Gerhard Gemke

Theater in Bresel


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der Fußspitze einen riesigen Rock mit Schottenmuster und einen BH beiseite, aus dem Zeitungspapier quoll. Carlotta Wirzbald hatte sich, nachdem Kurt und Knut sich verdrückt hatten, auf der Stelle wieder in Carlo verwandelt. Auf der Stelle war wörtlich gemeint.

      Ede schaufelte die Tür zu dem zweiten Raum frei, der von dem Flur abzweigte. Zu seiner Erleichterung fand er dort ein Sofa. Eine Nacht gemeinsam mit Carlo im Wasserbett hätte mit Mord und Totschlag geendet. Das war mal sicher.

      Ede schmiss ein muffiges Kissen auf das Sofa und fand eine fadenscheinige Wolldecke, die, wie er von der Seite erkennen konnte, über einem Aquarium hing. Ede zog die Decke von dem Becken. Eine nicht nennenswerte Wasserpfütze verdunstete darin, und etwas, das wie der Rest eines Guppies aussah, schwamm in der trüben Brühe. Ede warf die Decke über den Behälter zurück. In dem Zimmer mit dem Wasser-Ehebett würde sich auch eine zweite Decke finden, überlegte er messerscharf.

      Von drüben drangen jetzt freudige Juchzer herüber. Carlo zumindest hatte seinen Spaß. Über dem schmalen Dachfenster hing der Mond. Eine Krähe oder so was pickte auf das Glas. Vielleicht mag sie ja Fisch, dachte Ede. In diesem Moment quälte sich ein Schnarren durch den Flur. Vermutlich die Türklingel.

      Carlotta im Wasserbett quiekte.

      „Na, wie gefällt's euch?“, fragte Eggbert Kniest, als sie sich gesetzt hatten. Eggbert und Carlo quetschten sich um den Küchentisch, Ede hockte auf dem Rand des Duschbeckens.

      „Prima“, knurrte er und hielt das Gurkenglas an den Kopf. „Weitläufige Wohnung mit komfortablen Betten und Fischzucht. Ein Paradies für Mensch und Filzlaus.“

      Carlo sah ihn mit großen Augen an. „Also mein Bett ist wirklich …“

      „Ach, halt deinen Sabbel!“ Ede war nicht guter Dinge.

      „Na wenigstens friert ihr euch hier nicht den Hintern ab“, versuchte Eggbert die Stimmung zu heben. „Ich werd mich in ein paar Tagen wieder bei euch melden.“ Eggbert hievte sich hoch und öffnete die Flurtür. „Und träumt was Schönes. Ihr wisst ja, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung!“

      „Auch das noch“, brummte Ede und rieb sich wieder die Beule.

      Inzwischen war es Nacht geworden in Augsburg. Der Mond, der über der Stadt wie in einem schwarzen Samtlaken hing, war fett und rund. Es war an der Zeit abzunehmen. Unter den Dachschrägen des Ottoniums schnarchte Carlo wie eine Betonmischmaschine und träumte vom karibischen Meer. Die Wassermatratze gluckste dazu ihre Geschichten in sein Ohr.

      Im Zimmer gegenüber lag Ede und starrte auf den feisten Mond. Als Ede in den frühen Morgenstunden endlich einen unruhigen Schlaf fand, träumte er von einer Betonmischmaschine, die ihren Inhalt ausspie und eine dicke schnarchende Frau unter sich begrub.

      Der fette Mond zog unbeirrt seine Bahn durch die klirrend kalte Nacht und spiegelte sich gegen drei Uhr in den acht Augen einer Vogelspinne, die regungslos eine Heuschrecke aussaugte. Nur einmal zitterten ihre Tasthaare, als kaum wahrnehmbare Vibrationen der Luft ihr eine Bewegung anzeigten.

      Sibylles Kopf beugte sich über das Terrarium. Ihre Lippen öffneten sich lautlos. Fast lautlos.

      „… wären doch alle drei …“

      Dann schlossen sie sich wieder.

      Rosalinde saugte weiter.

      Um drei vor halb vier fror das Räderwerk der Ottonium-Uhr ein. Gleichzeitig knackte 31 Kilometer südwestlich eine Glasscheibe im zweitobersten Stockwerk des Turms von Burg Knittelstein, der hoch über dem Städtchen Bresel in den Nachthimmel stach. Als wollte er den fetten Mond aufspießen.

      Jo öffnete die Augen und blinzelte verschlafen durchs Zimmer. Es schimmerte im silbrigen Mondlicht wie eine Schwarzweiß-Fotografie. Nichts rührte sich. Das elfjährige Mädchen drehte sich um und schlief augenblicklich wieder ein. Und träumte von schwarzen Mönchen, die ihre Gräber verließen und durch die eiskalten Höhlen und Stollen unter Burg Knittelstein irrten. Das Mädchen fror im Schlaf.

      Irgendwo tief unter der Burg lösten sich im Breselberg ein paar Steine von den Wänden und kullerten einen kohleschwarzen Gang entlang. Als hätte ein Luftzug sie angestoßen. Eine Fledermaus segelte vor ihnen davon bis zum Ende des Stollens unter dem Breselner Rathaus. Dem bleichen Rathausgiebel gegenüber bimmelten müde die Glocken von Sankt Urban ihre vier hohen und vier tiefen Schläge (und träumten vom Ostersonntagskonzert).

      Darunter, mitten auf dem Marktplatz, wachte der eiserne Ritter Kunibald über den Schlaf der Breselner. Das Mondlicht glitzerte in seinen Augen, und für einen Moment sah es fast so aus … nein, ein eiserner Ritter träumte nicht mehr.

      Wer vermochte zu sagen, welcher dieser Träume in Erfüllung ging?

      Bald würde Bresel erwachen. In ein paar Stunden. Und noch ein paar Stunden später, pünktlich um zehn Uhr, würde sich der Stadtrat im großen historischen Rathaussaal versammeln.

      BPB

      Bimmelebimmelebim! Die goldene Rathausglocke in der Hand von Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr läutete die letzte Sitzung des Stadtrats vor der Weihnachtspause ein. Versammelt hatte sich die komplette Bürger-Partei-Bresel.

      Die BPB regierte das Städtchen, seit sich König Ludwig II. im Starnberger See ertränkt hatte. Und das war weit länger her, als die meisten Breselner sich erinnern konnten.

      Zu Radolfs Linken saß seine rechte Hand Doktor Jorgonson, seines Zeichens Kassenwart und Protokollführer. Zu seiner Rechten zupfte sich Agathe das geblümte Dirndl zurecht. Sie verkörperte den gesamten weiblichen Teil der BPB. Wenn man mal von Martina Dall absah. Was man heute wie so oft auch konnte. Agathe war Radolfs bessere Hälfte, wie man so sagt.

      Ebenfalls auf Einladung des Bürgermeisters anwesend eine Fotografin und zwei Reporter vom Breselner Volksblatt, die an der Fensterfront des Saals leise vor sich hin murmelnd Platz genommen hatten.

      Bimmelebimmelebim! Der Bürgermeister zielte mit seinem hervorragenden Kinn der Reihe nach auf jeden Anwesenden.

      „Wie ich sehe sind wir …“ Die Saaltür wurde aufgerissen. Vierundzwanzig Köpfe drehten sich wie von einem gemeinsamen Faden gezogen. In einer Wolke aus Mehl schnaufte Bäckermeister Blume herein, stapfte einmal halb um den Ratstisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Allgemeines Husten.

      „Wie ich sehe …“ Fünfundzwanzig Köpfe wanderten zurück, Radolfs Augenbrauen stellten sich steil, „… sind wir inzwischen so gut wie vollzählig und freuen uns, jemanden in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, der für unsere geliebte Stadt und besonders für das Historische Museum Bresel Großartiges geleistet hat.“ Radolf erhob sich und machte eine einladende Bewegung etwa in die Richtung von Bäckermeister Blume, der verwirrt durch seine Brezelbrille blinzelte. Neben ihm rückte ein Herr mit mundumkreisenden Bart seinen Stuhl zurück und stand auf. Mit leichtem Kopfnicken dankte er dem Applaus, den die BPB auf die Tische trommelte. Bäckermeister Blume sackte erleichtert in seinen staubigen Stuhl zurück.

      „Der ehrenamtliche Vorsitzende des Historischen Museums Bresel, Herr Clemens Zuffhausen!“ Das Trommeln verebbte. „Sie haben das Wort.“ Radolf Müller-Pfuhr setzte sich wieder und gespanntes Schweigen machte die Runde. Sozusagen.

      Clemens Zuffhausen wischte etwas Mehl von seinem Ärmel und räusperte sich.

      „Meine Herren“, begann er, „meine Dame. Das alte Jahr neigt sich seinem Ende zu, und, wie Sie alle wissen, liegen turbulente Ereignisse hinter uns, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Bis auf eines. Es betrifft unser überregional bekanntes und bedeutendes Kloster Sankt Florian. Vor etwa zwei Monaten verließen die letzten sechs Florian-Mönche – teilweise lebend, teilweise … nun ja – jedenfalls steht seit dem das Kloster Sankt Florian leer.“

      Der versammelte Stadtrat nickte sorgenvoll in Erinnerung an die turbulenten Ereignisse des vergangenen Herbstes [die in dem Buch Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von