Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Mienen anderer antrainiert. Aber das richtige Verständnis dafür fehlte ihm noch.

      Qiang hatte sich zu ihnen gesetzt und eine Weile zugehört. Er beteiligte sich auch an der Dis­kussion, denn das Thema war ihm sehr wichtig, arbeitete er doch ständig an der Perfek­tio­nierung seiner Roboter. Und gerade diese Thematik – Bewußtsein, Emotionen – beschäf­tigte ihn besonders intensiv. Aber eigentlich, fiel ihm irgendwann ein, wollte er ja einen Rundgang in der Firma machen, und so verabschiedete er sich schließlich von seinen Mit­arbeitern und ging weiter zur Fertigungs­halle.

      Dort begrüßte er den Aufsicht habenden Ingenieur, den einzigen Menschen in der ganzen Halle: „Guten Tag, Herr Wolter. Wie geht es Ihnen?“ Seine Mitarbeiter sprach er grund­sätz­lich alle per Sie an.

      „Guten Tag, Herr Wang“, antwortete dieser. „Danke der Nachfrage. Mir geht es gut. Hab’ auch nicht viel zu tun heute; die Roboter machen einen guten Job.“

      „Ja, das hoffe ich doch“, erwiderte Qiang. „Und Sie werden auch bald wieder ordentlich zu tun be­kommen. Es stehen einige Neuerungen an, und die müssen sehr schnell umgesetzt werden. Das dauert allerdings noch ein Weilchen. Also genießen Sie die Ruhe noch solange, damit Sie dann mit frischen Kräften drangehen können.“

      „Mache ich gerne. Aber ich freue mich auch schon auf Ihre Neuerungen. Eine interessante Ab­wechslung ist immer willkommen.“

      „Wir haben viel vor, Sie werden sehen. Es wird fast einen Quantensprung geben. Und ich möchte, daß Sie dabei in einem der beiden Teams mitwirken und Ihr fertigungstechnisches Know-how einbringen.“

      „Ja selbstverständlich, gerne! Sie machen mich schon richtig neugierig.“

      „Naja, etwas Geduld noch. Wir reden bald konkreter darüber.“

      „Okay!“

      „So, und hier läuft alles rund?“ Er schaute in die Halle.

      Dort herrschte reges „Leben“: Zahlreiche Roboter standen an Fließbändern und montierten neue Roboter. Andere schafften unent­wegt neue Baugruppen und Montageteile herbei, die größtenteils im „Additive Manufacturing“-Verfahren mit 3D-Druckern auf der Basis von mit ComputerAidedDesign-Programmen erstellten Konstruktionsdateien hergestellt wurden. Die Roboter reproduzierten sich somit gewissermaßen selbst. Sie arbeiteten rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Pausen brauchten sie nicht. Nur ihre Akkus muß­ten von Zeit zu Zeit ausge­tauscht und wieder aufgeladen werden. Aber auch da­bei halfen sie sich gegenseitig, brauchten keine menschliche Unterstützung. Sie funktionier­ten so perfekt, daß es selbst einer Aufsichtsperson nicht bedurft hätte. Aber Qiang wollte trotzdem wenigstens tagsüber nicht darauf verzichten. Und Herr Wolter war ja auch nicht nur zur Aufsicht da. Es mußten immer mal wieder neue Programme eingegeben und Maschinen für neue Arbeits­vorgänge von neuem eingerichtet werden. Sämtliche Arbeits­vorgänge, die mit der Produktion zu tun hatten, gehörten zu seinem Job. Er hatte auch sicherzustellen, daß eine gleichbleibend gute Qualität der Produkte gewährleistet wurde.

      Nachdem sich Qiang mit ihm eine Weile unterhalten hatte, ging er weiter zum Trainings­zentrum, einem Gebäude mit verschiedenen, für unterschiedliche Schulungs- und Trainings­zwecke aus­ge­statteten Räumen. Dort wurden die neuen Roboter auf die für ihre künftigen Einsatz­zwecke und Aufgaben erforderlichen Fähigkeiten getrimmt. Aus der Produktion ka­men sie lediglich mit bestimmten Basisfähigkeiten, die ihnen per Computerprogramm vermit­telt worden waren. Das war gewissermaßen ihre „Erbanlage“, alles Weitere mußten sie ler­nen wie ein neugebo­renes Kind. Allerdings ging dies bei ihnen sehr viel schneller als bei einem heranwachsenden Kind. Sie brauchten nicht zu schlafen, sie brauchten keine Pausen. Sie wurden tagelang, wenn nötig auch wochenlang, rund um die Uhr trainiert. Dazu gab es bei­spielsweise Räume, in denen sie audiovisuell mit diversen simulierten Situationen sowohl aus dem alltäg­lichen Leben als auch aus ihrem künftigen Einsatzumfeld konfrontiert wurden. Ein Robot-Teacher gab jeweils zusätzliche Erklärungen, Verhaltensregeln, Gut-Schlecht-Be­wer­tungen und ande­res mehr. Anschließend mußten sie diese Situationen selber nach­spielen und beweisen, daß sie ihre Lektion, das „richtige“ Verhalten, gelernt hatten. In einem anderen Raum machten sie – wieder unter Anleitung eines Robot-Teachers – allerlei sport­liche Übungen, um die Koordina­tion und Sicherheit ihrer Bewegungsabläufe zu vervoll­komm­nen. In wieder anderen Räumen wurde ihnen jede Menge speziell aufbereitetes Fakten-Wissen „eingebläut“, das sie wie mit einem „Nürnberger Trichter“ förmlich in sich rein saugten. Und was sie hierbei gegenüber Men­schen besonders auszeichnete, war die Tat­sache, daß sie das, was sie hier einmal einge­spei­chert hatten, später auch nicht mehr ver­gaßen. Dieses Wissen hatten sie für alle Zeit ständig parat. Nur das richtige Anwenden dieses Wissens mußte intensiv trainiert und wiederholt geprüft werden, denn das richtige Einordnen der Ereignisse und Vorgänge in den jeweiligen Gesamtkontext bereitete ihnen immer mal wieder Schwierigkeiten.

      Auch hier gab es einen menschlichen „Supervisor“, Herrn Grünschnabel. Der Mann war nicht so grün, wie sein Name hätte vermuten lassen können; ganz im Gegenteil, der Mann war ein exzellenter Psychologe und Neuroinformatiker. Er hatte die Lernprogramme alle selbst ent­wickelt und beobachtete nun fortlaufend ihre Wirksamkeit und die damit erzielten Erfolge. Jedesmal, wenn ihm etwas mißfiel oder auch nur suboptimal erschien, griff er spontan korri­gie­rend in das Ablaufgeschehen ein, wies seine Robot-Teacher zu entsprechend anderen Ver­haltens­­weisen an und änderte daraufhin seine Lernprogramme. So lernte auch er selbst stän­dig hinzu und optimierte seine Roboter-Lernprogramme Schritt für Schritt.

      Vor einiger Zeit war er bei Qiang damit vorstellig geworden, seine Lernstrategien und Unter­su­chungs­­ergebnisse in einem Buch veröffentlichen zu wollen. Generell spräche nichts da­gegen, hatte Qiang ihm geantwortet. Er erwarte aber, daß der Inhalt vor einer Veröffent­lichung mit ihm abgestimmt werden müsse, denn es ging immerhin um wichtiges Firmen-Know-how. Alle für die Firma erarbeiteten Ergebnisse waren schließlich deren Eigentum, deshalb war eine Publi­zie­rung ohne seine Zustimmung nicht erlaubt.

      „Guten Tag, Herr Grünschnabel“, begrüßte Qiang ihn, als er seinen Raum betrat.

      „Ach, Herr Wang, grüß Gott!“ schreckte dieser von seinem Platz hoch. Er war offenbar gerade sehr in seine Studien vertieft gewesen. An seiner Wand hingen verschiedene Flach­bild­schir­me, auf denen das Geschehen jedes Übungsraumes dargestellt wurde. Hier saß Herr Grün­schna­bel oft stundenlang und beobachtete alles sehr genau.

      „Was machen Ihre Studien? Kommen Sie gut voran? Auch mit Ihrem Buch?“ wollte Qiang wissen.

      „Ja, ja, ich komme voran“, antwortete dieser, immer noch nachdenklich. „Aber das Schreiben ist doch etwas schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Gesprochen ist alles ziemlich schnell, aber wenn man es schreiben soll, dann müht man sich manchmal elend lange mit einzelnen Formulierungen herum. Das kostet viel Zeit – Zeit, die man anderweitig auch inte­ressanter oder jedenfalls angenehmer ausfüllen könnte. Und so erwische ich mich selber manchmal bei der Fragestellung, ob ich nicht die ganze Schreiberei wieder aufgeben sollte. Der ‚innere Schweinehund‘, wissen Sie?“

      „Ja, das verstehe ich“, bestätigte ihm Qiang. „Das Schreiben liegt nicht jedem, mir zum Beispiel auch nicht. Ich bin mehr ein Praktiker, wissen Sie? Ich habe Visionen und Ideen, aber ich will sie nicht beschreiben. Ich will sie umsetzen! Da halte ich es ganz mit ihrem klugen Lands­mann Johann Wolfgang von Goethe, der wohl für so ziemlich jede Situation einen passen­den Spruch parat hatte. Und in diesem Kontext beziehe ich mich auf seinen Aus­spruch:

      ‚Es ist nicht genug zu wissen, man muß es auch anwenden;

       es ist nicht genug zu wollen, man muß es auch tun‘.

      Trifft doch den Nagel auf den Kopf, oder?“

      „Ich bin begeistert, Herr Wang, wie Sie sich selbst in der deutschen Literatur auskennen“, ent­gegnete Herr Grünschnabel fast ehrfurchtsvoll. „Ja, wenn ich auch nur ein bißchen von Goethes Talent zum Schreiben hätte, dann wäre mein Buch schon fertig“, fügte er wehmütig hinzu.

      „Kopf