Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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aus­gezeichnetes Hilfs­mit­tel, um das Chi zu verstärken. Außerdem verbessern sie die Atemluft, indem sie die schäd­lichen Umweltgifte, die beispielsweise in Klebstoffen, Holz­schutz­mitteln und Kunst­stof­fen ent­hal­ten sind, vernichten. Deshalb waren mehrere große Pflanzenkübel im Raum ver­teilt, vor­zugs­weise an Stellen, an denen das Chi nur spärlich vorhanden war und angerei­chert werden sollte, also ins­besondere in den Ecken. Dabei handelte es sich vor allem um Philo­­dendren und Drachenbäume, aber auch andere, bunt blühende Grünpflanzen, jedoch immer solche mit run­den Blättern, da Pflanzen mit spitzen, lanzettförmigen Blättern ‚schnei­den­des Chi‘ aussenden und somit schädigend wirken könnten.

      Die Ausgestaltung des Raumes war ganz wesentlich von Chan beeinflußt worden, die mit viel Liebe zum Detail und Gespür für Schönheit und schlichte Eleganz dafür gesorgt hatte, daß die­ser Raum auf jeden, der ihn betrat, sogleich eine Atmosphäre des Wohlgefühls, der Har­mo­­nie und Behaglichkeit ausstrahlte.

      Qiang machte sich ein paar Notizen, studierte seinen Terminkalender und gab noch ver­schiedene Anweisungen an seinen Sekretär, dann trafen auch schon seine Vorstands­kol­le­gen ein. Es war ein kleines, international besetztes Team, bestehend aus der Deutschen Susanne Krämer, zuständig für Finanzen und Controlling, der Britin Deborah Brown, zustän­dig für Marketing and Sales, dem Niederländer Lothar van Steben, zuständig für das opera­tive Geschäft, das heißt für Entwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung, der Französin Sandrine Marchal, zustän­dig für alle juristischen, administrativen und personellen Angele­gen­heiten, sowie ihm selbst, dem Chef, einem Chinesen. Qiang schätzte die Effektivität kleiner Führungsteams und flacher Hierarchien. Und die hohe Effizienz ihres Wirkens war der unbe­strittenen Kompetenz der von ihm mit gutem Gespür ausgewählten Personen zu verdanken. Auch die vergleichsweise starke Repräsentanz von Frauen in seinem Team war mit Bedacht von ihm so gewählt, denn es war ihm hinreichend bekannt, daß gemischte Teams aus Männern und Frauen bessere Ideen entwickeln als gleichgeschlechtliche Gruppen – einfach schon deshalb, weil sie sich in ihren Fähigkeiten hervorragend ergänzen. Die sogenannten weib­lichen Qualifikationen wie Team- und Dialogfähigkeit, emotionale Intel­li­genz und Organi­sationstalent sind in den von Männern dominierten Hierarchien frühe­rer Zeiten meist zu kurz gekommen, häufig genug zum Nachteil der Unternehmen in Form von schlechtem Betriebs­klima bis hin zu Frustration und dadurch bedingter Arbeits­unlust, man­gelnder Bereitschaft zur Teamarbeit, häufigen „Hahnenkämpfen“ zwischen Kon­kur­renten auf der Karriereleiter und anderen negativen Begleiterscheinungen – letztlich resul­tierend in ge­rin­gerer Rentabilität und geringerem Profit. Das alles war Qiang sehr bewußt, und deshalb legte er so einen gestei­gerten Wert auf gemischte Teams, auf Team­arbeit generell und auf interdisziplinäre und inter­nationale Zusammensetzung seiner Teams.

      Natürlich können solche Stellenbesetzungen unter Umständen andere Probleme auf­werfen, die entsprechend beachtet und gegebenenfalls behutsam gelöst werden müssen. So war im Team von Qiang beispielsweise die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Kommunikations­re­geln sowie der unterschiedlichen Glaubens- und Wertorientie­rungen, insbesondere zwischen der chinesischen und der westeuropäischen Kultur, für die interkulturelle Kommuni­kation von im­men­ser Bedeutung für das Funktionieren einer guten, effektiven und effizienten Zusam­men­­arbeit.

      Es hatte in der Anfangszeit immer mal wieder das eine oder andere Verständigungsproblem gegeben, was niemanden wirklich verwunderte, weil keiner von ihnen die unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Interaktionsmuster per se beherrschte. Theoretisch hat­ten sich sicher alle vorher schon einmal mit dieser Problematik auseinandergesetzt, man lebte ja schließlich in einer „globalisierten“ Welt, aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich in der Literatur etwas anliest oder in der Praxis anwenden muß. Während Qiang durch seine frühen Auslandsaufenthalte mit der westlichen Kultur schon vergleichsweise gut ver­traut schien, hatten seine – durch die Bank noch relativ jungen – europäischen Kollegen vorher wenig direk­te Berührung mit der chinesischen Kultur. Lediglich Deborah, die schon einige Zeit in Shang­hai gelebt und an der renommierten China Europe International Business School ihren Master of Business Administration gemacht hatte, beherrschte die chinesische Sprache hinreichend gut. Aber selbst innerhalb des westlichen Kulturraumes gab es ja trotz aller Ähnlichkeiten und Vereinheitlichungs­bemühungen immer noch nennenswerte Unter­schiede, die in den einzelnen Regionen sogar ausdrücklich gepflegt wurden. Nicht jeder verstand beispielsweise den trocke­nen und häufig derben englischen Humor. Und nicht jeder kam mit der übertriebenen Gründ­lich­keit der Deutschen zurecht. So mußten sie alle erst lernen, den anderen wirklich richtig zu verstehen, und zwar im täglichen Umgang mitein­ander – learning by doing, nannten sie das. So ein Lern­prozeß brauchte naturgemäß einige Zeit. Aber Qiang hatte von Anfang an nachdrück­lich dafür gesorgt und vorbildhaft vorgelebt – und damit hat er diesen Lern­prozeß ganz sicher auch beschleunigt –, daß in seiner Firma eine offene, ver­trauens­volle, sehr kollegiale Atmos­phä­re herrschte, in der der Team­orien­tierung und der Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie ein sehr hoher Stellenwert beige­messen wurde. Mißverständnisse und Fehler wurden offen angesprochen, aber nicht kritisiert, sondern gemeinsam ausgeräumt. Konfrontierende Äuße­run­gen sollten unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb war er stets bemüht, eine harmonische Gesprächs­atmosphäre zu schaffen, die einen aggressiven Gesprächsstil, wie er im Westen des öfteren gepflegt wurde, gar nicht erst aufkommen ließ.

      Da man sich inzwischen seit der Firmen­gründung vor etwa fünf Jahren kannte und erfolg­reich zusammenarbeitete, hatte jeder eine hinreichend starke Sensibilisierung für die unter­schied­lichen kulturellen Prägungen und damit auch das notwendige Verständnis für die ver­schie­de­nen Kommunikations- und Verhaltensweisen der anderen erworben, um kulturelle Re­gel­ver­let­zungen zu vermeiden. Die europäischen Kollegen hatten mit der Zeit auch ge­lernt, „zwischen den Zeilen zu lesen“, das heißt, nichtverbale Mitteilungen, im situativen Kon­text verborgene Informationen, „verschlüsselte“ Botschaften wahr­zunehmen und zu ent­schlüs­seln. Das war notwendig für sie, um ihren Chef richtig zu verstehen. Denn obwohl Qiang stets sehr bemüht war, seine Interaktionsweise derjenigen seiner europäischen Kolle­gen anzupassen, passierte es ihm unwillkürlich doch immer mal wieder, sich in Andeutungen auszudrücken und seinen Zuhörern zu überlassen, das Unausgesprochene selbst zu inter­pretieren. Seine tiefe Verwurzelung in der chinesischen Kultur und Tradition ließ sich eben nicht so ohne weiteres ablegen, vielmehr prägte sie sein Denken und Handeln ganz selbst­verständlich und automatisch. Für ihn war es Routine. Er hatte von klein auf ein feines sensorisches Gespür entwickelt und gelernt, Andeu­tun­gen, Unausgesprochenes und ver­schlüsselte Botschaften wahr­zunehmen und zu inter­pre­tie­ren. Und gewöhnlich pflegte er, sich selbst normalerweise in der gleichen Weise auszu­drücken. Die Zuhörer mußten deshalb nicht nur darauf achten, was er sagte, vielmehr mußten sie gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen, mußten also versuchen zu interpretieren, was er wohl tatsächlich gemeint haben könnte. Wenn er sich allerdings im Gespräch einem ver­dutzten oder verständnislos blickenden Gesicht gegenüber sah, dann erinnerte er sich aber immer gleich wieder und erläuterte bereitwillig seine Ausführungen.

      Dem „Gesicht“ im Sinne der Gesichtswahrung wird im chinesischen Sozialverhalten übri­gens eine ganz besondere Bedeutung, ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, und ent­sprech­end schwer wiegt ein „Gesichtsverlust“, zum Beispiel als Folge von Verstößen gegen die von der Gesellschaft als verbindlich erachteten Werte und Normen oder auch nur von uner­füll­ten Erwartungen an seine Person. So ein Gesichtsverlust führt bei den Betroffenen in aller Regel zu großer Verlegenheit oder Schamgefühl und stört damit die nach Konfuzius gelten­den Prin­zi­pien für die zwischen­menschlichen Beziehungen, die vor allem der Her­stellung und Erhal­tung der sozialen Harmonie dienen sollen. Deshalb achten die Chinesen beim Reden wie im Handeln sehr darauf, niemanden leichtfertig zu beschä­men, sondern bemühen sich vielmehr, ihnen „Gesicht zu geben“.

      Die europäischen Kollegen hatten damit in der Regel ein Problem, denn ihr ganzes Reden und Handeln ist traditionell viel stärker durch selbstbewußtes, intellektuelle Überlegenheit aus­strah­lendes Auftreten und durch eine gelegentlich sehr aggressive, unerbittlich fordernde Rhe­to­rik geprägt. Sie konfrontieren