Jochen Schmitt

Rolands Lied


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der Suder-Berge. Dort erst erreichten sie die Fernstraße des Salzes nach Osten und Paderborn. Da inzwischen der Abend kam, zogen sie der Bauernschaft am Salzbach zu und schlugen auf dem Dorfanger ihr Lager auf. Ein reiches Dorf, wie das knappe Dutzend aufwändige Häuser und Höfe bewies.

      Im Nu waren sie von der neugierig glotzenden Dorfjugend umringt. Einige ältere Kötter kamen hinzu. Sie zeigten bräunliche Salzklumpen, die Erzeugnisse ihrer Arbeit und ihre Handelsware. An Geld hatten sie kein Interesse. Salz war wertvoller als Silber. Tauschhandel war angesagt. Sie konnten auch reichlich Landprodukte als Proviant anbieten. Nachdem sich der dolmetschende Murabitun vergewissert hatte, dass es in Reichweite einen Pader Born samt einem fränkischen König daran gab, erlaubte Abdallah das Feilschen. Zwei der Maultiere gab er dafür frei. Für den restlichen kurzen Weg reichte eins vor jedem Karren.

      Am folgenden Vormittag entsandte Abdallah seinen Reisemarschall mit den zwei Chassas und den beiden Germanen-Murabitun voraus zum Königshof. Die nahmen mit des Königs Haushofmeier Verbindung auf. Nach eingehender Information führte der sie ohne Umschweife direkt zum König. Der saß neben Markgraf Roland und einigen bereits eingetroffenen Grafen sowie seiner Regierung hemdsärmelig an langer Tafel im kleinen Hofsaal beim Mittagsimbiss. Der König legte seine angeknabberte Hirschkeule aus der Hand. Die anderen folgten artig oder eher aus Neugier seinem Beispiel. Dann erklärte ihnen der Haushofmeier, was die neben ihm stehenden Exoten hierher geführt. Eine Delegation der Maurenherrscher wolle dem mächtigen Frankenkönig ihre Aufwartung machen, ihm deren Respekt und Anerkennung bezeugen. Genaueres wisse man noch nicht.

      Karl machte keine großen Umstände. Sein Hunger ging vor. Er befahl Platz, Wein, Brot, Salz und eine Schüssel Braten für die neuen Gäste. Dann widmete er sich wieder seiner Hirschkeule. In Wirklichkeit ratterte es in seinem Kopf. Die Pause nutzte er, um unauffällig seine Gedanken zu sortieren. Dann, als alle genug hatten, befahl er seinem Lieblingsvasallen Roland, mit einer entsprechend ehrenden Eskorte die Gesandtschaft einzuholen. Sein Hausmeier solle inzwischen einen attraktiven Lagerplatz nahe dem Hofgebäude herrichten. Gut, dass die Grafen und Herzöge des Frankenreiches erst ab kommender Woche eintreffen sollten. Da blieb Raum für einiges Arrangement. Denn der Ort für Karls diesmaliger Reichstag war ein bisher unerlebt abenteuerliches Unternehmen. Improvisation führte die Herrschaft über ihn.

      Karl hatte seine Frankenkrieger vor fünf Jahren auf das Land der Falen und Niedersachsen losgelassen. In einem blutigen und langwierigen Kriegszuge wurden diese niedergerungen, ihre heidnischen Heiligtümer, die Extern Steine und die Irminsul im Namen Christi demoliert, und das Land bis zur Elbe dem Frankenreich einverleibt. Dabei stieß er zufällig persönlich auf das Quellgebiet der Pader. Das seltsame Naturkind hatte ihn für sich eingefangen.

      Was niemand damals verstand: Mitten im heutigen Paderborn endet ein mächtiger Kalksteinrücken. Auf dem liegt etwas weiter nördlich die hügelig flache und ausgedehnte Paderborner Hochebene, das Sintfeld. Vor ihr breitet sich unten jene sumpfige Niederung, in der Abdallah gestrandet war. Jeder Regentropfen, der dort auf die Hochebene fällt, sickert durch den porösen Kalk in die Tiefe. Eine darunter liegende undurchlässige Schicht sammelt die Wasser, und zwingt sie am Fuße der Höhe in zwei getrennten Strömen und einigen Bächen ins Freie. Die Pader, und wenige Kilometer weiter die Lippe, treten schlagartig als fertiger Fluss ins Leben. Allerdings damals in einem Sumpfkessel, einem Urwald von Sträuchern und Bäumen, aus dem hundert Quellen hervorspringen und sich sofort zum Strom vereinten. Die Pader, Deutschlands kürzester Fluss, bringt es nur auf 10 km. Dann stützt sie sich in die Lippe und ist nicht mehr.

      Der mysteriöse Ort war schon anderen aufgefallen. Die fälischen Sachsen verehrten ihn mit der geheimnisvoll darin ins Leben springenden Pader als Wohnsitz der Naturgeister und einen ihrer heiligen Orte. Ein sächsischer Edelmann hatte einen Herrenhof oberhalb der Quellen errichtet, ungefähr da, wo heute der Dom und das Rathaus stehen. Von dort aus regierte er den Stamm der regionalen ostfälischen Sippen am Oberlauf von Pader, Lippe, und der Hochebene darüber. Karl christianisierte die Anlage auf seine Art. Er ließ den widerspenstigen Sachsengrafen erdrosseln. Dessen Familie jagte er fort. Er übernahm die Gebäude als seine persönliche Urlaubs-Datscha.

      Für einen politischen Reichstag nach bisheriger Frankensitte war der Ort höchst ungeeignet. Es gab keine Unterkünfte neben seinem „Reichshof“. Er zwang also die vornehmen fränkischen Würdenträger, die Herzöge, Erzbischöfe, Äbte, Mark- und Gaugrafen, wie in einem Kriegslager in Zelten und Wagenburgen zu biwakieren. Die Tagung musste als Thing im Freien durchgeführt werden. Karl war das als Machtdemonstration gerade recht. Er wollte mit dem ersten Reichstag im niedergeworfenen Sachsenland triumphieren und beeindrucken. Noch war es nicht so weit. Ein großer Teil des Frankenheeres war mit Karl eingetroffen und lagerte sich weit im Umkreis. Die Hälfte der Grafen und Großen des Reiches reiste jedoch mit ihrem Gefolge noch an.

      Erst einmal hatte Abdallah seinen Auftritt. An der Spitze seiner Truppe ritt er neben dem Markgrafen Roland auf den Königshof. Dort empfing sie nur der Hausmeier und wies ihnen ihren Platz zur Seite, und neben dem Haupthaus an. Sie fuhren Ihre Karren zwischen einigen schattigen alten Eichen im Halbkreis zu einer Wagenburg auf. In ihrem Halbrund, angelehnt an die schützende Hauswand, entstand ihr Lager mit ihren Zelten. Der Staatsempfang war für den nächsten Vormittag angesetzt. Das ließ Zeit, sich umzusehen und sich einzugewöhnen.

      Die Mauren staunten nicht schlecht. So schlicht hatten sie sich den Sitz des mächtigsten Herrschers in Europa nicht vorgestellt. Sie waren aus Saragossa mit seinen Palästen und Prunkbauten, sowie der eindrucksvollen alten Römerfestung anderes gewöhnt. Und das war vergleichsweise nur der Sitz eines Gaugrafen! Ein weiterer Schock. Abdallah traute seinen Augen nicht, als sich ihm Roland vorgestellt hatte. Dieser Zwerg sollte der berühmte und gefürchtete große Held der Franken sein? Beinahe wäre ihm ein Kichern entwichen. Mühsam bewahrte er Haltung. Er sah auf den Kleinen hinunter. Scheitelhöhe ca. 160 cm, und die erreichte der Knirps nur in Stiefeln mit einer hohen Plateausohle!

      Erst in den folgenden Tagen kam er dahinter, was diesen Mann auszeichnete. Der trat mit derartig penetranter Überheblichkeit, und ebenso eitel wie wichtigtuerisch auf, dass man ihn leicht unterschätzen konnte. König Karl und Roland, Sohn eines Haushofmeiers König Pippins, wurden gemeinsam erzogen und geschult. Karl schätzte seinen Freund ungemein. Gegensätze ziehen sich an, sagt der Volksmund. Hier war das der Fall. König Karl überragte mit seinen knapp 180 cm seine Würdenträger, die zumeist zu ihm aufblicken mussten. Er zog es immer vor, sitzend zu empfangen. Selbst Roland befand sich dann auf Augenhöhe. Der war zwar klein von Gestalt, aber was ihm an Höhe fehlte besaß er in Breite. Ein unschlagbarer Athlet. Seine Körperkraft, gepaart mit einer unglaublichen Wendigkeit, ließen ihn in jeden Schwertkampf siegen. Ein wacher Geist und hohe Intelligenz machten ihn Karl zum unersetzlichen Ratgeber. Ebenso schätzte er es aber auch, dass seines Freundes Schwächen ihm eine endlose Quelle von vergnüglichem Spott, und auch so manchen freundschaftlichen Scherz erlaubten.

      Am folgenden Vormittag holte der Graf sie ab und führte sie in den Saal des Königshofes. Der war dichtgefüllt mit Hofstaat und Würdenträgern, die, aufgereiht nach Bedeutung und Gewicht, an den drei Wänden standen. Dem Eingang gegenüber saß Karl auf einer Empore, etwa 50 cm höher, auf einem edlen Thronsessel, kostbar in mit Edelsteinen übersäten Brokat gekleidet. Jetzt bot er den Gesandten das königliche Bild des Herrschers des westlichen Europas. Auf seinem Kopf funkelte die Königskrone, in je einer Hand Zepter und Reichsapfel. Das war ein kleiner Kulturschock für die beiden Chassas, die ihn zuvor in Hemdärmeln erlebt hatten.

      Neben Karl saß Königin Hildegard in einem etwas kleineren Sessel. In der Lücke hinter beiden standen ihre Söhne. Pippin der Bucklige, zwar erst sieben Sommer, und ihr Stiefsohn von Karls erster Ehefrau Himiltrud, die längst verstorben. Ihr eigener ältester Sohn, Pippins Stiefbruder Karl, war nur fünf Jahre alt. Aber bei solchen Anlässen wollten und mussten sie dabei sein. Früh übt sich, was einmal ein König werden soll. Das schafften sie beide nicht. Hintereinander starben sie noch vor ihrem Vater, im selben Jahr 811. Ludwig der Fromme, letzter von Königin Himiltruds verbliebenen ehelichen Söhnen, erbte 814 dann das Reich von Karl dem Großen, dem seit 800 vom Papst gekrönter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.

      Ein lautes Raunen erscholl im Rund der Würdenträger. Sogar erstaunte Ausrufe ließen sich nicht mehr unterdrücken! Das Bild war auch zu eindrucksvoll,