Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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. . . Er hat mir übrigens auch schon ein Kompliment gemacht.“

      „Hört! Hört!“ raunte Long.

      „Na, nicht was du denkst!“ ereiferte sich Jiao.

      „Und? Was dann?“

      „Er zeigte sich erstaunt, daß ich als Chinesin so eine gute Aussprache des Deutschen habe, und vor allem, daß ich so gut Hochdeutsch spreche, obwohl ich hier in Schwaben lebe. Mit dem Schwäbischen hat er nämlich ein kleines Problem – da versteht er so manches nicht. In Hannover sprechen sie ja hochdeutsch, und der schwäbische Dialekt ist ihm völlig fremd. . . . Ich fand das so nett, als er sagte, er könne sich hier offenbar mit einer Chinesin besser unter­halten als mit seinen eigenen Landsleuten.“

      Allgemeines Schmunzeln.

      „Und . . . ja, genau! Und er war noch viel mehr erstaunt, daß ich das ‚r‘ so gut ausspreche. Er meinte, Chinesen könnten doch eigentlich überhaupt kein ‚r‘ aussprechen. Wieso können wir es dann?“

      „Und? Was hast du ihm geantwortet?“ wollte Jie wissen.

      „Das war jetzt eine Frage an euch“, und dabei schaute sie auf ihre Eltern. „Ich weiß es doch selbst nicht.“

      Qiang und Chan schauten sich an. Und als Chan den fragenden Gesichtsausdruck von Qiang bemerkte, begann sie selbst mit einem Erklärungsversuch: „Richtig ist, daß es im Chinesischen keinen ‚r‘-Laut gibt. Chinesische Kinder hören also von klein auf nie diesen Laut und können ihn somit auch nicht lernen. Umgekehrt können Europäer beispielsweise Wörter nicht mehr nach ihrer Tonhöhe unterscheiden, beziehungsweise messen sie unter­schiedlichen Tonhöhen keine eigene Bedeutung zu. Man muß dazu wissen, daß die Sprach­fähigkeit des Menschen zwar von der Anlage her ein immenses Potential bietet. Was auch not­wendig ist, damit ein neu geborener Mensch sich auf völlig unterschiedliche Gegeben­heiten einstellen und die Laute seiner jeweiligen Muttersprache unterscheiden kann. Aber das Gehirn des Kindes spezialisiert sich dann in der Wachstumsphase auf das Gehörte und erkennt schließlich nur noch Laute der eigenen Sprache. Ein Chinese kann dann eben bei­spielsweise keinen Unter­schied zwischen ‚r‘ und ‚l‘ mehr hören. Es sei denn, er wächst zwei­sprachig auf, so wie ihr. Euch haben wir ja gleich von Anfang an in Chinesisch und in Englisch angesprochen. Des­halb könnt ihr auch das ‚r‘ verstehen und aussprechen.“

      „Aber man kann doch auch in späterem Alter noch Fremdsprachen lernen“, wandte Jiao ein.

      „Das kann man schon. Aber es ist dann schwerer und nie ganz perfekt. Ein Einheimischer wird dann immer heraushören, daß der Betreffende kein native speaker ist. Und bestimmte sprachliche Charakteristika, die dem Betreffenden völlig fremdartig sind, die wird er wohl kaum jemals beherrschen.“

      „Wie kommt das?“

      „Ja, wie schon gesagt: Babys beginnen bereits sehr früh, nämlich schon im Alter von weni­gen Monaten, Sprache zu analysieren – also lange bevor sie selbst zu sprechen beginnen. Wichtig ist dabei der Kontakt zu den Eltern, denn die stellen sich auf ihr Kind ein, wenn sie es an­sprechen, suchen Augenkontakt und erregen dessen Aufmerksamkeit. Babys nehmen die Mimik ihrer Eltern, die Lippenbewegungen, die Aussprache und die Satzmelodie wahr. Daraus können sie bereits ab einem Alter von vier Monaten wichtige Informationen ziehen, die sie fortlaufend vervollständigen. Selbst aus unvollständigen oder fehlerhaften Äußerun­gen ihrer Eltern filtern sich Kleinkinder immer noch die nötigen Informationen, um daraus Regeln zu bilden, die sie dann kreativ anwenden. Kreativ soll heißen: Sie bilden sogar Sätze, die sie nie zuvor gehört haben – und zwar erstaunlich korrekte. Und intuitiv, das heißt, ohne daß sie es explizit gelernt hätten, werden sie bestimmte Fehler nie machen. Zum Beispiel: ‚Trinken Tee ich’ – so etwas würde ein deutscher Dreijähriger niemals sagen. Denn die Satz­stellung ist eine der ersten Regeln, die ein Kind intuitiv lernt.“

      „Eigentlich erstaunlich“, bemerkte Jiao. „Da denkt man immer, die Kleinen kriegen die Ge­sprä­­che der Erwachsenen sowieso noch nicht mit, dabei analysieren die bereits alles und plap­pern es dann irgendwann mit ihren eigenen Worten nach. Darüber habe ich mich eigent­lich schon immer ein bißchen gewundert.“

      „Ja, auch den Inhalt des Gesprochenen erfassen die Kleinen schon recht früh erstaunlich gut“, bestätigte Chan. „Sie haben eine phänomenale Auffassungsgabe in dem Alter. In dieser frü­hen Phase können sie auch leicht zur Mehrsprachigkeit herangebildet werden. Sie erkennen unwill­kürlich, wenn die Eltern von einer Sprache in eine andere wechseln – auch wenn sie nur die Lippenbewegungen sehen. Allerdings nur für eine bestimmte Zeit, etwa acht Monate. Danach können sich nur Kinder, die in zweisprachigen Elternhäusern aufwachsen, diese Fähig­­keit erhalten. Und wenn man sich erst nach dem sechsten Lebensjahr eine neue Sprache aneignen möchte, dann müssen alle Worte und alle Regeln und natürlich auch die Aussprache mühsam gelernt werden.“

      „Die Kleinen, wie du sagst“, bemerkte Qiang, „erfassen nicht nur den Inhalt des Gesprochenen, sondern auch die Körpersprache, die Mimik und damit die Emotionen anderer, also etwa deren Freude und Schmerz, Wohlbehagen und Angst. Etwa ab ihrem zweiten Lebensjahr beginnen sie, diese Emotionen zu deuten. Ist doch erstaunlich, nicht?“

      „Das ist wirklich erstaunlich, ja“, bestätigte Chan. „Aber diese Fähigkeit ist für alle Mitglieder einer sozial höher entwickelten Gemeinschaft eine unabdingbare Voraussetzung fürs Über­leben, weil diese Körpersprache sehr viel über das Gefühlsleben des Gegenübers verrät. Ein typischer Gesichtsausdruck für Angst signalisiert uns beispielsweise blitzartig und ganz ohne Worte, daß wahrscheinlich Gefahr im Verzuge ist, und ermöglicht eine schnelle Reaktion. Das Einfühlungsvermögen in die Gefühlswelt der anderen, unsere Empathie, befähigt uns vor allem auch dazu, emotionale Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Das ist kolossal wichtig für das Leben in der Gruppe, für deren Zusammenhalt schon unsere frühen Vorfahren ge­lernt haben, ständig ihre Bedürfnisse und Befindlichkeiten untereinander abzugleichen. Je stär­ker das Miteinander im sozialen Verband, desto geschlossener und erfolgreicher agiert die Gruppe gegenüber Konkurrenten. Evolutionsbiologen vertreten daher die Auffassung, daß sich die Empathie-Fähigkeit schon vor Jahrmillionen bei den in Gruppen lebenden, höher ent­wickelten Säugetieren mit der Entstehung von Spiegelneuronen herausgebildet hat, und daß diese Fähigkeit dann im Laufe der Evolution zum Vorteil der jeweiligen Spezies wei­ter vervollkommnet wurde.“

      „Apropos Evolution. Wie weit seid ihr eigentlich inzwischen mit eurer Simulation?“ fragte Qiang seine Frau.

      „Wieso Simulation? Was hat das denn mit der Evolution zu tun?“ wollte Long wissen.

      „Ach, hast du das noch gar nicht mitgekriegt?“ fragte Qiang erstaunt. „Die haben doch an der Uni ein Riesenprogramm laufen, mit dem sie die Evolution per Simulation nachbilden wol­len.“

      Long guckte mit großen Augen erst seinen Vater und dann seine Mutter, die ihm bestätigend zunickte, an. „Was? Wie soll das denn funktionieren?“ fragte er ungläubig.

      „Naja, einfach ist diese Aufgabe natürlich nicht“, versuchte Chan zu erklären. „Aber unmög­lich scheint sie auch nicht. Wir wissen ja inzwischen sehr viel über die erd­geschichtliche Ent­wicklung, über Entstehen und Werden von Leben. Wir wissen jedoch noch längst nicht alles. Und insbesondere gibt es immer noch Ungewißheit hinsichtlich einer ganz essentiellen Fra­ge­stellung, nämlich: Sind wir Menschen ein Produkt der Evolution, also ein eher zufälli­ges Ergeb­nis von Versuch und Irrtum? Einer Entwicklung fortgesetzter Anpassungsversuche an die jeweili­gen Gegebenheiten, bei der sich jeweils nur die Anpassungsfähigsten und Stärks­ten durch­gesetzt und ihre Fähigkeiten weitervererbt haben? Oder bedurfte es einer höheren Intelli­genz, die die ganze Entstehung der Welt und die Entwicklung auf der Erde vom Ein­zeller bis zum intelligenten Menschen zielgerichtet gesteuert hat? Das ist ja nach wie vor die grund­legende Streitfrage.“

      „Wenn es nach den Kreationisten ginge, dann wäre die Frage ja schon ganz einfach beant­wortet!“ bemerkte Long grinsend.

      „Nach denen geht es aber nicht!“ entgegnete Jiao sehr resolut. „Diese fundamental bibel­treuen Christen nehmen die alttestamentarischen