Orkania

Im Auge der Kamera


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er in seinem Kopf immer und immer wieder.

      Da ging ein Rucken durch seinen Körper und er rutschte einen Meter über den Boden. Nein! Jemand zog ihn über den Boden. Man hatte seine Füsse gepackt und zog und zerrte ihn voran, auf die Kellertür zu. Dahinter lag das Archiv. Was sollte das? Erich wurde auf einmal klar, dass derjenige, der ihn unerbittlich zur Tür zerrte, ihn auch in die Folie eingewickelt hatte. Es musste der gleiche Kerl sein, der ihn auch verfolgt hatte, vorhin. Ich wache jetzt auf! dachte Erich. Ich will jetzt nicht mehr, ich will jetzt aufwachen.

      Er wurde weiter über den Zementboden gezerrt, der Mann keuchte und atmete schwer. Die Kellertür kam immer näher. Erich wollte sich aus der Folie herauswinden, aber sie sass zu stramm. Aufwachen! schrie etwas in seinem Innern. Der Mann zog ihn durch die Tür und den Gang. Erich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Aufwachen! Scheisse! Wach auf! Erich wusste nicht, was er tun sollte. Der Mann hatte nichts Gutes vor. Er hielt inne und liess Erichs Beine auf den Boden fallen. Dann schloss er eine der hinteren Türen auf. Hier wurden noch einige alte Akten gelagert. Der Raum war voll mit den riesigen uralten Metallaktenschränken, die bei der letzten Renovierung hier hinunter verbannt worden waren.

      Der Mann zerrte Erich hinein und die engen Gänge zwischen den riesigen Schränken entlang. Er zog ihn ganz nach hinten, wo einige leere Schränke und andere nicht gebrauchte Möbel standen. Dort riss er die unterste Schublade eines breiten grauen Metallschrankes auf. Der Schrank war gewaltig, hatte eine enorme Tiefe und war oben mit einem Schloss versehen. Erich ahnte, dass er dort in dieser Schublade verschwinden sollte. Da würde ihn niemand finden. Der Mann wollte ihn für immer loswerden. Er wand sich und wollte um Hilfe schreien, doch der Mann kam ihm zuvor. Er zog einen grossen Plastikmüllsack über Erichs Kopf. Dann hob er erneut dessen Beine an und zog einen zweiten Plastiksack von unten über den ersten. Erich wollte schreien, aber sein Mund brachte keine Geräusche hervor. Er hörte immer wieder das Reissen von Klebeband und spürte, wie es sich langsam um seinen Kopf wickelte. Dann um seine Taille und um die Beine. Ich muss jetzt sofort aufwachen! Befahl er sich.

      Der Mann hiefte ihn stöhnend in die Schublade hinein und er landete mit einem lauten metallischen Getöse darin. Jetzt hatte Erich eine Idee! Er spürte, wie der Mann die Schublade zuschob. Wenn er abschloss, wäre Erich für immer gefangen! Er musste sich jetzt wachmachen. Er würde einfach seinen Kopf auf den Boden schlagen. Das erzeugte hoffentlich ein lautes Geräusch. Davon müsste er ja irgendwann wach werden! Erich hob den Kopf ein paar Zentimeter und warf sich heftig zurück. Es krachte laut. Wach auf! schrie Erich und warf seinen Kopf erneut mit aller Kraft auf den Boden der Schublade. Ein Donnern erklang und die Vibration des Schlages erschütterte ihn. Er richtete sich ein weiteres Mal auf und riss panisch die Augen auf.

      Am liebsten hätte er sich ja krank gemeldet. Aber der Chef hatte ihn sowieso schon im Visier wegen der Geschichte mit der kaputten Kamera. Erich sass schon seit Stunden vor seinen Monitoren und starrte darauf. Seine Augen brannten, so müde war er. Der Traum hatte ihn völlig ausgelaugt. Er durfte aber nicht einschlafen, er konnte doch nicht seinen Job riskieren. Mit angestrengtem Blick beobachtete er das Flackern auf dem Bildschirm. So ein blödes Gerät, dachte er und trank einen Schluck kalten Kaffee. Bloss nicht über den Traum nachdenken. Er war heute noch nicht in der Tiefgarage gewesen. Irgendwann musste er runtergehen, das wusste er. Es war kindisch, sich zu fürchten. Es war doch nur ein Alptraum gewesen.

      Erich ging auf die Toilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann begann er seinen Rundgang direkt in der Tiefgarage. Das ist ja lächerlich. Nur ein paar leere Parkplätze und Kellerabteile voller alter Akten und Gerümpel. „Gerümpel! Nichts weiter!“ sagte er laut und lauschte seinem eigenen Echo. Da war niemand sonst.

      Er war ganz allein. Bei dem Gedanken wurde ihm auch nicht wohler. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Er durchmass mit schnellen Schritten die Tiefgarage und rannte fast wieder zum Treppenhaus zurück. Vor der Tür blieb er stehen und fummelte den grossen Schlüsselbund von seinem Clip am Gürtel. Der Knauf hatte Rostflecken, dort wo die Farbe abgeblättert war. Erich wollte den Schlüssel ins Schloss stecken, aber er fiel ihm aus der Hand und landete mit einem Klirren auf dem Betonboden. Erich bückte sich und griff mit zitternden Fingern danach. Der Boden roch tatsächlich nach Diesel und Dreck.

      Peng! knallte ein lautes Geräusch durch den riesigen leeren Raum und hallte von den Wänden wieder. Erich zuckte zusammen, der Schlüsselbund entglitt ihm. Was war das? Eine Fehlzündung! dachte er und sah sich suchend nach dem Auto um, aber es war natürlich keines da. Er war allein. Scheisse. Er lauschte angestrengt. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Puls flog.

      Peng! Wieder knallte es und Erich erkannte das Geräusch. Das waren die Schubladen des riesigen Metallschrankes, die zugeknallt wurden! Der Schrank aus seinem Traum! Er grapschte nach dem Schlüssel und brach sich dabei durch die Heftigkeit der Bewegung einen Fingernagel am Betonboden ab. Den Schmerz nahm er nicht wahr, als er den richtigen Schlüssel mit fieberhaften Bewegungen suchte, fand und nach einer gefühlten Ewigkeit ins Schloss schob.

      Er brach den Schlüssel fast ab in dem panischen Versuch, das alte schwere Schloss aufzubekommen. Es klemmte. Er warf sich gegen die Tür. Verdammt! Geh auf! Er rüttelte an Schlüssel und Schloss. Dann warf er sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Die Tür sprang auf und Erich fiel fast hindurch. Hektisch warf er die Tür hinter sich ins Schloss. Er rannte die Treppen nach oben und in sein Büro, wo er sich einschloss und mit zitternden Knien auf seinen Bürostuhl sank. Mit bleichen Lippen verfolgte er gebannt die Kameraaufzeichnungen des Kellers und der Tiefgarage. Aber niemand war zu sehen. Es war kein Mensch dort. Auch das Rolltor der Ausfahrt war nicht bewegt worden.

      Erich spürte etwas Klebriges an seinen Fingerspitzen und begutachtete den abgebrochenen Fingernagel und das Blut, dass daran klebte. Was, wenn Rosi recht hatte und es tatsächlich nicht mit rechten Dingen zuging? Er nahm ein Pflaster aus seinem kleinen Notfalltäschchen und pappte es darauf. Dann begann er seinen Schreibtisch aufzuräumen und abzustauben. Er musste nachdenken.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich die Putzkolonne und der sehnsüchtig erwartete Feierabend. Erich hatte die Videoaufnahmen auf seinen privaten USB-Stick gespeichert. Das durfte er eigentlich nicht. Aber er hatte sich fest vorgenommen, dem Phänomen am Wochenende auf den Grund zu gehen. Und dafür brauchte er die Aufnahmen. Er musste ja niemandem erzählen, wie er an sie herangekommen war und woher er sie hatte. Er könnte sie jederzeit löschen. Mit dem Stick in der Hosentasche fuhr er nach Hause. Er hatte das Gefühl, jeder könnte ihm den Datendiebstahl ansehen. Datendiebstahl! Eine kaputte Videoaufnahme, mehr nicht! dachte Erich und schluckte seine Bedenken herunter. Wenn er herausgefunden hatte, was damit nicht in Ordnung war, dann würde er sich auch nicht mehr gruseln. Und dann ginge seine Arbeit wieder ihren gewohnten Gang.

      Freitag

      Zu Hause ging er nicht direkt ins Bett, sondern durchsuchte das Internet. Er informierte sich gründlich. Fast den ganzen Vormittag brauchte er, dann hatte er einiges erfahren und sich eine Telefonnummer notiert.

      An einer renommierten Universität erforschte ein Wissenschaftler das sogenannte weisse Rauschen und die damit verbundenen Phänomene. Erichs mysteriöse Gestalt, die im Rauschen des Bildschirms auftauchte, war wohl kein Einzelfall. Es wurde immer wieder über derartige scheinbar paranormale Phänomene berichtet. So sollte es Aufnahmen von Stimmen geben, die durch das Rauschen hindurch sprachen und Videoaufnahmen von Gestalten geben, die zwischen dem Geflimmer deutlich zu erkennen waren. Dennoch hatte man ihm unmissverständlich gesagt, dass die meisten dieser Aufnahmen lediglich Fälschungen waren. Oft wollten die Macher dieser Filmchen mit ihren Werken nur Aufmerksamkeit erregen. Erich schrieb eine Email und bat um Aufklärung, denn immerhin war ja nicht er der Urheber dieser Aufnahmen. Und Aufmerksamkeit brauchte und wollte er keine. Im Gegenteil, dass er die Aufnahme mitgenommen hatte, sollte besser niemand wissen. Erich wollte nur herausfinden, was dahinter steckte, damit er wieder ruhig schlafen konnte.

      Der Wissenschaftler hätte sicherlich eine Erklärung für Erichs Aufnahme und könnte ihm das ganze Phänomen erklären. Es als Fälschung entlarven. Und dann gäbe es nur noch eins für Erichs Seelenfrieden zu tun: Den Kerl finden, der ihm diesen Streich gespielt hatte und ihm mal gehörig den Kopf waschen. Denn seit den lauten Geräuschen in der Tiefgarage stand für Erich eines fest: Da wollte ihm