Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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stets nach der langsamsten Reizübertragung. In dem erwähnten Drei-Sekunden-Zeitraum faßt unser Gehirn demnach rund 100 Einzel-Wahrnehmungen zur Ge­gen­­wartsdauer zusammen. Und deren Aneinanderreihung schafft den zeitlichen Fluß.“

      „Das ist ja wirklich sehr interessant. Allerdings ist mein Verständnis von Gegenwart deutlich länger als drei Sekunden.“

      „Natürlich! Das geht uns allen so. Für gewöhnlich fassen wir die Gegenwart als längeren Zeitraum unbestimmter Dauer auf, weil uns ja auch die einzelnen Arbeitsschritte des Gehirns gar nicht bewußt sind. Hier kommt wieder unser Zeitgefühl zum Tragen, daß individuell unter­schiedlich und eben auch von unbestimmter Dauer ist, also nicht genau in Sekunden, Minuten oder Stunden angegeben werden kann.“

      „Offenbar, ja! Aber nicht nur das. Mir scheint es – wie schon gesagt – sogar über die Lebens­zeit gesehen stark veränderlich.“

      „Kann ich nur noch mal bestätigen: Das geht uns wohl allen so. Aber die Ursachen dafür sind noch nicht abschließend erforscht. Bisher gibt es lediglich verschiedene Erklärungs­ver­su­che“, erklärte Chan.

      „Ich habe mal so eine Theorie gehört, die besagte, daß man mit zunehmendem Alter die Dauer der verbleibenden Lebens-Restlaufzeit seiner inneren Uhr intuitiv umso stärker spürt, je kürzer diese wird. Und in der Tat haben alte Leute ja häufig eine ganz bestimmte Vorahnung des nahenden Todes. Wenn es sich also wirklich so verhielte, daß wir zumindest unterschwellig ein gewisses Gefühl für die uns verbleibende Lebenszeit hätten, dann wunderte es mich nicht, wenn wir das Empfinden haben, die Zeit würde immer schneller vergehen, je älter wir werden. Hast du auch schon mal so etwas gehört?“

      „Ehrlich gesagt, nein, diese Theorie kenne ich nicht“, mußte Chan die Frage verneinen. „Aber ich könnte mir auch gut einen anderen Grund für die Ursache dieses Zeitgefühls denken.“

      „So? Welchen?“

      „Ja, schau mal, in der Jugend hat man noch nicht so viele Verpflichtungen und Termine und Aufgaben. Da kann man es sich leisten, so ein bißchen in den Tag hineinzuleben, verstehst du? So nach der Devise: ‚Kommst du heute nicht, kommst du morgen‘. So eine Rede­wen­dung gibt es doch im Deutschen, nicht?“

      „Ja schon, aber es gibt auch eine andere: ‚Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen‘.“

      „Das ist gut, daß du das Beispiel anführst“, entgegnete Chan. „Die beiden Aussagen stehen ja offenbar – oder nur scheinbar? – im Widerspruch zueinander. Aber ich denke eben, die jünge­ren Jahr­gänge handeln eher nach der von mir genannten Devise, während die älteren Gene­rationen vornehmlich deinen Leitspruch beherzigen. Und das würde genau die Über­legung bestätigen, die ich gerade versuchte zu erläutern. Während also die Jüngeren ver­gleichs­weise viel Zeit haben, und sie ihnen deshalb scheinbar langsamer vergeht, haben die Älteren oft sehr volle Terminkalender, so daß sie kaum wissen, was sie nun eigentlich als erstes tun sollen. Außerdem sind sie im Alter nicht mehr so fix in der Erledigung ihrer Auf­gaben, brauchen also mehr Zeit dafür als jüngere. Deshalb sind sie fortwährend unter Zeit­druck, das heißt, die Zeit reicht gar nicht aus, alles zu erledigen, was sie sich vorgenommen haben. Für ihr Gefühl ver­geht daher die Zeit zwangs­läufig viel zu schnell. Aber es liegt nicht an der Zeit, sondern an ihnen selbst: Sie haben sich einfach zu viel vorgenommen!“

      „Also Fehlplanung, meinst du?!“ konstatierte Ellen lakonisch. „Aber wie erklärst du es dann, daß fast alle Leute, die ich kenne, denselben Fehler machen?“

      „Es muß nicht unbedingt ein Fehler sein, wenn jemand glaubt, er müßte so viele Dinge tun. Es liegt ja ganz allein in seiner eigenen Entscheidung. Je mehr man sich vornimmt, desto anstrengender wird es – das weiß jeder. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Der eine nimmt sich einfach weniger vor, erlebt dann vielleicht nicht ganz so viel, lebt dafür aber etwas beschaulicher, vielleicht auch intensiver. Der andere will unheimlich viel unternehmen, und dann hat er ständig das Gefühl, die Zeit reicht nicht aus, beziehungsweise sie vergeht zu schnell. Manche helfen sich dann noch ein bißchen mit konse­quen­tem Zeitmanage­ment, um möglichst viel zeitlich unterzubringen, aber es bleibt eben doch ein gewisser Streß.“

      „Hm . . . !“ Ellen seufzte vernehmlich. „Ja, kann schon sein. Klingt auch irgend­wie plausibel. Und wie du schon sagst: Mit zunehmendem Alter ist man ja nicht mehr so leistungsfähig wie in jüngeren Jahren, dann braucht man für die gleichen Dinge wahr­schein­lich sowieso immer ein bißchen länger, also bleibt beim gleichen Pensum weniger Zeit übrig, sie vergeht schein­bar noch schneller. . . . Allerdings, wenn ich’s recht bedenke, kann man doch eigentlich nicht wirklich so generell sagen, daß die Älteren vollere Terminkalender haben als die Jüngeren. Ist es nicht vielmehr so, daß die Rentner im allgemeinen weniger gefordert sind, also mehr Zeit haben? Und wenn das tatsächlich so wäre, dann spräche das doch eher für Langeweile als für Zeitdruck. Und das wiederum hieße, die Zeit verliefe für ihr Empfinden sehr langsam, oder?“

      „Nun, ja! Es gibt immer solche und solche: Die einen sind ständig aktiv, die anderen nicht.“

      „Aber alle haben doch das gleiche Gefühl, denke ich, daß nämlich mit zunehmendem Alter ihre Zeit immer schneller vergeht.“

      „Vielleicht stimmt ja mit ihrem Gefühl etwas nicht“, sagte Chan lachend, „um es mal mit Loriot zu sagen. Aber Spaß beiseite. Fakt ist, daß diese Zusammenhänge noch nicht abschließend geklärt sind. Die Hirnforscher gehen davon aus, daß es im Gehirn jedenfalls keine speziellen Zellen oder gar ein Organ für die Zeitwahrnehmung gibt, die eine Messung des Zeitablaufs für die Einschätzung der Verlaufsdauer eines objekti­ven Vor­gangs vornehmen, sondern daß das Maß der geistigen Tätigkeiten, die aus der Beschäftigung während des Vorgangs resul­tie­ren, unser Zeitgefühl bestimmt: Und zwar in der Weise, daß eine hohe geistige Tätigkeit uns die Vorstellung von einer längeren Zeit­dauer vermittelt und umgekehrt.“

      „Aber steht das nicht im Widerspruch zu dem, was du gerade vorher erklärt hast, daß näm­lich die Zeit gerade schneller zu vergehen scheint, wenn man sehr vielbeschäftigt und also auch geistig sehr rege tätig ist?“

      „Es hat auf den ersten Blick den Anschein, ja. Und ich bin mir selbst nicht ganz sicher, ob ich diese Auffassung so teilen kann. Auf jeden Fall denke ich, wir müssen hier differenzieren zwischen dem aktuellen Zeitempfinden während eines aktiv erlebten Vorgangs und der Erinne­rung an Erlebnisse aus der Rückschau-Perspektive. Im ersten Fall bist du mit etwas beschäftigt, das du in einer bestimmten Zeit erledigen willst oder mußt. Dafür reicht dir oft die vorgesehene oder vorgegebene Zeit nicht – du hast das Gefühl, sie ist einfach zu schnell ver­gangen. Aus der Rückschau hingegen sieht die Sache anders aus: Wenn du auf sehr viele Erlebnisse, Unternehmungen, geistige Tätigkeiten zurückschauen kannst, dann hast du das Gefühl, du hättest damals sehr viel mehr Zeit gehabt.“

      „Das leuchtet mir ein.“

      „Nun kommt noch ein anderer Effekt hinzu, der bereits durch viele Versuche mit Tieren und Menschen faktisch belegt ist: Die Beschäftigung mit für uns neuen Eindrücken und Dingen erfordert nachweislich mehr geistige Tätigkeit als mit solchen, die uns schon bekannt sind. Und mehr geistige Tätigkeit bedeutet nach Ansicht der Hirnforscher, wie erwähnt, die Vor­stellung, daß der Vorgang längere Zeit andauert – und im Umkehrschluß, daß bekannte Vorgänge weniger Zeit beanspruchen. Damit begründen sie die Vorstellung, daß für ältere Menschen, die aufgrund ihrer längeren Lebenserfahrung im Vergleich zu jüngeren ja viel weni­ger mit neuen Eindrücken konfrontiert werden, die Vorgänge schneller verlaufen – eben weil ihnen die meisten schon bekannt sind.“

      „Aha, ja. . . . Das wäre wohl auch eine Erklärung dafür, daß wir bei Reisen zum Beispiel das Gefühl haben, die Rückfahrt habe kürzer gedauert als die Hinfahrt, weil uns auf dem Rück­weg alles schon bekannt erscheint und weniger Aufmerksamkeit mit Denkprozessen erfor­dert?!“

      „Das wäre eine Erklärung, ja. Jedenfalls erscheint das sehr plausibel. Aber ich hadere immer noch mit der Vorstellung, daß eine hohe geistige Tätigkeit das Gefühl einer längeren Zeit­dauer vermitteln soll. Das Gegenteil scheint