Joana Goede

Eine Nacht in Rimini


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schon vor Jahrzehnten hätten repariert oder ersetzt werden müssen – es wundert mich im übrigen, dass auf meiner Strecke so wenig Unfälle passieren. In der Zeit, in der ich dort hin und her und her und hin gefahren bin, sind wir nur zweimal wegen eines Defekts liegengeblieben und nur einmal musste meine Freundin ewig auf mich warten, weil Schienenersatzbusse aufgrund eines Unfalls von einem anderen Zug eingesetzt wurden – und der Einsatz solcher Busse muss in Italien von langer Hand geplant werden, damit zeitnah damit zu rechnen ist. Bei überraschenden Einsätzen steht man als Fahrgast schon mal mehrere Stunden bis zu einem halben Tag in sengender Hitze und stirbt fast durch die monströse Sonneneinstrahlung und den Flüssigkeitsverlust. Jedes Mal habe ich ein kurzes Dankeswort an den Herrn geschickt, wenn ich heil in Bologna angekommen bin, obwohl ich ja kein Kirchgänger bin – aber schaden wird es nicht. Irgendwem muss man ja danken, das Schicksal selbst ist mir zu unpersönlich.

      Ich stieg wie jedes Mal in Bologna aus dem Zug, warf einen letzten verächtlichen Blick auf ihn in der Überzeugung, niemals mit einem schlimmeren seiner Artgenossen unterwegs gewesen zu sein, dann suchte ich mir einen Sonnenplatz an der Bushaltestelle und wartete auf die in unregelmäßigen Abständen ankommenden heißen, vollen und dementsprechend scheußlichen Busse mit ihren harten Plastiksitzen.

      Eines der Undinge in Bologna ist, dass gerade auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof, der von vielen, vielen Menschen genutzt wird, kaum Schattenplätze zu finden sind. Es ist unmöglich, der prallen Sonne auszuweichen. Unter der kleinen Überdachung der Bushaltestelle drängen sich immer die ganzen Alten, die viel Zeit haben und sich deshalb frühzeitig die besten Stehplätze sichern können. Für Kranke ist da kein Platz. Das ist eine Zweiklassengesellschaft. Überall – und ich betone das noch einmal – überall in Bologna ist Schatten, nur nicht da, wo man eventuell lange, lange warten muss.

      Ich wurde beinahe ohnmächtig. Frierend stand ich, während die Gegend an mir vorbeischwamm wie ein Haufen dickbäuchiger Walfische auf Nahrungssuche. Schwindel warf mich beinahe um, ich glaubte mich einem Hitzeschlag nahe, ohne die Hitze zu spüren. Wo blieb mein Bus?

      Viele Zahlen fuhren in die richtige Richtung. Nach links. Trotzdem hatte ich stets den Eindruck, eben gerade diese Zahlen würden besonders lange brauchen, hätten die ausgeprägtesten Verspätungen und überhaupt – die Hitze machte mein Gehirn immer so matschig. Die richtige Zahl kam nicht. Wahrscheinlich übersah ich häufig die richtige Zahl, wenn sie denn ankam, weil ich nicht mehr in der körperlichen und geistigen Verfassung dazu war, eine 123 von einer 132 zu unterscheiden oder überhaupt Busse beim Näherkommen als Busse zu erkennen.

      Nebelhaft zeigte sich mir meine mörderische Umwelt. Wer kann da einen Kleinwagen von einem Bus trennen, wenn beide in der Einbildung zu geschmolzenen Massen unförmigen Blechs werden müssen? Hauptsache bunt?

      Einmal war ich wahllos in einen solchen Klumpen Metall eingestiegen und irgendwo bei einer Kirche herausgekommen, die ich a) nie zuvor gesehen hatte und b) auch niemals sehen wollte, weil c) zwielichtige Typen mit Hunden und Tauben davor auf Bänken im Schatten von Bäumen hockten und mich aus blutrünstigen Augen anschauten, weil sie mit einem dummen Touristen wie mir in keinem Fall ihre seit Generationen weitervererbte Bank teilen wollten. Die Familie ist ja wichtig in Italien, über Familie geht nichts, schon gar nicht Nächstenliebe für fremde, schweißtriefende, orientierungslose, dem Ableben nahe Hilflose mit chronischem Schnupfen und grässlicher Angst!

      Angst habe ich nämlich seit jeher in Italien gehabt, ganz besonders in Bologna. Tagsüber ist es ja verhältnismäßig normal, die Stadt ist sogar durchaus schön zu nennen. Aber nachts tummeln sich unter den Arkaden kuriose kriminelle Elemente, die tuschelnd in Gruppen Raubzüge planen, Beute aufteilen und, wenn man nicht aufpasst, jeden beliebigen vorübergehenden Ahnungslosen in ihre Planungen als Opfer miteinbeziehen. Musste ich nachts in Bologna eine gewisse Strecke allein zurücklegen, ohne die schützende Hand meiner Freundin Regine, hatte ich stets einen Hunderteuroschein in meiner Brieftasche, um die Diebe nicht unnötig aufgrund des geringen Raubguts zu verärgern. Gebraucht habe ich ihn nie. Das sage ich dazu. Aber mit hatte ich ihn, denn ich bin ein vorausschauender, weiser Mann, der aus dem Fernsehen alle Lehren zieht, die nur eben möglich sind.

      Zurück zu mir mit hochrotem Kopf an der Bushaltestelle, gerade kräftig niesend. Da kam ein Bus, hielt und ich trat vorsichtig heran, als sich die Tür wie ein Höllentor aufschob, und rief in schlechtem Englisch in den schwarzen, unscharfen Schlund: „Wohin fahren Sie?“

      Die aus dem bärtigen Mund des Fahrers, irgendwo aus den Tiefen des Maules herüberschallenden italienischen Worte, denen ich meinte, die entscheidende Station entnehmen zu können, richteten mich auf und drängten mich hinein in das brummende Ungetüm. Dort fiel ich auf einen steinharten Plastiksitz gelber Färbung und durch ein Wunder an der richtigen Station wieder heraus – es wird wohl die mächtige Gewohnheit gewesen sein, die mir diesen Dienst erwies.

      Verschnupft und fiebrig gelangte ich so als menschliches Wrack an die Wohnungstür meiner Freundin in einem dunklen, abgebröckelten, schmalen Bau, fern der Hauptstraße, in einer düsteren Gasse im dritten Stock ohne Balkon. Dort schlug ich dreimal kräftig an die alte Holztür und rief: „Mach auf, mach auf, ich sterbe!“

      Man muss dazu sagen, dass Regine die schönste Frau der Welt war. Sagte ich das bereits? Wahrscheinlich. Zumindest die schönste, mit der ich je geschlafen habe und vermutlich jemals schlafen werde. Denn Regine hatte den vollendeten Körper einer jungen, dunkelhaarigen Französin, zart, feingliedrig und mit den Rundungen an den richtigen Stellen in der richtigen Menge. Die helle Gesichtshaut verfärbte sich bei Aufregung an den Wangen anziehend rötlich, ihre blauen Augen blühten dann und der rote Mund verformte sich zu einem Eingangstor in himmlische Gefielde. Sagte ich das schon? Wahrscheinlich.

      Heute aber war nicht viel mit Himmel. Sie öffnete zwar gewohnt schwungvoll die Tür, riss mich an sich und wollte sich in derselben Bewegung gleich das leichte Kleid vom Körper reißen, hielt jedoch inne, als sie mich anblickte und feststellte, dass ich tatsächlich mehr tot als lebendig bei ihr erschienen war und sie mich mit einer üblich ausgefüllten Nacht vollends in die ewigen Jagdgründe befördert hätte. So zog sie mich besorgt wegen meiner schweren Erkrankung und ungehalten wegen meiner nicht vorhandenen Fähigkeit zum Beischlaf in ihre kleine, enge Wohnung, stieß mich auf das harte Sofa, warf mir eine Wolldecke über den Kopf und verschwand in der Küche, um Tee zu kochen, wie sie sagte. Ich ächzte und verlangte nach diversen Dingen aus der Apotheke, von denen sie mir einige brachte, weil sie die noch da hatte. Durch meine ununterbrochenen Erkältungen war ihr Badezimmerschränkchen gut gefüllt mit der Heilung dienlichen Medikamenten.

      Sie meinte in ihrem akzentdurchfeuerten Deutsch: „Ich weiß gar nicht, warum du dich in den Flieger setzt, in dem Zustand. Du solltest im Bett bleiben.“

      Ich darauf ungehalten: „Mein Bett ist hier, Mademoiselle! Und um dahin zu kommen, muss ich eben Europa durchqueren – Liebe ist heutzutage eben auch global.“

      Sie: „So viel global ist das auch nicht, von Deutschland nach Italien, da kannst du ja fast zu Fuß gehen.“

      Ich: „Dann geh mal schön zu Fuß, das nächste Mal!“

      Sie warf mir an dieser Stelle unseres Dialogs ein Kissen an den Kopf, was furchtbar schmerzte, denn mein Kopf war ein einziges Bündel an überreizten und verkrampften Muskeln, Nerven und nach Atem ringenden Gehirnzellen, denen das Fieber heftig zusetzte. Alles glühte, alles steckte in Brand.

      Ich sagte deshalb kläglich, das Kissen an mich drückend: „Ich verbrenne und erfriere.“

      Sie: „Das ist normal, du hast eben Fieber.“

      Ich: „Unmöglich kann das normal sein! Kein Körper hält das lange aus!“

      Sie: „Zurückfliegen kannst du so zumindest nicht. Ich werde den Flug verschieben.“

      Ich: „Verschieben? Wie, wie, ich muss Montag arbeiten.“

      Sie: „Du kannst nicht mal geradeaus gucken, wie willst du bitte von hier nach Mailand finden und von da aus nach Frankfurt? Ruf Montagmorgen eben einfach deinen Chef an.“

      Ich: „Den kann man nicht einfach anrufen.“

      Sie: „Jeden kann