Joana Goede

Eine Nacht in Rimini


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und tot, also nicht arbeitsfähig. Grauzonen kennt er nicht.“

      Sie: „Er soll sich nicht so anstellen, ihr seid nur eine Druckerei und keine Armee. Wie machen das denn die anderen, wenn sie krank sind? Es kann nicht sein, dass keiner deiner Kollegen jemals krank wird! Jeder kriegt mal Grippe.“

      Ich: „Es gibt keine Krankheiten, die man nicht mit Tabletten unterdrücken könnte. Wovon lebt wohl die Pharmaindustrie hauptsächlich? Von Angestellten, deren Chefs Kranksein nicht dulden, in deren Weltbild Krankheiten einfach nicht existieren, Chefs, die selbst nie krank werden, bis sie eines Tages einen Hirnschlag kriegen oder Prostatakrebs.“

      Sie: „Du bleibst jedenfalls hier und kurierst dich aus.“

      Ich: „Dann verliere ich meinen Job!“

      Sie: „Such dir halt einen anderen.“

      Ich: „Einen anderen?“

      Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und legte beschwörend einen Arm um mich. Vertraulich sprach sie zu mir: „Du, es geht so nicht weiter.“

      Ich seufzte: „Ja, ich, ich, weiß.“

      Sie fuhr nachdrücklich fort: „Entweder musst du deinen Job aufgeben und dir einen suchen, der dir mehr Freiheiten lässt, keine festen Arbeitszeiten oder so – oder wir müssen uns trennen.“

      Erschrocken klammerte ich mich an Regine und schniefte in ihr Haar: „Wenn ich für jemanden sterben würde, dann für dich! Ich würde alles für dich tun, alles!“

      Sie: „Du solltest kündigen.“

      Es war unmöglich, nicht auf Regine zu hören. Sie musste mich nur anschauen und schon war ich von ihrer Meinung überzeugt, glaubte sogar, die Idee sei ursprünglich von mir gewesen. Sie hatte mich vollständig in der Hand.

      Überhaupt war mir ja die Arbeit in der Druckerei lange ein Dorn im Auge gewesen. Viel saß ich in unfassbarer Lautstärke herum, dann musste ich irgendwelche wahnsinnig schweren Kartons in einen alten Lieferwagen laden, der unter dem Gewicht fast zusammenbrach, und das ganze Übel dann zu einem Kunden fahren, um es dort wieder auszuladen. Kein Traumjob. Aber wer hat den schon?

      veränderung.

      Man wird sich denken können, dass wir nicht lange weiterleben konnten, wie wir das in unserer jugendlichen Dümmlichkeit begonnen hatten. Erkältungen sind sicher lästig, jedoch nicht unbedingt ernstzunehmen. Ernst wurde es erst, als ich meinen Job tatsächlich kündigte, sogar bereit war, mein Zelt in Frankfurt abzubrechen und ein neues, gemeinsames mit Regine in Bologna aufzuschlagen – ungeachtet der unwichtigen Tatsache, dass ich noch immer kaum ein Wort Italienisch verstand, es also eher unwahrscheinlich war, dass ich in diesem fremden Land hätte als sprachliche Minderheit überleben können. Mit Regines Kellnergehalt war es selbstverständlich auch nicht weit her, sicher nicht genug für zwei. Obwohl sie aufgrund ihrer auffälligen Schönheit meistens reichlich Trinkgeld kassierte.

      In jedem Fall hatte ich zu meinem Chef gesagt: „Ich liebe eine Frau und ich werde sie heiraten. Leider wohnt sie in Italien. Deshalb muss ich kündigen.“

      Mein Chef hatte bemerkt: „Kündigen können Sie gern, überlegen Sie es sich aber noch mal gründlich mit dem Heiraten. Die wenigsten werden damit auf lange Sicht glücklich. Und wenn Ihre Liebste, wo Sie nicht einmal mit ihr verheiratet sind, Sie jetzt schon am Beginn Ihrer möglicherweise ewig währenden Beziehung zwingt, den Job für Sie aufzugeben, der Sie bislang gut ernährt hat und sich auf lauter Ungewissheiten in einem Land einzulassen, in dem Ihnen eigentlich einen Großteil des Jahres viel zu heiß ist, sollten Sie sich ernstlich die Frage stellen, ob das exakt das ist, was Sie möchten, oder ob man Sie da nicht auf die abscheulichste Art manipuliert.“

      Seine lebenserfahrenen Worte nahm ich mir sehr zu Herzen. Nachdenklich schniefend eilte ich den regnerischen Weg zur Bahnhaltestellte entlang, fuhr stockend in die Richtung meiner trauten, grauen Heimat, wo mich mein Nachbar Ephraim bereits auf einer Bank vor meinem kleinen, mickrigen Häuschen sitzend mit toternster Miene im Nieselregen erwartete und meinte: „Soso, abhauen willst du also. Und deinen alten Freund sich selbst überlassen. Für so ein Weib.“

      Ephraim hatte bereits im Nachbarhaus gelebt, als ich noch ein kleiner Junge gewesen war. Wir hatten eine innige Beziehung entwickelt im Laufe der Jahrzehnte und diese noch weiter ausgebaut, seit ich mein Elternhaus geerbt und nach dem Studium wieder dort eingezogen war. Häufig tranken wir einen guten Scotch zusammen, machten einen kleinen Streifzug durch Ephraims Gewächshäuschen und unterhielten uns über alles Mögliche. Ich wusste nicht genau, wie alt Ephraim war. Womöglich über achtzig. Seine Augen waren so grau wie seine Haut und seine Haare. Ein Stoppelbart zierte sein Gesicht. Er machte auf mich in der Regel den Eindruck eines alten Kapitäns, der das Meer aufgeben und sich einen anderen Lebensmittelpunkt suchen musste. Hier, in einem Randbezirk Frankfurts, hatte er diesen mit seinem Garten und seinem Häuschen gefunden.

      Ich verzog schlechtgelaunt den Mund, nahm neben ihm Platz und gemeinsam betrachteten wir das schlechte Wetter, die entblätterten Bäume und das braune, verwesende Laub auf der Erde, das vom verendenden Herbst und herannahenden Winter zeugte. Mehrfach musste ich seufzen, Ephraim fiel ein und so verbrachten wir eine ganze Weile, jeder für sich grübelnd und über das Leben sinnierend, das für Ephraim schon beinahe sein Ende erreicht hatte, für mich jedoch erstaunlich viel bereit hielt, von dem ich keine Ahnung hatte. Schließlich erklärte ich zögerlich: „Das Problem, mein Freund, das Problem liegt eben in der misslichen Lage, in der ich mich befinde. Ich liebe diese Frau. Wirklich. Nie habe ich jemanden geliebt wie sie.“

      Er grummelte: „Und liebt sie dich denn genug?“

      Ich schnaubte: „Genug, genug. Was soll das schon heißen.“

      Er: „Nun, was ist sie bereit, für dich aufzugeben, wo du schon alles aufgibst?“

      Daraufhin schwieg ich erneut und ließ mich zusehends von den Meinungen der mich umgebenden weisen Männer bekehren. Nicht, dass ich daran gedacht hätte, mich von meiner Liebsten zu trennen, aber dennoch wuchs in mir die Überzeugung, es weiterhin, trotz aller Unannehmlichkeiten, mit einer Fernbeziehung zu versuchen. Fernbeziehungen, manche werden das kennen, bringen reichlich Streitigkeiten und Tränen, Ärger und Stress mit sich – aber ich würde das wohl auf mich nehmen müssen für eine Frau wie Regine.

      Folglich schlüpfte ich am nächsten Wochenende erneut in den besagten Flieger, der des starken Nebels wegen eine Stunde zu spät startete. Das deprimierte mich ungemein, zumal ich aus diesem Grund eine lästige Stunde länger am ungemütlichen Flughafen ausharren und warten musste, obwohl ich mich dort ohnehin so schlecht zu beschäftigen wusste. In der Regel lief ich gelangweilt von Geschäft zu Geschäft, blätterte in Zeitschriften, die ich nicht kaufte. Begaffte teuren Alkohol, den ich mir nicht leisten konnte. Beobachtete fremde Reisende an den Tischen eines Bistros, ohne mit ihnen ins Gespräch kommen zu wollen. Schlug eine herrenlos herumliegende Zeitung auf, überflog die dort dargebotenen Nachrichten und gähnte herzhaft dabei.

      Letztlich verlief der Flug huckelig und ich befand mich gefangen in der Überzeugung, dass ich an diesem Tag ganz gewiss abstürzen müsste, weil ich schon viel zu oft ohne einen solchen Zwischenfall geflogen war. Mit jedem Wochenende, an dem ich zu meiner Freundin reiste, wuchs die Wahrscheinlichkeit zu verunglücken, womöglich bei dem verzweifelten Versuch einer Aufrechterhaltung dieser zum Scheitern verdammten Fernbeziehung umzukommen.

      Dieser Gedanke ängstigte mich zutiefst.

      Jeder ungewöhnliche Laut, den der Billigflieger von sich gab, wurde in meinem Kopf zu einer abbrechenden Tragfläche, zu einem ausfallenden Triebwerk. Die dicke Luft wurde zu den giftigen Gasen des Treibstoffs, die überhöflichen Mienen sämtlicher Stewards und Stewardessen verwandelten sich in besorgte Gesichter, schließlich zu panisch verzerrten Fratzen – es konnte nicht anders sein: wir waren dem Absturz nahe!

      In wenigen Minuten musste das Flugzeug an den Bergkuppen zerschellen, auf die Erde aufschlagen oder in irgendeinem Gewässer versinken – wenn es nicht vorher in der Luft mit einem bombastischen Knall explodierte!