Orkania

Im Auge der Kamera


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ihm war jemand! Er musste weg! Er rannte und rannte, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Er kam nicht vorwärts, nein, er konnte sich überhaupt nicht mehr rühren! Er spürte, dass ihm irgendetwas umschloss, wie ein unsichtbarer Film legte sich etwas über sein Gesicht und es wurde stickig. Er konnte nicht mehr atmen! Was war hier los? Wer war da? Hilfe!

      Schnaufend und prustend rappelte Erich sich vom Boden hoch. Er war mitsamt dem Stuhl umgefallen. Er stützte die Hände auf den Oberschenkeln auf und atmete tief ein und aus. Seine Knie zitterten. Morgen würde er noch einmal zum Arzt gehen. Gleich nach der Arbeit versuchen, einen Termin zu bekommen. Atmen! Er bekam so schlecht Luft. Erich streckte sich, griff dann den Stuhl und stellte ihn zurück. Er war immer noch müde und benommen, aber sein Herz raste wie nach einem Marathonlauf und er schnaufte und rang um Luft. Eine Tasse Kaffee, nein! besser einen Tee und dann weitermachen. Die Schicht beenden. Zum Arzt gehen. Der Wecker an seiner Armbanduhr piepte laut. Erich zuckte zusammen, fluchte und stellte das Signal aus. Kurz vor 1. Besser, er kochte sich jetzt schnell den Tee und nahm die Tasse mit nach unten.

      Mittwoch

      Erich trat seinen Dienst an und überprüfte die Aufnahmen gründlicher als sonst. Die Schreibtischlampe liess er aus und löschte auch das Deckenlicht. Es war aber kein Lichtreflex auf dem Monitor zu sehen. Er mailte das in einem kurzen Bericht dem Chef. Dann ging er jede Sequenz der Aufnahme wieder und wieder durch. Das Rauschen war immer noch da.

      Und auf jedem dritten Bild des 5-sekündigen Abschnittes sah er eine Person unter dem Rauschen.

      Er würde ja auch glauben, dass es sich um eine alte Aufnahme handelte, die von der neuen überschrieben wurde und durch die Störung nun teilweise sichtbar war. Aber das konnte einfach nicht sein. Die Datei enthielt nur diese eine Aufnahme, nichts anderes.

      Es war zum verrückt werden. Wurde er so sehr von seinen Alpträumen gequält, dass er jetzt schon im Wachen träumte? Er hatte den Artztermin heute verschwitzt, und jetzt tat ihm das leid. Er musste unbedingt wieder einmal ruhig schlafen.

      Daran wird es liegen, dachte er sich. Dann nehme ich halt mal eine Weile Schlaftabletten. Wenn ich nur mal wieder richtig gut durchgeschlafen habe, dann bin ich wieder fit.

      Gegen Dienstschluss liess Erich wie immer das Reinigungspersonal ins Gebäude. Sie kamen in einem weissen Lieferwagen und fuhren direkt zum Tiefgarageneingang. Alles, was Erich tun musste, war das Tor zur Tiefgarage mit dem automatischen Toröffner hinter dem Empfangstresen zu öffnen.

      Doch heute klappte es nicht. Aus dem Lautsprecher der Sprechanlage klang ein tiefer Summton. Erich hob ab. „Was gibt’s denn?“ fragte er mürrisch.

      „Tor geht nicht auf!“ kam die Antwort zurück, untermalt vom Brummen des Motors.

      „Schalt den Motor ab,“ rief Erich gegen den Lärm an. „Ich komme runter und lasse euch rein.“

      Er probierte noch einmal den Türöffner, seufzte dann schwer und stapfte zur Kellertreppe. Das auch noch. Er würde einen Bericht schreiben müssen und das kurz vor Feierabend.

      In der Tiefgarage war es noch stockdunkel. Das wenige graue Morgenlicht wurde von den Lichtschächten geschluckt. Erich schaltete die Beleuchtung ein, aber die Neonröhren flackerten lange, bevor sie endlich etwas Licht spendeten. Er hatte schon halb die Tiefgarage durchquert, als es endlich aufhörte zu flackern.

      „Auch das muss ich in meinem Bericht erwähnen,“ grummelte er, dann hatte er das Tor erreicht. Roswitha, die vorn auf dem Beifahrersitz neben dem Fahrer sass, winkte ihm fröhlich zu. Ein typischer Morgenmensch. Er drückte den Knopf und das Tor ging rasselnd nach oben. Der Lieferwagen fuhr an ihm vorbei und hielt auf einem der Parkplätze neben dem Aufzug. Roswitha hiefte ihren beleibten Körper gerade aus der Tür, als Erich zu ihnen aufschloss.

      „Morgen, Erich!“ verkündete sie lautstark. „Freust du dich schon auf den Feierabend?“

      Erich nickte. „Jetzt muss ich auch noch einen Bericht darüber schreiben, das der Toröffner nicht geht,“ sagte er und sah den drei Reinigungskräften zu, wie sie sich mit ihren Utensilien bewaffneten.

      „Macht ein bisschen schneller!“ quengelte Roswitha. „Hier unten läufts mir eiskalt über den Rücken.“ Sie strebte mit ihrem Putzwägelchen bereits den Aufzug an.

      Erich ging ihr hinterher und drückte auf den Knopf. Jetzt, wo andere Personen im Gebäude waren, konnte er ja auch Aufzug fahren. Da wäre jemand zur Hand, falls er stecken blieb.

      „Du brauchst dich nicht zu fürchten, mit einem ausgebildeten Wachschutz an deiner Seite!“ scherzte Erich und liess der Frau im weissen Kittel galant den Vortritt.

      „Na, du bist mir einer. Ich hab übrigens Muffins gemacht. Soll ich dir nachher einen bringen?“

      Erich nickte. „Immer doch!“

      Er stieg im Erdgeschoss aus und Roswitha drückte den Knopf für die 2. Etage.

      „Putzt du nicht mehr im Ersten?“ fragte Erich verwirrt. Normalerweise putzte Roswitha immer in der ersten Etage.

      „Nein, ich habe getauscht.“

      Die Türen schlossen sich und fuhren weiter nach oben. Erich ging in sein Wachzimmer und überprüfte zum letzten Mal in dieser Schicht alle Monitore. Er konnte sehen, wie Roswitha in der 2. Etage das Wägelchen um die Ecke schob.

      Er war gerade mit dem Bericht über den Türöffner fertig geworden und hatte die merkwürdige Aufnahme wieder vor sich, als es an seine Tür klopfte. Roswitha stand im Türrahmen und schwenkte eine weisse Papiertüte. „Wie versprochen, der Muffin.“

      Sie stellte die Tüte schwungvoll auf den Tisch. „Musst du nicht langsam los? Oder machst du heute Überstunden?“

      Er drehte sich zu Roswitha um und sein alter Drehstuhl quietschte. „Ich bin gerade fertig. Ich glaube, der wird mein Frühstück.“

      Roswitha deutete auf das Bild. „Was ist denn das da gruseliges? Sieht ja aus wie ein Geist.“ Ihr Zeigefinger tippte auf den Bildschirm.

      „Das da? Das treibt mich noch in den Wahnsinn. Angeblich ist da nichts.“ Erich vergrösserte den Bildausschnitt. „Das sieht für mich wie die Umrisse einer Person aus,“ sagte er langsam. „Aber ausser mir sieht da niemand etwas.“

      Roswitha schnaufte und schüttelte den Kopf, dass ihre langen Ohrringe klimperten. „Also da ist ganz eindeutig ein Mann auf dem Bild.“

      Erich starrte sie an. „Rosi, du bist die einzige, die das auch sieht. Sämtliche Techniker und unser Chef sehen da gar nichts.“

      Er wandte sich wieder der Aufnahme zu. Die Vergrösserung hatte die Aufnahme verschwimmen lassen, aber es war eindeutig ein Mann zu sehen. Der graue Schatten eines Mannes, der in dem engen Flur stand. Erich fuhr ein Schauer über den Rücken.

      „Erich, das gefällt mir nicht. Ich hör ja immer auf mein Bauchgefühl und das ist nicht von dieser Welt.“

      Erich prustete los. „Komm schon Rosi, das ist bloss eine defekte Aufnahme. Die Kamera spinnt.“

      Roswitha schüttelte wieder beherzt den Kopf. „Nein, das kannst du mir nicht weiss machen. Das da ist ein Geist. Ich wusste ja gleich, dass hier irgendwas faul ist, ich hab es gespürt. Seit ein paar Tagen schon ist mir hier im Haus ständig mulmig zumute.“ Ihre glatte Stirn runzelte sich und sie kniff die Lippen zusammen. „Ich hab sogar mit Gerda das Stockwerk tauschen müssen und putze jetzt nur noch die 2. In der ersten Etage fühle ich mich beobachtet und kriege kaum noch Luft. Richtig bedrückend ist es da.“

      Erich stand auf. „Geister gibt es nicht.“ Er schob den Gedanken weit von sich. „Die Kamera hat einen Defekt, der ist bloss noch nicht gefunden worden. Vielleicht liegts auch an den Kabeln.“

      Roswitha legte den Kopf in den Nacken und blickte ihm herausfordernd in die Augen: „Du meinst wohl ich spinne, was? Aber weißt du was, letzten Winter, als du so üble Verspannungen im Rücken hattest und ich dir gesagt habe, geh zur Akupunktur, da hast du erst auch nicht auf mich gehört.