Joana Goede

Eine Nacht in Rimini


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      fernbeziehung.

      Um mich her war das pure Chaos ausgebrochen.

      Ich hielt mich selbst mit Mühe aufrecht, stellte mich breitbeinig und dadurch großkotzig mitten in den Gang, schnäutze mich geräuschvoll in ein Papiertaschentuch und pfefferte dieses anschließend mit verdrießlicher Miene aus dem geöffneten Zugfenster, wo es vom Fahrtwind direkt auf Nimmerwiedersehen weggeschlürft wurde. Dieses Verbrechen gegen die ohnehin schon schwer belastete Umwelt wurde von einer neben mir stehenden jungen Dame mit einem Naserümpfen kommentiert. Ich ignorierte das. Die besagte Dame stand etwas unsicher schwankend auf hellblauen Pfennigabsätzen im ratternden Zug und wartete darauf, dass ich ihr Platz machte. Mürrisch ließ ich sie passieren, wobei sie nicht wenig gegen mich stieß bei ihrem Versuch, sich ohne peinliche Berührung an mir vorbeizudrücken.

      In italienischen Regionalbahnen herrscht meistens Chaos. Insbesondere auf der mir wohlbekannten Strecke von Mailand nach Bologna, wo man vor lauter Poltern und Donnern kaum mehr sein eigenes Niesen hören kann. Der Zug erregt keinesfalls den Anschein, als ob er sich als sorgfältig hintereinander gereihte Wagonkette durch die malerische Landschaft schleppen würde. Die Fahrtgeräusche lassen eher auf eine Lok schließen, auf der sich alle Wagons ohne Sinn und Ordnung bis weit hinauf in den Himmel stapeln und so aufeinander herumkratzen, sich gegenseitig einbeulen und die arme alte Lok unter diesem untragbaren Gewicht hilflos ächzt und stöhnt. Das Tohuwabohu wird unaushaltbar, wenn sich dieses bemannte Monstrum in einen der vielen Tunnel hineinquetscht, um an der anderen Seite zusammengematscht wieder herauszudrängen. Wie aus einer bedauernswerten Schrottpresse, die ihren Dienst nicht mehr richtig tut.

      Das alles erträgt der Fahrgast in seit der vorletzten Jahrhundertwende nicht mehr gereinigten Abteilen, zusammengepfercht mit anderen miesgelaunten Reisenden, denen der Ärger und das Leiden von den schweren Jahren tief in die faltigen Gesichter eingraviert worden sind – auf zerschlissenen und zerrissenen Polstern sitzend, sich grämend, nicht mehr Geld für die Fahrt und einen besseren Zug ausgegeben zu haben. Nicht nur, dass die Fahrt dann in einem Viertel der Zeit erledigt gewesen wäre, sondern der Wohlfühlfaktor ist in einem modernen Schnellzug doch wesentlich höher.

      Zusätzlich zu diesen Unerträglichkeiten muss man sich über die niemals eingebaute und daher auch nicht funktionstüchtige Klimaanlage ärgern, zumal draußen noch im September vierzig Grad das Hirn zum Kochen und die Fliegen zum Absturz bringen.

      Dass ich bei dieser nicht nachzuahmenden Reise schwer erkältet war und daher unzählige Taschentücher in die italienische Vegetation schleudernd meine Zeit verbringen musste, als wenn der widerliche Kopfschmerz, der brennende Hals und die vom Niesen taube Nase nicht schon genug Unheil auf einmal wären, kam nicht dadurch zustande, dass ich mich in meinem Erkältungsfieberwahn in einen Flieger Frankfurt-Mailand gesetzt und gedankenlos abgereist war. Ohne zu wissen, wer, warum und wie ich selbst war und wohin ich oder jemand anderes sich soeben bewegte, geschweige denn, was das ganze mit mir oder diesem anderen, den ich nicht zu kennen glaubte, zu tun hatte.

      Im Gegenteil. Ich tat mir diese Reise bewusst und geplant an, immer wieder aufs Neue. Da ich mir im Leben nichts einfach zu machen pflegte, verliebte ich mich nämlich keineswegs in eine Frau aus der Stadt, in der ich wohnte. Auch nicht in eine aus derselben Region, demselben Bundesland oder überhaupt meines Landes – sondern ich verliebte mich in eine Italienerin, die eigentlich Französin ist. Und diese lebte, man wird es sich bereits gedacht haben, in Bologna. So flog ich zweiwöchentlich mit zusammengebissenen Zähnen wegen der beständig ansteigenden Flugpreise und meines sich immerfort leerenden Bankkontos von Frankfurt nach Mailand und reiste anschließend über Land in der widerwärtigsten und billigsten Regionalbahn weiter nach Bologna, um dort nach einer schweißreichen und stinkenden Busfahrt meiner Liebsten in die Arme zu fallen.

      Erkältet hatte ich mich selbstverständlich nicht in der hierzulande üblichen Hitze, sondern im kalten, regnerischen und permanent dunkelgrau bewölkten Deutschland, wo in diesem Jahr wieder einmal der Sommer kaum vom Herbst und der Winter kaum vom Frühling zu unterscheiden war. Seit ich hin und her reiste zwischen Hitze und Kälte, Sonne und Regen, Liebe und Einsamkeit, Herz und Verstand, war ich quasi ununterbrochen erkältet – diesen Wetterwechsel verkraftete mein durch das ständige Reisen geschundener Körper nicht.

      Wir erinnern uns: ich mache mir nichts einfach. Meine Liebste hatte nämlich Flugangst und konnte mich daher nicht selbst besuchen. Unsere ganze Beziehung lastete auf meinen, durch Krankheit geschwächten Schultern und ich sage es gleich: für derartige Belastungen tauge ich nicht. Diese Regine musste mein Untergang sein. Zuerst stahl sie mir mein Herz und meine Seele, anschließend wollte sie mich umbringen, diese ruchlose Mörderin.

      Verzweifelt wartete ich darauf, dass meine Liebe erlosch, damit ich wieder leben konnte und nicht elendig an diesem Gefühl zugrunde ging. Öffnete ich die Tür und fiel meiner Liebsten in die Arme, erhoffte ich mir jedesmal ein nicht wie bescheuert hämmerndes Klopfen im ganzen Körper. Grässliches Adrenalin. Dopamin. Serotonin. Betäubt die Sinne und den Körper. Stumpf glücklich, zufrieden, sorgenfrei. Da grinste ich, lachte, war voll Energie, Lebenslust und auf ätzende Art und Weise fröhlich.

      Leider war es so: lag ich in ihren Armen, vergaß ich die stundenlangen Strapazen, die mich dorthingeführt hatten und die mich wieder von dort entfernen würden. Lag ich nicht in ihren Armen, war mein Leben angefüllt von Schmerz, Übelkeit, Trauer, Todessehnsucht, Angst, Verzweiflung und Depressionen.

      Unaufhörlich warf ich mich ins Chaos des Sammelsuriums aller möglichen Fortbewegungsarten, nur um eineinhalb Tage lieben zu können. Und eineinhalb Tage leben zu können.

      Lohnt sich das? Kann man sich fragen.

      Sollte man sich fragen. Aber da ich krankheits-und liebesbedingt selten einmal bei Verstand war, konnte ich das nicht beantworten. Meiner Ansicht nach blieb mir ja keine Wahl.

      Verloren und mit verblödetem Funkeln in den erschöpften Augen lehnte ich unablässig am Fenster, aus dem ich das Taschentuch und mit ihm den Rest meiner Kraft geworfen hatte. Mir fehlte selbst die Energie, um zurück in das Abteil zu wanken, wo mich ein alter und ein junger Mitreisender erwarteten – womöglich Vater und Sohn oder Onkel und Neffe, wer weiß das schon so genau und wen interessiert das überhaupt. Eine Abteilung in einem Wagon, die sechs Personen fasst, erinnert mich immer zu sehr an das unangenehme Schweigen aufgrund der unausstehlichen Nähe von sich fremden Menschen in einem Fahrstuhl. Längere Zeit darin aufhalten, mag ich mich nicht. Aber die Züge waren eben so veraltet, dass ich um diese Abteile nie herumkam. Gerade als Erkrankter, dem das Fieber ins Gesicht geschrieben steht und der mit jedem Atemzug die übrigen Fahrgäste anstecken will, fühlt man sich in engen Abteilen eher unerwünscht. Der Gang erschien mir als einzige Ausweichmöglichkeit auf der stundenlangen Fahrt, schwitzend und niesend, dabei in leichten Schüttelfrost fallend, war ich dorthin entwichen und klebte nun dort fest.

      Es dauerte nicht lang, bis die stöckelnde Dame sich erneut in meiner umittelbaren Nähe zeigte, mich mit Abscheu beim Vorbeigehen berühren musste und ich ihr ungehalten einen lauten Nieser nachwarf, den sie unter dem Getöse des viehischen Zuges vermutlich nicht einmal hören konnte. Zumindest drehte sie sich nicht mehr nach mir um und kam auch nicht mehr wieder, obwohl ich noch eine gute Stunde am Fenster zubrachte. Nur ab und an schickte ich bange Blicke in das Abteil neben mir, mein Sitz und mein Koffer nur etwa zwei große Schritte entfernt. Aber das stützende Fenster wollte mein schlapper Körper nicht aufgeben, in der Angst, ansonsten mitten im Gang bei einem Hüpfer des Zuges zu fallen und sich dem Gelächter aller Mitreisenden preiszugeben.

      Regionalbahnen sind auf dieser Strecke deshalb derart lahm, weil sie an jeder erdenklichen Mini-Station halten – da gibt es Orte, die bestehen kaum aus dem Ortsschild und dem mickrigen Bahnhofsgebäude. Dieses scheint nichts als eine miese, heruntergekommene, verlassene Hütte mitten im Nichts zu sein. Ein unheimlicher Bretterbau, in dem es allerhöchstens noch spukt. Man fragt sich unweigerlich, sobald der Zug hält, ob denn jemals auch nur eine einzige Person an diesem Ort ein oder ausgestiegen ist – ob Menschen überhaupt hier leben können, in dieser absoluten Einöde.

      Da gibt es ausgetrocknete Flussläufe, die einem richtig Angst machen, der Zug könne an dieser Stelle das Zeitliche