Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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bauen nicht die ganze Evolu­tions­kette am Stück auf, sondern wir modellieren und untersuchen jeweils einzelne Abschnit­te.“

      „Wie sind die Abschnitte denn aufgeteilt?“

      „Der erste und vielleicht schwerste Abschnitt soll die Urknall-Theorie verifizieren, also die Zeit vom Big-Bang bis etwa 400.000 Jahre danach. Das ist genau der Zeitraum, über den wir bisher am wenigsten wissen.“

      „Wenn man darüber nichts weiß, wie will man dann etwas verifizieren?“

      „Das ist eine gute Frage. Diese Aufgabe ist in der Tat eine große Herausforderung für die Wissenschaft. . . . Nun, wie geht man vor in so einem Fall: Man geht von dem Ent­wick­lungsstadium des Universums aus, über das man schon recht viel weiß, und rechnet von da aus rückwärts verschiedene Modelle bis zum postulierten Ursprung durch. Das ist nicht un­möglich, aber schwierig, weil man sehr viele Annahmen treffen muß, und weil es in diesem Anfangsstadium möglicherweise auch noch Zustände oder Reaktionsmuster, etwa die schon erwähnten Anomalien, gege­ben haben könnte, die den uns bekannten physi­ka­lischen oder chemischen Gesetz­mäßig­keiten nicht gehorchten.“

      „Ohje! Das hört sich nach sehr viel Arbeit an! . . . und generiert vermutlich viel Frust!“

      „Viel Arbeit – ja! Aber viel Frust – nein! Dinge zu erforschen, das ist das tägliche Brot, aber auch die Lust der Wis­sen­schaftler. Sie suchen ihre Neugier zu befriedigen. Entstehen dabei neue Erkenntnisse, dann ist das die Krö­nung ihrer Arbeit. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, betrachten sie ihre Arbeit nicht als frustrierend oder erfolglos. Auch der Ausschluß einer der zahlreichen Hypothesen ist ein wichtiger Baustein im großen Puzzle der vielen noch offenen Fragen.“

      „Okay! Akzeptiert!“

      „Gut! Dann machen wir weiter: Der nächste Abschnitt betrifft die Ent­wick­lung unseres Uni­ver­sums beginnend etwa 400.000 Jahre nach dem Urknall bis zur Bildung der ersten Galaxien. Da wird also untersucht, wie die kosmischen Struk­turen entstanden sind, wie sich die ersten Sterne aus dem Einerlei der kos­mischen Ursuppe bildeten und sich anschließend die ersten Galaxien unter dem Einfluß der Schwerkraft for­mierten. Entsprechende Simulationen dazu laufen schon sehr lange, unter anderem in Garching. Da haben Wissenschaftler schon An­fang dieses Jahrtausends damit begonnen, auf einem der größten Superrechner diese Ent­wick­lung zu simulieren. Allerdings bisher nur mit mäßigem Erfolg: Ihre theoretischen Mo­delle hatten beispielsweise sehr viele kleine Galaxien vorausgesagt, die jedoch in der Realität nicht beob­ach­tet werden konnten. Wenn solche Diskrepanzen auftreten, was ganz normal ist, dann muß das Modell mit allen darin getroffenen Annahmen und astrophysikalischen Effekten von Grund auf überprüft und entsprechend korrigiert werden. Das braucht sehr viel Zeit. Dann beginnt ein neuer Durch­lauf. Aber auch der muß nicht erfolgreich sein. In­zwischen hat man sehr viele neue Er­kennt­nisse dabei gewonnen. Aber es wird immer noch weiter daran gearbeitet, weil immer noch einige Fragen offen sind. Das betrifft insbesondere die kalte dunkle Materie. Diese Kraft ist so stark, daß sie das Licht im Weltall um die Ecke biegt und die Ansicht ganzer Galaxien verzerrt. Sie hält unsere Galaxien zusammen, ohne sie würden die Galaxien auseinander­driften wie die Sitze eines Kettenkarussells. Aber wo­raus sie eigentlich besteht, darüber sind sich die Wissenschaftler immer noch nicht einig.“

      „So lange forscht man schon danach und hat noch immer keine Lösung?“

      „Daran könnt ihr ermessen, wie schwierig diese Aufgabe ist. Allerdings darf man auch nicht vergessen, daß die Forschungsgelder leider nicht immer im notwendigen Maße fließen. Daher hat es immer mal wieder Unterbrechungen in den Arbeiten gegeben. Ihr kennt ja den Ausspruch: Ohne Moos nix los! Und wenn es Unterbrechungen gibt, dann wandern auch immer wieder einige Leute ab, was man ihnen nicht verdenken kann, was aber bei einem späteren Fortgang des Projekts zunächst mal Startschwierigkeiten verursacht.“

      „Klar! Bei Mitarbeiterwechsel gibt’s natürlich Verzögerungen.“

      „So ist es. . . . Gut, dann mache ich mal weiter: Ein anderer Simulationsabschnitt ist die schon ange­sprochene physikalisch/chemische Evolution von der Entstehung unserer Erde bis zur Entstehung ersten Lebens. Das war ja auch lange Zeit so ein Streitpunkt: Wie konnte aus toter Materie plötzlich Leben entstehen? Ich erwähnte ja vorhin schon, daß die Biologen in so einem Fall von Emergenz oder Fulguration sprechen, ihr erinnert euch sicher. Diese Arbeiten sind inzwischen sehr weit gediehen. Aber das ist nicht mein Thema.

      Ich arbeite in meinem interdisziplinär besetzen Team an der biologischen Evolution. Dabei beschäftigen wir uns speziell mit der Entstehung von Intelligenz – beziehungs­weise, um korrekt zu sein, mit dem starken Anstieg der Intelligenzleistung beim Homo Sapiens –, weil diese Frage die Menschheit am meisten bewegt und weil genau dort die größten Zweifel an der Evolutionstheorie ansetzen.“

      „Und wie soll das gehen?“ fragte Jiao. „Ich meine, wie muß ich mir das vorstellen mit eurer Simulation?“

      „Wir geben alles Wissen und – wo noch kein fundiertes Wissen existiert – alle Annahmen, die wir dazu bisher getroffen haben, über die Zustände auf der Erde im interessierenden Zeitab­schnitt und Lebensraum der menschlichen Vorfahren in den Computer ein. Das ist so zu sagen ein Teilmodell der Welt. Und mit diesem Teilmodell arbeiten wir. Da gibt es Tau­sen­de von Parametern, die wir einzeln oder gebündelt in der einen oder anderen Richtung verändern können, zum Beispiel unterschiedliche Klimaentwicklungen mit ihren jeweiligen Auswirkun­gen. Der Mensch kann gedanklich nie so viele Möglichkeiten durch­spielen, und schon gar nicht in einer akzeptablen Zeit. Da ist uns der Computer eine große Hilfe. Der rech­net Millionen von unterschiedlichen Kombinationen und Varianten binnen kurzer Zeit durch und zeigt im Ergebnis die Auswirkungen der unterschiedlichen Einflüsse auf das Ge­schehen. Und wir wollen sehen, ob es irgendeine Konstellation gibt, die bei unseren Vor­fah­ren zur verstärkten Ausprägung von Intelligenz führte. Wir gehen dabei von der Entwick­lungsstufe der Affen aus, die ja bereits über eine gewisse Intelligenz verfügten und verfügen. Die waren ja nicht nur doof. Aber was uns eben am meisten interessiert, ist der quasi-sprunghafte Zugewinn an Intelligenz – die Emergenz, das plötzliche Entstehen von etwas Neuem.“

      „Interessant!“ fanden die Kinder.

      „Und gesetzt den Fall, eure Simulation liefert euch ein Ergebnis, wie oder woran erkennt ihr dann die höhere Intelligenz?“ wollte Long wissen.

      „Na, unter anderem daran, wie diese simulierten Lebewesen agieren; also, wenn sie bei­spiels­weise zum ersten Mal zielgerichtet gehandelt haben.“

      „Was zum Beispiel?“

      „Denkt doch einfach mal daran, daß sie irgendwann begannen, Werkzeuge herzustellen und für die Bearbeitung von Holz und Stein zu benutzten, oder Jagdwaffen anzufertigen, um leich­­­ter und schneller Beute machen zu können, oder Feuer zu machen, um Fleisch zu garen“, erläuterte Chan.

      „Ah! Da gibst du mir ein gutes Stichwort“, unterbrach Qiang sie. „Solange man etwas nicht defini­tiv weiß, kann man ja alle möglichen Hypothesen aufstellen. Und gerade für dieses Thema gibt es eine ganze Reihe davon. Eine besagte zum Beispiel, daß das beschleunigte Hirnwachstum auf den Verzehr von Geröstetem, Gegartem beziehungsweise Gekochtem zurückzuführen sei.“

      „Ja, und eine andere These besagt“, unterbrach ihn Chan, „daß mit zunehmend reichhalti­gerer Speisekarte unserer Vorfahren auch deren Gehirn immer größer wurde.“

      „Im Ernst?“ fragte Jiao sichtlich skeptisch. „Ich meine, daß eine ausgewogene Ernährung gut und notwendig für eine gesunde – körperliche und geistige – Entwicklung des Menschen ist, das wissen wir ja schon lange. Aber ich habe noch keinen gesehen, der dadurch ein größeres Gehirn bekommen hätte.“

      „Ich auch nicht“, entgegnete Chan. „Das werden wir auch nicht erleben. Denn so schnell geht das mit der Evolution nicht: Die Entwicklung des Homo sapiens hat immerhin rund zwei Millionen Jahre gedauert! Und doch wissen wir heute nachweislich, wie wichtig bestimmte Stoffe für unser Denkorgan sind, die wir mit der Nahrung aufnehmen, wie beispielsweise die Omega-3-Fettsäuren: Sie wirken unmittelbar auf die Nervenzellen ein. Ein