Gerhard Gemke

Theater in Bresel


Скачать книгу

Team des Historischen Museums zwei volle Monate lang in den Fundamenten des Klosters graben dürfe. Und so weiter.

      Jan und Freddie klingelten bald die Ohren vor lauter Zukunft und Event-Center, Jugend und Kultur. Am liebsten hätte Freddie vor Langeweile schon in den Hefezopf gebissen. Wo blieb eigentlich Lisa?

      „Mit einem kleinen Scherenschnitt durchtrenne ich nun das Band vor diesen Stufen – doch es ist ein großer Schnitt für die Kultur unserer geliebten Stadt Bresel. Meine Damen und Herren, besichtigen Sie mit mir und meiner Frau die Unterwelt des Klosters Sankt Florian. Ich danke Ihnen!“

      Radolf nahm mit würdevollem Kopfnicken den Applaus entgegen und stieg mit Agathe huldvoll wie ein Fürstenpaar die Treppe hinunter. Das Volk folgte schwatzend. Freddie und Jan schoben sich an Doktor Jorgonson vorbei.

      „Na, wie geht's ihrem Herzen, Herr Baron?“, fragte der Arzt gerade. Baron Eduard murmelte ein „Danke soweit“ und beeilte sich, von dem unangenehmen Thema (und dem dazugehörigen Arzt) fortzukommen. Er zwängte sich hinter Elvira durch den schwitzenden Haufen. Jan und Freddie nutzten die Verdrängung des beleibten Barons und schlossen sich ihm an.

      Das Kellergewölbe bot für den Besucherandrang mehr als genug Platz rings um das Badebecken. Es roch nach zweihundert Jahre schlecht gelüftet, und an der gewölbten Decke blätterte die Farbe von den Gemälden. Spärlich bekleidete Menschengrüppchen streiften darauf durch Wälder und Wiesen und hatten sicher schon das Auge Heinrich II. erfreut. Und die Augen der Mönche in späteren Jahren ebenfalls.

      An den Seiten hatten Angestellte des Museums Tische mit reichlich Informationsmaterial aufgestellt. Hier fand man Schriften zur Entstehung des Klosters, sowie zur Geschichte der Stadt Bresel. Kinder durften das Bilderbuch Wie Kunibald Burg Knittelstein erbaute bemalen. Die Erwachsen waren fasziniert von den verschiedenen Baustilen, in denen das Gebäude erweitert und ausgebaut worden war. Das größte Gedränge herrschte jeweils an dem Stand, den Herr und Frau Bürgermeister ansteuerten. Aber auch die Stellwand mit dem Aufruf für die Grabungshelfer fand reges Interesse.

      Dort entdeckte Freddie sie endlich. Lisa blätterte versunken in einer Broschüre. Freddie näherte sich zögernd.

      „Ähäm.“

      „Was willst du?“, fragte Lisa freundlich, aber ohne aufzublicken.

      „Ja, ich …“ Freddie raschelte verlegen mit der Papiertüte. „Also … tja … ich hab dir was …“ Freddie wusste beim besten Willen nicht weiter.

      Lisa hob den Kopf und sah ihm gerade ins Gesicht. „Ist okay, Freddie“, sagte sie, „schon vergessen.“ Sie nahm die Tüte, die Freddie ihr hinhielt, und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.

      „Willst du nicht …“ Freddie zeigte unsicher auf die Bäckerblume.

      „Später.“ Lisa ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

      Freddie nickte und nahm sich ebenfalls eine Broschüre mit der Aufschrift Grabungshelfer gesucht. Langsam ging er zu Jan zurück.

      „Ich glaube, Lisa ist stinksauer.“

      Jan der gerade in der Welt der Florian-Mönche blätterte, linste an Freddie vorbei zur Grabungshelfer-Stellwand. „Quatsch“, sagte er, „Lisa lässt dich nur schmoren.“

      Lisa hatte inzwischen den Hefezopf ausgepackt und biss herzhaft hinein. Dann wandte sie sich, ohne die Jungs eines Blickes zu würdigen, dem Pappmodel des Florian-Klosters zu.

      „Was ist das für ein rotes Band da um den Hefezopf?“, fragte Jan, der aus dem Staunen über Freddies Wiedergutmachungsaktion nicht herauskam.

      Freddie blickte verlegen auf seine Fußspitzen. „Ich hatte noch 'n gammeligen Osterhasen mit rotem Band und zwei Glöckchen. Den musste ich sowieso entsorgen. Und da dachte ich …“

      „Mensch Freddie!“ Jan verdrehte die Augen. „Wenn du so weitermachst, wird dir Lisa täglich ihre Zöpfe zum Kauen überlassen. Das lohnt sich ja richtig.“

      Jan duckte sich blitzschnell, und Freddies Boxhieb ging ins Leere.

      Eine gute Stunde später verließen die Breselner das Kloster. Wohl informiert und davon überzeugt, dass ihr Bürgermeister das Beste für sie wollte. Jan und Freddie hatten schon die Klosterpforte erreicht, als Lisa sie einholte.

      „Hat gut geschmeckt, Freddie“, sagte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Hauch eines Lächelns.

      „Hunger?“ Lisa hielt ihren Kopf ein wenig schief und zog ihren linken Zopf in Freddies Richtung. Jan sah Freddie mit zusammengebissenen Zähnen und weit aufgerissenen Augen an, aus denen bereits die Tränen traten. Freddie holte aus, und Jan prustete los. Lisa fing geistesgegenwärtig Freddies Arm auf. An ihrem Handgelenk baumelte ein rotes Band mit zwei Glöckchen, die leise dazu bimmelte.

      „Frieden!“ Lisa stellte sich zwischen die beiden. „Ich hab übrigens 'ne Anmeldung ausgefüllt. Ihr auch?“

      Die Jungs sahen sich an. Dann nickten sie einträchtig.

      „Am Montag vor Weihnachten geht's los.“

      Und als wäre nie ein Wässerchen getrübt worden, zockelten die drei durch das Schneetreiben davon.

      Brief

      Agathe Müller-Pfuhr starrte aus dem Fenster. Es schneite. Es schneite ohne Unterlass, seit sie das Kloster verlassen hatten. Eine Wand aus weißer Watte. Agathes Blick versuchte beharrlich, einzelne Flocken festzuhalten und wurde von diesen genauso beharrlich nach unten gezogen. Schwer wie Blei. Die Dämmerung, die sonst um diese Zeit die Bäume im Garten in ein blaues Zwielicht tauchte, veränderte heute nichts. Überhaupt nichts. Agathe probierte, die Augen stur geradeaus zu richten.

      Die Haustür knallte. Radolf kam vom Briefkasten zurück.

      „Zieh die Schuhe aus“, murmelte Agathe. Schlurfende Schritte näherten sich durch den Flur, und die Wohnzimmertür öffnete sich.

      „Zieh die Schuhe aus“, kreischte Agathe. Radolf stand auf dem Teppich und senkte sein Bratpfannenkinn zu den Fußspitzen. „Oh!“

      Zehn Minuten später hatte er das meiste wieder aufgewischt und die Filzpantoffeln übergestreift, die Agathe ihm zur Bürgermeisterwahl geschenkt hatte. Vor zwei Monaten, kurz bevor sie das neue Haus in Bresel-Neustadt bezogen hatten. Agathes Rosen hatten zwar die Verpflanzung nicht überlebt, aber das hatte ihre Freude über das neue Heim nicht trüben können. Die Freundinnen vom Rosenzüchterverein Breselblume e.V. hatten vollstes Mitgefühl gezeigt und schnellstens Ersatz beschafft. Und Agathe erneut zur Vorsitzenden gekürt. Wenigstens etwas.

      Agathe seufzte, und Radolf ließ sich in seinen Sessel fallen.

      „Es schneit“, sagte er, und Agathe musste kurz überlegen, ob sich irgendein Funken von Verstand in diesen zwei Worten verbarg. Sie fand keinen.

      Schließlich sagte sie: „Ja.“

      Radolf schlug umständlich ein Bein über das andere und zog einen Brief hervor.

      „Sibylle von Oelmütz“, las er den Absender. „Woher kenne ich …“

      Agathe gab den Kampf mit den Schneeflocken endgültig auf und drehte den Kopf.

      „Das war doch …“ Sie starrte auf Radolf große Hände, die den Briefumschlag zerstörten. „Ich meine, die Hauslehrerin auf Knittelstein hätte so geheißen.“

      „Wozu brauchen die eine Hauslehrerin?“, brummte Radolf und zerrte einen geblümten Zettel aus den Überresten des Umschlags.

      „Brauchten“, korrigierte Agathe und sah ihrem Mann regungslos bei der weiteren Zerfledderung des Briefes zu. „Für diese … Josephine.“

      „Geht die denn auf keine richtige Schule? Dann müsste das Jugendamt mal …“ Der Blümchenzettel war befreit und Radolf zerknüllte den Rest.

      „Jetzt ja“, sagte