwirsch trat Sibylle die Winterstiefel von den Hacken, warf den Lodenmantel unter die Garderobe und ließ sich auf's Rummelpottsche Sofa fallen. Unter ein riesiges Ölgemälde, das eine Ritterburg zeigte, die von schroffen Felsen herab auf eine Handvoll geduckter Bauernhäuser blickte. Burg Knittelstein.

      „Ich halt es nicht mehr aus“, begann Sibylle und zupfte ihre graue Strickjacke zurecht.

      Ich auch nicht, dachte Adelgunde, während sie Sibylles Stiefel einsammelte und ins Badezimmer verfrachtete.

      Und dann ging es los. Wie üblich. Das dürre Fräulein Sibylle von Oelmütz klagte und klagte.

      Der lange Weihnachtsbaumverkäufer stellte den Blechtrichter mit der breiteren Öffnung in den Schnee. Sein Overall war gespickt mit aufgenähten Tannenzweigen, die bei jeder Bewegung raschelten und zwickten. Der Lulatsch kratzte sich am Rücken. Die vermummte Kundin hatte längst das Weite gesucht. Es gab ja genug Weihnachtsbaumverkäufer in Augsburg. Mehr als genug.

      „Carlo.“

      „Ja Ede?“

      Der kleine Dicke, der offensichtlich auf den Namen Carlo hörte, hatte sich seinen Schal bis unter die rote Nase, und die Pudelmütze tief über die vereisten Augenbrauen gezogen. Bibbernd stapfte er zwischen den Weihnachtsbäumen hindurch.

      „Gib mal das Teil da rüber!“ Ede winkte in Richtung einer erbärmlich krummen, fast kahlen Fichte.

      „Wozu denn?“

      Edes eisiger Blick reichte. Carlo zog den Kopf noch tiefer in den Schal und zwängte sich durch die nadelige Ausstellung. Es dauerte, bis er wieder herausfand. Dann überreichte er Ede zitternd das schwindsüchtige Bäumchen. Ede rammte es ohne ein Dankeschön in den Blechkübel. Das Leder-Ei darin löst sich.

      Und schon plärrte in Edes Rücken eine noch nicht ganz elfjährige Kinderstimme: „Eh! Das ist mein…“

      Matsch! Der Rufer verstummte und spuckte röchelnd Schnee und Streusalz.

      „Er war's!“, quäkte Kurt und riss Ede den Fußball aus der Hand.

      „Na warte!“, gurgelte Knut.

      Kurtchen flüchtete durch den Nadelwald und hinterließ eine Schneise entlaubter Fichten. Knut hinterher, was das Ergebnis nicht schöner machte. Der graue Herr, der auf die Tännchenverkäufer zusteuerte, hob beide Arme, als die Zwillinge rechts und links an ihm vorbeirasten. Eine Weile waren noch die allerliebsten Kosenamen zu hören, die sie sich samt Schneematsch an die Köpfe warfen. Dann wurde es wieder still.

      „Na“, sagte der Herr im grauen Pudelfellmantel und schwarzem Hut. „Wie laufen die Geschäfte?“

      „Och“, machte Carlo und schniefte, „naja …“

      „Schlecht“, sagte Ede und kratzte sich im Nacken. „Um nicht zu sagen: Gar nicht.“

      Der graue Herr nickte. Er war jetzt dicht an die beiden Weihnachtsbaumverkäufer herangetreten.

      „Es gibt zu viele von euch.“ Er streichelte einer noch ganz ansehnlichen Nordmanntanne über die Zweige.

      „Und von euch auch.“ Sein Blick wanderte über Carlos Kugelbauch aufwärts und suchte die blinzelnden Äuglein.

      „Ja, Chef“, hustete Carlo. „Zu viele von uns.“

      „Augsburg ist voll von Weihnachtsmännern und Tannenbaumverkäufern“, stellte der Mann fest, den Carlo Chef nannte. Er hieß Eggbert Kniest. Er war Besitzer der Firma Hand und Fuß und herrschte über annähernd hundertfünfzig Männer und Frauen, die er weitervermittelte. Als Bauarbeiter, Türsteher, Spargelstecher oder Weihnachtsmänner. Je nach Saison.

      „Und nun, Chef?“ Ede kratzte sich unter den Achseln. Dann begann er die Fichtenskelette auszusortieren und auf einen Handwagen zu laden. Carlo schaute ihm trübsinnig zu. Ja, was nun?

      Eggbert tippte Carlo auf die Schulter. Carlo sah ihn mit großen fragenden Augen an. Eggbert versenkte seinen väterlichen Blick in Carlos Pupillen.

      „Hilf deinem Kollegen bei der Arbeit.“ Carlo nickte. „Und dann kommt ihr beide in mein Büro. Ich habe mit euch zu reden.“

      Carlo starrte ihn immer noch an. Eggbert wandte sich zum Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen.

      „Ach, noch was. Möchte einer von euch mal eine Frau sein?“

      Sibylle klagte und klagte. Über alles und jedes, über Gott und die Welt. Einmal in Fahrt war sie nicht mehr zu bremsen. Sie konnte ohne Luft zu holen eine geschlagene Stunde klagen. Zum Beispiel das Wetter. Das war natürlich unerträglich. Genau wie ihre Stützstrümpfe. Und die Qualität der Weihnachtsbäume erst. Der absolute Tiefpunkt. Und keiner kam sie besuchen. Also kein Mensch. Und deshalb starb sie vor Langeweile und besaß noch immer keinen Weihnachtsbaum.

      „Und Rosalinde redet auch nicht mit mir“, setzte sie noch einen drauf.

      „Rosalinde?“ Adelgundes Blick schweifte über Burg-Knittelstein-in-Öl-auf-Leinwand, als wünschte sie das Fräulein hoch oben auf den Burgturm.

      „Nur manchmal“, sagte Sibylle. „Manchmal sieht es so aus.“

      „Was?“, fragte Adelgunde verständnislos.

      „Als ob sie spricht.“

      „Rosalinde?“, hakte Adelgunde noch einmal nach, doch Sibylle versank längst im nächsten Sumpf von Klagen und Jammern. Adelgunde