Orkania

Im Auge der Kamera


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das Leiterchen, oder soll ich die grosse aus dem Keller holen?“ fragte er und hielt Marvin die zusammengeklappte Trittleiter hin.

      „Passt schon.“ antwortete der und platzierte sich wartend unter der Kamera.

      Muss ich dem gnädigen Herrn jetzt echt die Leiter da aufstellen? dachte Erich und schloss erstmal die Tür des Abstellraums. Verwöhntes Kerlchen.

      Er stellte die Leiter hin und sah abwartend zu der Kamera auf. Marvin zog einen Schraubenzieher hervor und kletterte die Leiter hinauf. Mit gekonnten Bewegungen schraubte er das kleine Gerät von der Halterung ab und stöpselte die Kabel aus, die hinter der Halterung in der Wand verschwanden. Prüfend betrachtete er alles eine Weile. Erich nahm sich die Zeit und rückte das Bild an der Wand gerade.

      „Ich seh hier einfach keinen Schaden! Muss das Ding mal aufschrauben.“ Marvin kletterte wieder herunter und ging hinüber zu der Theke. Erich liess den Tritt dort, wo er war, und folgte Marvin.

      „Kannste mal Licht machen?“ meinte der und schraubte bereits an der Abdeckung des Kameragehäuses herum. Erich ging um die Theke herum und drückte einige Schalter. Die Nachtbeleuchtung ging aus und die Deckenlampen flammten auf.

      Marvin betrachtete interessiert das Innere der Kamera. „Sieht alles einwandfrei aus,“ seufzte er und schraubte den Deckel wieder drauf. „Ich hab eine Ersatzkamera unten, die werde ich gleich mal anschliessen. Das gute Stück hier muss ich mir in der Werkstatt mal genauer ansehen.“

      Beide stapften wieder nach unten.

      „Du musst nicht jedesmal hinter mir herdackeln, ich kann das schon ganz gut allein!“ meinte der Jüngere, als sie wieder im Überwachungsraum waren.

      „Lass mal, ich mach nur meinen Job,“ brummte Erich und betrachtete den ersten Monitor, auf dem das Geschehen im ersten Stock jetzt nur drei Bilder zeigte. Zwischen dem zweiten und dem vierten Bild blieb der Monitor jetzt 5 Sekunden lang schwarz. Die übrigen drei Monitore liefen einwandfrei.

      Während Marvin die neue Kamera aus der Verpackung nahm und die alte in seiner Tragetasche verstaute, kontrollierte Erich das Gebäude über die anderen Monitore. Marvin ging zur Tür.

      „Ich schliesse schnell die neue Kamera an.“ sagte er, während er an Erich vorbeistarrte und verliess den Raum. Erich beobachtete seinen Weg nach oben mit Hilfe der verbliebenen Kameras. Nach einer Weile tauchte auf dem ersten Monitor wieder das dritte Bild auf. Erich konnte eine Nahaufnahme von Marvins Gesicht sehen. Der Junge musste sich mal anständig rasieren, überall Stoppeln. Das Bild wechselte und Erich zählte in Gedanken die Sekunden mit. Dann tauchte Marvins Gesicht wieder auf. Beim dritten Durchgang stieg er vom Tritt herunter und war verschwunden. Wieder wechselte das Bild.

      Erich wurde oft gefragt, ob es ihm nicht langweilig würde, die halbe Nacht in einem leeren Bürogebäude vor dem Monitor zu hocken. Aber ihm war es recht. Einmal hatte es einen Einbruchsversuch gegeben, der war aber an den Sicherheitstüren gescheitert. Irgendwelche Junkies, die die grosse Villa gesehen und auf schnelles Geld gehofft hatten. Und bereits an der stahlverstärkten Tür aufgeben mussten.

      Erich mochte die stillen Stunden vor seinen Monitoren und die lockeren Kontrollgänge in dem leeren Haus. Die Firma war gross und scheinbar wichtig genug, um einen Wachmann zu beschäftigen, aber klein und überschaubar genug für Erich. Alles was der wollte, waren Ruhe und Ordnung. Der kleine Flur kam wieder ins Bild. Erich starrte gebannt auf den Bildschirm. Es rauschte kurz und das Flimmern tauchte wieder auf. „Scheisse!“

      Marvin war fluchend zurück in die Firma gefahren und hatte etwas von kaputten Kabeln und Wand aufstemmen gemurmelt. Er war felsenfest davon überzeugt, dass es nicht das Computerprogramm war, das die Störung verursachte. Erich war ganz unwohl geworden bei dem Gedanken. Er sass wieder vor den Monitoren und behielt das Gebäude im Blick.

      Wenn die ganzen Wände nun aufgestemmt werden sollten, nur wegen einem kurzen Flackern? Was ein Aufstand wegen so einer Kleinigkeit. Naja, immerhin funktionierte das System scheinbar und es beschränkte sich wirklich nur auf die eine Kamera. Da konnte man doch auch ein Auge zudrücken? Aber Erich glaubte nicht, dass er um seine Meinung gebeten werden würde, also machte er einfach nur seine Arbeit.

      Es ging nun auf Mitternacht zu und wurde Zeit für seine Pause. In der Thermoskanne war noch ein Schluck Kaffee und in der kleinen Personalküche im zweiten Stock könnte er sich ein paar Kekse holen. Eine der Sekretärinnen hatte ihm einen Zettel auf seinen kleinen vollgestellten Schreibtisch gelegt. Anscheinend selbstgebacken. Erich freute sich schon darauf. Das wäre eine nette Abwechslung zu seinem Pausenbrot. Hoffentlich war noch etwas da. Kekse und Kuchen wurden immer sehr schnell gegessen, da musste man sich beeilen. Erich tätschelte sich den Bauch. Ein paar Kekse würde der noch vertragen. Aber eigentlich sollte er ja abspecken.

      Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er eine Gestalt vor der Eingangstür auftauchen sah. Im ersten Moment erschrak er und zuckte zusammen. Dann dachte er sich, dass Marvin sicherlich nur etwas vergessen hätte. Er konnte die Person auf dem Monitor nicht erkennen, also stand er auf und ging in den gut ausgeleuchteten Empfangsbereich.

      Vor der Tür stand ein Mann mit einer Schirmmütze. Sein Gesicht war durch das dicke Glas der Eingangstür nicht zu erkennen. Einen Augenblick später klingelte es und Erich hob am Empfangstresen den Hörer der Türsprechanlage ab.

      „Ja, bitte?“

      Es rauschte leise, dann hörte er eine junge Stimme. „Pizzaservice!“

      Erich runzelte die Stirn. Hatte Marvin sich was bestellt und es dann vergessen? „Ich weiss von keiner Bestellung. Für wen ist die Pizza?“ fragte Erich und griff sich das Mitarbeiterverzeichnis aus einer unteren Schublade des Empfangstresens. Er würde die Angaben damit abklären müssen, Vorschrift.

      Die jugendliche Stimme antwortete leicht genervt: „ Für einen Herrn Schmidt, Fasanenweg 38.“

      Erich grinste und liess das Verzeichnis zurück in die Schublade fallen. „Tut mir leid mein Junge, da bist du hier falsch. Hier ist Fasanenweg 42. Da musst du ein wenig zurück und dann die gekieste Auffahrt hoch. Das gelbe Haus mit den grossen Hecken davor.“

      Der junge Mann vor der Tür winkte, Erich konnte es durch die matte Glasscheibe verschwommen erkennen. „Danke schön. Ciao!“ Sein Umriss verschwand.

      Erich atmete tief durch. Aus irgendeinem Grund waren seine Nerven angespannt. Als ob etwas nicht in Ordnung wäre und er wüsste nicht was. War doch nur ein verirrter Lieferant, kein Grund zur Sorge. Er ging wieder in seinen Überwachungsraum, protokollierte gewissenhaft das Geschehen an der Tür und kontrollierte dann genauestens alle Monitore. Aber das Unwohlsein blieb.

      Kurz nach Mitternacht war Erich hundemüde. Wieder hatten ihn Alpträume gequält, doch diesmal hatte er etwas völlig anderes geträumt als sonst. Für gewöhnlich ging er im Krankenhaus die Flure entlang und suchte seine Frau. Heute Nacht war er ebenfalls Flure entlanggewandert, aber es waren die Flure der Agentur gewesen, die sich scheinbar endlos aneinanderreihten. Erich hatte auch jemanden gesucht, aber nicht gewusst wen. Irgendwann hatte er sich beobachtet gefühlt und einen beklemmenden Druck gespürt, als sässe ihm jemand im Nacken. Er hatte begonnen zum Ausgang zu laufen, aber kam nicht vom Fleck. Und er spürte immer deutlicher, dass jemand da war, der ihm schaden wollte. Dann war er panisch aufgewacht und hatte nach Luft geschnappt.

      Die Decke hatte sich eng um seinen Körper gewickelt und er musste sich strampelnd befreien. Danach hatte Erich nicht mehr einschlafen können. Er freute sich jetzt auf seine Pause. Solange er das Gebäude nicht verliess, konnte er machen, was er wollte. Er würde in der Angestelltenküche auf dem bequemen Stuhl ein wenig dösen. Wenn er sich den Wecker seiner Armbanduhr auf fünf Minuten vor 1 stellte, war er rechtzeitig wieder am Arbeitsplatz. Erich schloss sein Büro ab und ging nach oben. Als er im ersten Stock vorbeikam, hörte er nichts. Eine ganze Weile stand er hinter der Tür und lauschte. Aber es war alles ruhig. Er stapfte weiter nach oben und schloss die Tür der Angestelltenküche hinter sich ab. Es war zwar niemand im Gebäude, aber ihm war unwohl dabei, bei einem Nickerchen ertappt zu werden. In diesem Zimmer und in der danebenliegenden Garderobe gab es keine Kamera. Erich machte es sich bequem.