Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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das hängt sicher zu einem ganz wesentlichen Teil mit unserem hervorragenden Bildungs- und Gesell­schafts­system zusammen, davon bin ich felsenfest überzeugt. Gott sei Dank wird ja der Aus- und Weiterbildung inzwischen endlich die ihr gebührende sehr hohe Priorität eingeräumt. Lange genug hat es wahrlich gedauert, bis unsere Politiker nicht mehr nur in Talk-Shows und schönen Sonntagsreden darüber fabulierten, sondern endlich mal was in die Tat umgesetzt haben!“

      Qiang und Chan schauten sie fragend an.

      „Ja, das ist richtig“, pflichtete Klaus ihr sofort bei. „Wenn ich bedenke, wie das noch zu meiner Schulzeit aussah und wieviel Mühe es – über Jahrzehnte! – gekostet hat, den jetzi­gen Zustand zu erreichen, dann können wir uns wirklich glücklich schätzen, daß wir über­haupt so weit gekommen sind. Also ich hatte, ehrlich gesagt, schon nicht mehr daran ge­glaubt. Und ich bin mir ziemlich sicher, die Deutschen allein – ohne die EU – wären noch längst nicht soweit, sie würden sich immer noch um Kaisers Bart streiten.“

      „Wie meinst du das?“ wollte Chan wissen.

      „Ach weißt du, das ist so eine Redewendung bei uns“, erklärte Klaus, „wenn sich die Leute um Nebensächlichkeiten streiten, anstatt sich um das Wichtige zu kümmern. Ich will damit sagen, es gab sehr viele Selbst-Berufene aller möglichen Couleur, die sich in schönen Sonntags­­reden darüber ausließen, wie wichtig eine gute Bildung für unsere Zukunftschancen sei und daß man deshalb jedes einzelne Kind optimal fördern müsse, aber in der Praxis änderte sich leider nur wenig bis nichts. Es wurden zwar hier und da mal einige Versuche in die eine oder andere Rich­tung unternommen, es blieb dann allerdings meistens beim Experimentieren. Neue Kon­zep­te wurden nicht umgesetzt, weil man sich schon über die konkreten Vorschläge nicht eini­gen konnte. Statt dessen wurden hitzige Debatten über das bessere System und die Bezahl­barkeit geführt. Kaum hatte einer einen Verbesse­rungs­vorschlag gemacht, dann meldeten sich auch sogleich etliche Bedenkenträger und Besser­wisser zu Worte und erklärten, daß der Vor­schlag aus diesen und jenen Gründen nichts tauge und daß sie ihn deshalb auf gar keinen Fall mittragen könnten. Es gab teils heftige gegen­seitige Beschuldigungen zwischen Pädago­gen, Schülern, Eltern, Kultus­beamten, Poli­ti­kern und Medien wegen fehlender Bereitstellung der not­wendigen Finanz­mittel durch die Politiker, wegen Ignoranz und falscher Prioritäten­setzung der Kultus­beamten, wegen man­geln­der Fähigkeiten der Pädagogen, wegen desinteressierter, unerzo­gen­er und gewalt­bereiter Kinder, wegen Erziehungsversäumnissen der Eltern, und so weiter. Der ‚Schwarze Peter’ wurde immer im Kreis herumgereicht. Es war eine endlose, zum Teil äußerst klein­karierte und in der Summe völlig unfruchtbare Streiterei. Genauso die Par­teien: Keine Seite gönnte der anderen einen Erfolg, indem sie ihr auch mal zugestand, einen brauchbaren Vor­schlag gemacht zu haben, und dessen Umsetzung dann auch zu unter­stüt­zen. Nein, aus reiner Prinzipien­reiterei oder Parteitaktik wurde dann lieber gar nichts unter­nom­men, und alles blieb in dem allseits beklagten Zustand.“

      „Ja, leider viel zu lange“, hakte Ellen ein. „Für mich völlig unverständlich ist vor allem, daß ins­­be­sondere die Kultusminister, deren ureigene Aufgabe es ja gerade war, für das best­mög­liche Schulsystem zu sorgen, daß ausgerechnet die so lange die von vielen Fachleuten empfohlenen Systemverbesserungen ignorierten und penetrant ihr altes, längst überholtes mehrglie­driges Schulsystem, in dem die Schüler bereits nach der vierten Klasse auf unter­schiedliche Schularten – Hauptschule, Realschule, Gymnasium – verteilt wurden, verteidig­ten. Schon nach der vierten Klasse! Da kann man doch noch gar nicht richtig beurteilen, was wirklich in einem Kind drinsteckt! Vor allem die sogenannten Spätent­wickler wurden auf die­se Weise ihrer Chancen beraubt. Aber die Selektion war unerbittlich, und die in die Haupt­schulen Abge­schobenen ahnten sehr bald, daß ihre Berufsaussichten mehr als hoffnungslos waren. Die natür­liche Folge: Frust und Resignation in steigendem Maße, geringes Selbst­wert­gefühl und zunehmende Empfänglichkeit für ‚Heilsbotschaften’, Ab­rut­schen in Gauner- und Verbrecher­kreise, erhöhte Gewaltbereitschaft, steigende Belastung für die Gesellschaft – eine unheilvolle Spirale in das Verderben. Das ist aber leider noch nicht das Ende der Story. Denn daneben gab es nämlich sogar noch eine Reihe von Sonderschulen, in die die Lernbehinderten und Langsamlerner, aber auch die Störer, die Aggressiven, die Armen, die Vernachlässigten und Migranten geschickt wurden. Anfang dieses Jahrtausends saß bereits jeder zwanzigste Schü­ler in Deutschland in einer Sonderschule – mit steigender Tendenz! Und von denen schafften durchschnittlich nur etwa 20 Prozent einen Schulabschluß. Daran sieht man doch, daß mit diesem Schulsystem etwas nicht stimmen kann! Denn wenn die Regelschulen einen wirklich guten Unterricht böten, dann wären die Sonderschulen völlig überflüssig, und selbst das Haupt­schulniveau wäre nicht nötig. In anderen europäischen Ländern gab es genügend Bei­spiele für bessere Schulsysteme, was durch die vergleichen­den PISA-Studien immer wieder bestätigt wurde. Aber in Deutschland lernte man nicht daraus, oder jedenfalls viel zu spät und zu langsam. Und selbst als Deutschland von der UN eine ‚Politik der Absonderung’ attestiert wurde, scherte das die Kultusminister in keiner Weise. Im Gegenteil, mit einem gerüttelt Maß an Arroganz unterstellten sie dem zuständigen UN-Inspektor, keine Ahnung vom ‚hervor­ragen­den deutschen Bildungswesen’ zu haben.“

      Das war nun genau das Stichwort, auf das Klaus schon lange gewartet hatte, um seinen zuvor von Ellen unterbrochenen Redefluß wiederaufnehmen zu können und nahtlos mit seiner Schimpf­kanonade fortzusetzen:

      „Und das war ja nicht nur in der Schulpolitik so. Überall wurde blockiert. Es fehlte schlicht und einfach der Wille zu einer Einigung! Das war ganz evident! Unsere Politiker handelten nicht mehr im Interesse und zum Wohle Deutschlands, wozu sie eigentlich verpflichtet waren, son­dern nur noch taktiererisch im Sinne ihrer Partei und für sich selbst! Wichtige gesellschaftliche Themen, die dringend einer Entschei­dung bedurft hätten, dümpelten in Form von durch stän­dige Wiederholungen abgedroschenen Sprechblasen und leeren Wort­hülsen plan- und ziellos bis zum Überdruß durch den Raum und verschwanden schließlich wieder, ohne daß sich auch nur das Geringste im Sinne einer Problemlösung getan hätte. Nein, nein! Es war schlicht deprimierend, diese krasse Diskrepanz zwischen vorgetäuschter Aktivität, die sich lediglich in verbalen Scheingefechten und eitler Selbst­darstellung erschöpf­te, einerseits und Lethargie bis zur Ohnmacht im Han­deln andererseits mit ansehen zu müssen. Es ist traurig, aber wahr: Die ganze politische Klasse in Deutschland hat seinerzeit völlig versagt!“

      Ellen versuchte durch Handzeichen, mäßigend auf ihren Mann einzuwirken, und sagte, den Wangs zugewandt, entschuldigend: „Bei dem Thema kann er sich immer so richtig in Rage reden.“

      „Darüber kann man sich ja auch aufregen!“ entrüstete Klaus sich, deutlich lauter werdend. „Nein, darüber muß man sich sogar aufregen! So etwas ist völlig inakzeptabel! Wenn wir in der Wirtschaft so agieren würden wie die Politiker in der ‚Deutschland AG‘, dann wären die Unter­nehmen längst pleite!“

      „Dabei war es ziemlich egal, welche Partei gerade an der Regierung war“, ergänzte Ellen. „Deshalb haben wir uns bei jeder Wahl mit unserer Entscheidung, wen wir eigentlich wählen sollten, immer wieder sehr schwer getan.“

      „Und wir haben ja dauernd Wahlen“, ergänzte Klaus und zählte auf: „Eine Wahl zum euro­päischen Parla­ment, eine Bundestagswahl, sechzehn Landtagswahlen und dann noch die Gemein­de­rats­wahlen! Jede Partei möchte natürlich gewinnen, was ja verständlich ist. Aber daß deswegen überhaupt nichts mehr voran geht, nur noch Stillstand herrscht und Lähmung sich wie Mehl­tau über das ganze Land ausbreitet, das ist für mich völlig unverständlich, ja, das ist sogar in höchstem Maße skandalös! Da muß ich mich einfach aufregen! . . . Ja, und dann immer noch dieses Kleinstaaterei-Denken“, echauffierte sich Klaus weiter, „das die Leute ein­fach nicht aus den Köpfen kriegen – bis heute nicht! Jeder kleine Landesfürst ist eben ein Fürst, und er verteidigt seine angestammten landeshoheitlichen Rechte, wie zum Beispiel auch die Kulturhoheit – und damit komme ich mal wieder auf unser Thema zurück –, mit Zähnen und Klauen. Stellt euch das mal vor: In jedem noch so kleinen Bundesland hatten sie ihre eigenen Lehrpläne und Schulbücher. Wenn du da von einem Bundesland in ein anderes umziehen wolltest oder mußtest – und von uns wurde Mobilität