Gerhard Gemke

Theater in Bresel


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Wie oft hatte sie dort oben gestanden. Ihre ganze Kindheit über war das ihr Lieblingsplatz gewesen. Sie erinnerte sich an den weiten Blick über das Breselner Land. An klaren Tagen bis zu den Voralpen, den Gipfeln von Großhorn und Rotspitz. Dort oben war der einzige helle und schöne Ort der Burg, hoch über den düsteren Gängen und Sälen, in denen sie mit Schwester Tusnelda ihre Jugend verbrachte. Ach ja, Tusnelda. Adelgunde seufzte tief.

      Sie hatte gehört, dass es heute freundlicher sein sollte auf Knittelstein. Heute – nach Tusneldas Tod. Freundlicher jedenfalls, als zu der Zeit, als Kuno der Kühne vom Breselberg noch lebte. Ihr Vater. Und Adelheid, ihre Mutter. Und als Tante Sibylle sie mit strenger Hand unterrichtete. Noch immer klang ihr diese plärrende Stimme in den Ohren.

      Adelgunde, Tusnelda, wascht euch die Finger! Macht eure Hausaufgaben!

      Und heute? Tusnelda war tot, wie gesagt. Und Burg Knittelstein im Besitz des Witwers. Eduard. Baron Eduard. Und seiner Tochter aus erster Ehe – wie hieß die noch gleich? Josephine oder so. Ein schreckliches Mädchen.

      Und dieser Eduard hatte nach Tusneldas Dahinscheiden keinen Monat gebraucht. Ruckzuck hatte er eine Neue. Und schon wohnte die auf die Burg. Und der Gipfel? Es war die Schwester seiner ersten Frau. Ausgerechnet! Und natürlich alles ohne Trauschein. Was für Familienverhältnisse!

      Adelgunde starrte auf Burg Knittelstein, während sich auf dem Sofa darunter Sibylles Mund unentwegt öffnete und schloss. Öffnete und schloss.

      „Was starrst du so auf das Bild?“

      Adelgunde erschrak. Als hätte Sibylle ihre Gedanken gelesen.

      „Ich wette, du hast mir nicht eine Sekunde zugehört!“

      Adelgunde schluckte und versuchte, statt einer Antwort ein aufmerksames Gesicht zu machen.

      „Was hab ich nicht alles für euch getan!“ Sibylles Stimme geriet eine Spur zu schrill. „Für dich! Für deine Schwester Tusnelda! Gott hab sie selig!“ Sibylle schnaufte. „Und Tusneldas Mann. Und sein missratenes Töchterchen!“ Sibylles Wangen liefen rot an. „Und kaum ist Tusnelda unter der Erde, hat der Kerl schon eine Neue. Und schwupps! gehört unsere Burg diesen …“ Sie suchte nach einem passenden Ausdruck für die beiden, fand aber offensichtlich keinen. Damit ihre Wut nicht erlahmte, ergänzte sie: „Und diese Göre!“

      Sibylle schlug mit der flachen Hand hinter sich gegen das Ölbild. Das Bild verrutschte um einige Zentimeter und Adelgunde umklammerte schwer atmend die Armlehnen ihres Stuhls.

      „Und schwupps! ist keiner der alten Knittelsteiner mehr auf der Burg. Nicht du und nicht ich. Ach, jaja, komm mir jetzt nicht oberschlau und sag, ich sei gar keine echte Knittelsteinerin. Sehr richtig, ich bin dort nicht geboren. Aber ich bin eine Blutsverwandte, und …“, Sibylle rang mit ihrer Bedeutung und reckte ihr Kinn, „… und ich habe viel für Knittelstein getan. Sehr viel! Und deshalb steht auch im Testament deines Vaters …“

      (Sibylle prüfte die Wirkung ihrer Worte auf Adelgunde. Die nickte schicksalsergeben)

      „… im Testament deines Vaters steht: Wenn Tusnelda keine Nachkommen hat, dann krieg ich die Hälfte. Ich!“

      Sibylle war aufgesprungen und bohrte ihren Zeigefinger quer über den Wohnzimmertisch.

      „Du hast damals das Geld gewählt, als du die Burg verlassen hast. Und Tusnelda? Starb kinderlos! Also steht die Burg wem zu?“

      Sibylles Logik ließ nur eine Antwort zu. Ihr selbst. Wem sonst?

      „Mir selbst. Wem sonst?“

      Adelgunde ging das jetzt wirklich zu weit.

      „Wenn die drei bloß nicht wären …“, fügte Sibylle knurrend hinzu.

      Adelgunde versuchte, ihren Griff um die Armlehnen zu lockern und möglichst entspannt in den Sessel zu sinken.

      „Aber … du hast doch jetzt ein schönes Häuschen mit einem hübschen Garten und …“, sie suchte nach weiteren Vorzügen von Sibylles Behausung, um die Tante zu beruhigen, „… und einen niegelnagelneuen Wintergarten.“

      Den hatte nämlich Humberts Firma kürzlich dem Fräulein ganz nach ihren Wünschen gebaut.

      „Hör mir auf!“ Sibylles Augen funkelten böse. „Du musst gerade reden. Du sitzt hier in deiner Villa. Und erfreust dich zweier süßer Kinder.“ Sie lächelte säuerlich. „Mehr noch, dein Humbert ist Geschäftsführer geworden. Bei dieser Firma – wie heißt die noch?“

      „Hand und Fuß.“

      „Jaja“, grunzte Sibylle, verärgert über ihr zunehmend schlechter werdendes Gedächtnis.

      Es stimmte. Humbert hatte einen einträglichen Posten ergattert, in einer Firma, die Arbeitskräfte verlieh. An alle erdenklichen Unternehmen, die für kurze Zeit mehr Personal benötigten. Humberts neuer Chef war sehr zufrieden mit ihm, und Humbert kam bestens mit ihm aus. Auch deshalb wollten die Breselberg-Rummelpotts den Herrn Eggbert Kniest demnächst zum Weihnachtsessen einladen.

      „Wir wollen Humberts Chef zum Weihnachtsessen einladen“, sagte Adelgunde, in der Hoffnung, Sibylle endlich auf andere Gedanken zu bringen. „Möchtest du nicht auch kommen?“

      Sibylle stand abrupt auf und blickte Adelgunde an, als hätte die sich abgrundtief daneben benommen.

      „Selbst-ver-ständ-lich!“, spuckte Sibylle vier Silben auf den Wohnzimmertisch. „Wo hast du meine Stiefel?“

      Adelgunde nahm eine Werbebroschüre aus dem Zeitschriftenkorb und wischte die tröpfchenübersäte Tischplatte trocken. „Im Bad.“

      Als sie Sibylle in den noch feuchten Lodenmantel half, drückte Adelgunde ihr die Werbebroschüre in die Hand. VOLKSHOCHSCHULE AUGSBURG stand vorne drauf. Sibylle blätterte mit spitzen Fingern die erste Seite um. „Was soll ich damit?“

      Wahllos zeigte Adelgunde auf eine Ankündigung. Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett.

      „Ich dachte halt …“

      „So, dachtest du!“, schnaubte Sibylle.

      „Gegen die Langeweile vielleicht.“

      Kreatives Schreiben stand da unter der Überschrift. Werden sie Autorin. Packen sie den Krimi ihres Lebens zwischen zwei Buchdeckel.

      Sibylle stopfte die Broschüre in die Manteltasche, während sie die Treppe hinunterstieg. Ihr Schimpfen war noch zu hören, als sie die Haustür bereits hinter sich geschlossen hatte.

      „Ohne Krimi geht die Mimi … so ein …“, hörte Adelgunde noch, als sie sich endlich gegen den Türrahmen lehnen und tief durchatmen konnte. Hoffentlich war es kein Fehler gewesen, Tante Sibylle zum Weihnachtsessen einzuladen.

      Wirzbald

      Etwa gleichzeitig mit Adelgundes tiefem Seufzer knallte ein schwarzweißgefleckter Fußball gegen die Fensterscheibe eines Büros. Keine drei Meter unterhalb der prachtvollen berühmten Uhr des Ottoniums, jener ebenso berühmten und ehrwürdigen Augsburger Schule. Einerseits also konnte der Schütze des Balls von Glück sagen, dass das Leder nicht drei Meter höher auftraf. Andererseits saß hinter dieser Fensterscheibe Frau Almuth Spitznagel, die Direktorin des Ottoniums. Frau Almuth Spitznagel hob den Kopf und ihre Augen verengten sich. Zudem klopfte es gerade an der Bürotür.

      „Herein“, rief Frau Spitznagel und hechtete zum Fenster. So eben noch sah sie einen dieser Zwillinge mit einem schwarzweißgefleckten Fußball hinter dem Flügel für die fünften und sechsten Klassen verschwinden. Die Direktorin riss das Fenster zum Schulhof auf und am anderen Ende des Raumes öffnete sich die Zimmertür. Ein eiskalter Luftzug schoss durch das Büro und riss einen Stapel Notizblätter mit sich. Eggbert Kniest stürzte einen Schritt vor und versuchte, sie aufzufangen.

      Frau Spitznagel schrie: „Alexander!“ Ihre Stimme hallte über den winterlichen Hof. Alexander, zwölf Jahre und meistens der Letzte nach dem Klingelzeichen, drehte