M.E. Lee Jonas

Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 02: Die schwarze Prinzessin


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springt hoch und brüllt ihre ganze Wut, ihre tiefe Verzweiflung heraus. Ein letztes Mal, bevor sie den Anleger der Fähre erreicht. Denn sobald das Mädchen auf die öffentlichen Wege gelangt, muss sie sich so normal wie möglich verhalten. Vielleicht sucht ja bereits die Polizei nach ihr. Pippa wird dieses Mal bestimmt nicht wortlos hinnehmen, dass sie einfach fortgegangen ist.

      J.J. zieht sich ihre große Kapuze tief ins Gesicht und verlässt das unwegsame Gelände.

      »Es tut mir leid, Linus. Du hast dich in mir getäuscht. Ich habe keine reine Seele. Nicht mehr. Ich bin jetzt eine dunkle Hexe! Die alte Smirna aus der Fluchgasse hatte also doch recht: J.J. Smith hat eine dunkle, böse Seele! Ich hoffe, dass Gott mir irgendwann vergibt, dass ich einen Seelenwanderer verflucht habe. Ich kann es jedenfalls nicht. Ich kann mir nicht vergeben.«

      Sie holt tief Luft und reiht sich mit gesenktem Kopf in eine Gruppe Touristen, die ebenfalls auf die Ankunft der Fähre wartet. Ihr Atem geht ruhiger, aber ihr Herz rast wie wild. Auch das hat sich seit den Ereignissen in Havelock geändert. Dieser ständige Zwang sich zu kontrollieren hat J.J. in einen undurchdringlichen Kreislauf aus Angst und Panikattacken geschleudert. Menschenmengen machen ihr Angst. Dunkelheit, laute Stimmen, ein falscher Blick, alles versetzt sie in Panik. Deshalb starrt das Mädchen stur zu Boden, um nicht aus Versehen einen der anderen Passagiere anzusehen. Nachdem sie eilig ihr Ticket bezahlt hat, setzt sie sich auf eine Bank an Deck, obwohl es immer noch stark regnet.

      Während der Fahrt schaut J.J. stur auf das Meer. Nur nach vorn und nicht mehr zurück. Ihre Zeit in Marton ist vorbei. Nun kehrt sie zu ihren Wurzeln zurück. Blut ist eben doch dicker als Wasser.

      Derweil sitzt auf der Südinsel ein ziemlich angespannter Diener in seinem Wagen und wartet auf die Ankunft der nächsten Fähre. Nachdem Zoé gestern Abend vollkommen aufgebracht ins Büro von Mrs. Rogan gestürmt ist und ihr den seltsamen Abschiedsbrief von J.J. zeigte, hat die Direktorin natürlich umgehend in Havelock angerufen. Sie war sich ganz sicher, dass J.J. auf das Anwesen ihrer Großmutter zurückkehren würde, obwohl sie weiß, dass Vettel nicht mehr dort lebt. Aber irgend jemanden musste sie ja informieren. Immerhin steht das Mädchen seit ihrem sechsten Lebensjahr unter ihrer Obhut. Damals musste sie Oma Vettel bei ihrem Leben schwören, dass sie gut auf deren Enkelin aufpassen würde. Und nun ist J.J. einfach verschwunden und deren Großmutter für sie unerreichbar.

      Seit ihrem Anruf ist Broaf außer sich vor Sorge, da er nicht weiß, aus welchem Grund das Mädchen aus dem Internat geflohen ist. Er hat sich sofort in seinen Wagen gesetzt und ist zur Fährstation gefahren. Was sollte der Diener sonst tun?

      Sein Bauchgefühl hat ihm gesagt, dass J.J. wieder nach Havelock zurückkommt. Also hat er direkt vor dem Anleger geparkt, damit sie ihn gleich sehen kann. Aber zwischen den Fahrgästen der letzten zwei Fähren hat er das Mädchen vergebens gesucht. Nun starrt er hoffnungsvoll auf die nächste, die gerade am Ufer andockt. Nervös steigt Broaf aus dem Wagen und hofft, J.J. endlich zu entdecken. Auch er versucht ganz normal zu wirken, als er sich zwischen die anderen Wartenden stellt. Aber der Kummer und die letzten Ereignisse haben auch bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. Er sieht müde und ungewohnt ungepflegt aus. Sein sonst akkurat gekämmtes Haar weht störrisch im rauen Herbstwind und es scheint lange her, dass er seine Schuhe poliert hat. Für Broaf hat sich in den letzten Monaten auch sehr viel verändert. Vielleicht zu viel.

      Der Diener hat eine neue Aufgabe, die sein Leben bestimmt. Er muss sich nun allein um die Bewohner, das Haus und den verzauberten Garten kümmern. Das ist nicht unbedingt aufwendiger als zuvor, aber es kostet ihn viel mehr Kraft. Die Motivation, sich ein neues, eigenes Leben aufzubauen, schwindet täglich. Obwohl er sich wirklich große Mühe gibt, diese Situation zu akzeptieren, kommt er gegen seine Gefühle einfach nicht an. Es scheint, als sei mit Vettels Auszug auch seine gesamte Lebensfreude gegangen. Die einzigen Lichtblicke sind ein paar Worte wöchentlich, die er über den Monitor in seinem Zimmer empfängt. Ein letztes, verzweifeltes Festklammern an der Vergangenheit.

      Ja, Broaf ist einsam. Ein alter, einsamer Bär, der nun keine exzentrische, dunkle Hexe mehr beschützen muss. Aber er beklagt sich nicht, macht einfach weiter. An manchen Abenden schleicht er sich aus dem Haus und geht in den Garten. Dort setzt er sich auf die Blütenschaukel und denkt viele Stunden nach. Über die Vergangenheit mit Vettel und über seine einsame Gegenwart. Der Diener hat sich damit abgefunden, dass die aufregenden, abenteuerlichen Zeiten nun vorbei sind, was ja auch seine guten Seiten hat. Immerhin fallen somit die vielen schlaflosen Nächte weg, in denen er mit Vettel in der Küche sitzen und nach Lösungen für verzwickte Probleme suchen muss.

      »Wer weiß, wofür das alles wieder gut ist«, raunt er leise, als er J.J. endlich unter den Touristen entdeckt. Aufgeregt winkt er ihr zu und versucht dabei zu lächeln, damit sie seine Angst nicht gleich bemerkt.

      Das Mädchen ist nicht sonderlich überrascht, als sie Broaf sieht. Sie wusste, dass er da sein würde. Trotzdem muss sie sich zusammenreißen, als sie ihre Tasche mühsam durch die vielen glücklichen Menschen schleift. Als sie ihn endlich erreicht, löst sich ihr Gefühlschaos. Schluchzend fällt sie dem Diener um den Hals, der sie fest an sich drückt und ebenfalls weint.

      Das ist alles, was dieser Moment zulässt.

      Nach ein paar Minuten blicken sie sich traurig an.

      »Was ist passiert, kleine Prinzessin?«, fragt Broaf leise.

      Seine Stimme ist ungewohnt brüchig und J.J. bemerkt den leichten Geruch nach altem Whiskey, der sich durch den Pfefferminzgeruch seines Kaugummis drängt.

      Sie schluckt und bemüht sich, die richtigen Worte zu finden. Aber es ist alles viel zu schrecklich. Stumm holt sie den zerknüllten Brief des Hexenrates aus ihrer Hosentasche und reicht ihn Broaf. Als der Diener den Absender erkennt, beginnen seine Hände zu zittern. Nachdem er ihn mit weit aufgerissenen Augen gelesen hat, schlägt er erschrocken die Hand vor den Mund und nimmt das Mädchen schützend in den Arm.

      »Diese Bastarde! Keine Angst, wir finden eine Lösung! Das lasse ich nicht zu«, stammelt er zornig.

      Das Mädchen vergräbt ihr Gesicht tief in seiner Jacke und atmet den vertrauten Geruch seines Aftershaves ein. Das beruhigt sie.

      J.J. Smith ist vierzehn Jahre alt und musste schon einige Schicksalsschläge erdulden. Seitdem der Spiegel der Tore sie bei ihrer Geburt als schwarze Prinzessin ankündigte, wird das Mädchen vom Hexenrat gejagt, weil ihr Vater Timothey, ein Magieloser, der die Moral des dunklen Phads verabscheute, sie vor einem Leben als dunkle Hexe bewahren wollte. Als er und ihre Mutter Cassy, eine normale Frau von der Südinsel Neuseelands, bei dem Versuch in den weisen Phad zu fliehen, tödlich verunglückten, entschloss sie sich, niemals ein Leben mit Magie, als Hexe zu führen. Auch wenn das Mädchen damals erst ein Jahr alt war, hat sie dieses Erlebnis für immer geprägt.

      Sie war dabei. Saß im Auto, als die Skulks hinter ihnen herjagten, hörte die entsetzten Schreie ihrer Mutter und spürte den Schlag, als diese Monster sich auf dem Auto niederließen, das sich daraufhin überschlug.

      Als ihre Großmutter sie an ihrem sechsten Geburtstag dann mit einem Vergessenszauber belegte, der ihr nicht nur ihre Erinnerungen nehmen, sondern auch ihre Magie unterdrücken sollte, hofften sie, dass sie ein normales Leben führen könne. Frei von Magie, frei von einer Bestimmung, mit der selbst ihre Großmutter überfordert ist.

      Acht Jahre lang lebte sie in der Sicherheit, ein normales Mädchen zu sein. Es war eine glückliche Zeit, die sie in der Obhut der fröhlichen Hausdame Pippa in einem Internat in Marton verbrachte. Bis sich ihre magische Seite, hervorgerufen durch Gefühle, die sie nicht einordnen oder kontrollieren konnte, wieder nach vorn drängte. Der Vergessenszauber war nicht stark genug, um gegen J.J.s mächtige und dunkle Magie anzukommen. Deshalb beschloss ihre Großmutter, sie wieder zurückzuholen, um sie selbst entscheiden zu lassen, welches Leben sie führen und wo sie leben möchte. Oma Vettel hob den mächtigen Zauber nicht ganz uneigennützig wieder auf und gab dem Mädchen somit ihre Vergangenheit zurück.

      Das ist nun knapp drei Monate her.

      Seitdem ist alles anders. J.J. war dankbar und glücklich, als sie ihre Familie und die Halfies wieder um sich wusste. Das Mädchen ist nämlich sehr stolz auf ihre exzentrische Großmutter, die trotz der