Gerhard Gemke

Theater in Bresel


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Jan ernst. Als ob das einer wollte.

      Der Bus hielt an der Theaterstation. Einige Schüler verließen den Wagen. Dick vermummte Leute drängten sich mit ihren Einkaufstüten durch die Sitzreihen und rutschten durch die Pfützen im Mittelgang.

      Der Bus ruckelte wieder an. Lisa starrte aus dem Seitenfenster.

      „Weiß einer was von Jo?“, fragte sie.

      „Jo!“ Jan schlug sich vor die Stirn. „Fast hätt ich's vergessen.“ Er tippte Freddie auf die Schulter. „Kannst du meiner Mutter Bescheid geben? Ich fahre noch zur Burg hoch und bringe Jo die Hausaufgaben.“

      „Fleißig, fleißig.“ Freddie kassierte einen nicht freundlichen Blick.

      „Was ist denn mit ihr?“, fragte Lisa, ohne die ewige Kabbelei der Jungs zu beachten.

      Jan zuckte mit den Schultern. „Komm doch mit.“

      Lisa schüttelte den Kopf und seufzte: „Unsere Eisdiele wird renoviert. Wir räumen heute den Laden aus, damit Firma Spreißelmeier loslegen kann.“

      Freddie gähnte. „Morgen reißt mein Alter bei euch die erste Wand ein.“ Freddies Vater war Maurermeister beim Bauunternehmen Spreißelmeier, und Jans Vater stand ebenfalls auf der Lohnliste des größten Arbeitgebers der Stadt. Als Elektroingeneur.

      Der Bus hielt am Augsburger Tor. Lisa und Freddie stiegen aus. Schon nach wenigen Metern waren die beiden hinter einer dichten Schneeflockenwand verschwunden. Jan lehnte sich zurück. Zischend schlossen die Türen. Die Linie 7 zockelte weiter um die alten Stadtmauern von Bresel. Am Ulmer Tor bog sie stadtauswärts in Richtung Burg. Die Breselbergstraße hatte ein Schneepflug heute bereits das dritte Mal freigeräumt. Der Bus brummte die engen Serpentinen hinauf bis zum Wendeplatz vor der gewaltigen Zugbrücke.

      Jo

      Burg Knittelstein. Wie eine riesige Panzerechse erhob sich die mittelalterliche Festung über den schneebedeckten Felsen. Steil und uneinnehmbar wuchsen die Burgmauern in die Höhe. Wehrtürme und Schießscharten glotzen hinab auf Freund und Feind. Über den Mauerzinnen glitzerte das verschneite Dach des Palas, den der Burgturm noch um mindestens acht Meter überragte. Elf Meter, wenn man den Fahnenmast dazurechnete. In der Verlängerung der Spitze riss die Wolkendecke auf, als hätte sie der Mast aufgeschlitzt. Jan blinzelte zu der Fahne hinauf, deren Knattern im Wind bis hier unten zu hören war. Krächzend landete eine Elster auf der Turmspitze. Im Fenster darunter spiegelte sich die tief stehende Wintersonne.

      Fünf Minuten später saß Jan hinter eben diesem Fenster auf einem geschnitzten Hocker aus schwarzem Holz. Vor ihm schniefte etwas unter einem Berg aus Kissen und Decken.

      „He, Jo“, sagte Jan.

      Die Elster auf der Turmspitze hatte kaum besser geklungen als das Husten aus dem Federbett.

      „Dich hat's ja übel erwischt.“

      „Hallo Jan“, krächzte das Etwas und ein struwweliger Mädchenkopf kämpfte sich aus den Laken. „Schön, dass du gekommen bist.“

      Beinahe hätt ich's vergessen, dachte Jan. „Ist doch klar“, sagte er. „Naja, um ehrlich zu sein … beinahe hätt ich's vergessen.“

      Jo grinste. „Schussel! Was gibt's Neues? Wegen der Mathearbeit zum Beispiel.“

      „Willst du das wirklich wissen?“, fragte Jan mit gespielter Besorgnis.

      Jo verdrehte etwas schwachsinnig die Augen und zuckte mit den Schultern. Es half ja nichts.

      „Bringen wir's hinter uns.“

      Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis Jo auf dem aktuellen Stand des Mathematikunterrichts war. Dann erst kam Jan dazu, vom Klosterumbau zu berichten. Von Radolfs morgigem Spatenstich und der Anzeige des HMB wegen der Grabungshelfer.

      „Klingt interessant“, krähte Jo. „Was sagen denn Lisa und Freddie? Wollt ihr da alle hin?“

      Jan bestätigte mit einem Nicken. Jo hustete wieder und wischte sich die tränenden Augen.

      „Grüß sie herzlich. Aber ich kann morgen bestimmt noch nicht aus dem Bett. Doktor Jorgonson will mich sogar übers ganze Wochenende hier einsperren.“

      Doktor Jorgonson war der Hausarzt, oder besser Burgarzt der Knittelsteiner, zuständig für Baron Eduards schwaches Herz, Elviras Bandscheiben und Jos Grippe.

      „Wie bist du bloß an so 'ne heftige Erkältung gekommen?“, fragte Jan. Jo deutete schwach auf das Südfenster. Hinter der beschlagenen Scheibe konnte man mit etwas Fantasie die Gipfel von Großhorn und Rotspitz erahnen.

      „Der Frost hat das Fenster geknackt. Vorgestern. Ich hab die halbe Nacht ohne Decke geschlafen. Warum weiß ich nicht. Vielleicht hab ich schlecht geträumt. Bis mich dann die Kälte geweckt hat. Und da hat's mich halt erwischt.“

      „Glaubst du denn, dass du bis Freitag überlebst? Wenn wir ins Theater wollen?“ Jan sah sie etwas zu mitleidig an. Jo versuchte, ein Kissen nach ihm zu werfen.

      „Jetzt komm mir nicht auf die scheinheilige Tour.“

      Jan grinste und schleuderte das Kissen zurück.

      „Ebeneezer Scrooge wird auch ohne mich ein besserer Mensch“, knurrte Jo und verkroch sich wieder unter der Bettdecke. Und dumpf kam unter dem Laken hervor „Wenn ich doch bloß erst in den Weihnachtsferien krank geworden wäre.“

      Jan brauchte gar nicht nachzufragen, denn die Erklärung folgte auf dem Fuß: „Kurt und Knut kommen zu Besuch.“

      Jan hatte von den beiden schon gehört. „Deine netten Cousins aus Augsburg.“

      Jo seufzte. „Mir bleibt auch gar nichts erspart.“

      „Ooooh …“, machte Jan gedehnt.

      Diesmal war das Kissen besser gezielt. Jan rettete eine Blumenvase vor dem Scherbentod und legte den Federsack versöhnlich zurück aufs Bett. Eine Weile quatschten sie noch über dies und das. Dann wurde Jo still. Jan beugte sich vorsichtig über das Bett. Josephine von Knittelstein-Breselberg war eingeschlafen.

      Die Wendeltreppe den Burgturm hinunter kam Jan wie immer endlos vor. Und seinen Waden auch. Jan kannte sich von früheren Besuchen halbwegs in der verwinkelten Festung aus. Nach ein paar Schritten durch einen schlecht beleuchteten Gang bog er rechts ab in die Knittelsteiner Ahnengalerie.

      Hier hing Ritter Kunibald, der vor über tausend Jahren diesen Kasten gebaut hatte, und dessen Reiterstandbild den Brunnen auf dem Breselner Marktplatz zierte. Meinhardt der Dicke beäugte mit saurer Miene Wolfram von Trutzlingen. Mit grabesfinsterem Blick starrte Arnulf von Breselberg-Zoffhausen aus dem Rahmen. (Angeblich der Ururur-Ahn von Clemens Zuffhausen.)

      Adalbert Stifterstein zu Bresel folgte, der das Adalbertinum gestiftet hatte, 1556. Und schon in der Grundschule hatte Jan sich über den verrückten Aimo Rochefort de Bresèl schlappgelacht, der vor ein paar hundert Jahren eine Rutsche bauen wollte, vom Burgturm durch den Breselberg bis ins Rathaus. Und tatsächlich waren die Archäologen, die nach Baronin Tusneldas Tod den Berg durchkämmt hatten, auf Reste des spinnerten Unterfangens gestoßen.

Ahnengalerie Burg Knittelstein I Ahnengalerie Burg Knittelstein II

      Ja, und am Ende der Galerie hing sie dann höchstselbst. Seit zwei Monaten. Baronin Tusnelda, mit einer schwarzen Trauerschleife um den Rahmen. Die Frau, die Jos Vater geheiratet hatte, nachdem Jos wirkliche Mutter gestorben war. Und die im Herbst … Jan schüttelte sich. An diese nun überstandene Geschichte, in der Lisa, Freddie, Jo und Jan selbst auf abenteuerlichste Weise verwickelt gewesen waren, wollte er jetzt nicht mehr erinnert werden.

      Trotzdem konnte er sich von Tusneldas Pupillen nicht losreißen. Er starrte sie an, bis ihm schwindelig wurde. Die gemalten