Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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und wollte es kaum glauben, daß hier schon vor über drei Jahrzehnten die Stadtplaner und Landschafts­archi­tekten offenbar Hand in Hand mit Industrie, Handwerk und Handel sowie Naturschutz­verbänden und interessierten Bürgern weit vorausschauend auf die ökono­mischen und die öko­logischen Belange zukünf­tiger Generationen ein ganz­heitliches Konzept entwickelt und damit eine Meister­leistung in Sachen Lebensqualität abgeliefert haben, das einen an paradie­sische Zustände denken ließ.

      Der Erwerb des Grundstücks, das Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie alle damit ver­bundenen behördlichen Vorgänge waren erstaunlich unbürokratisch und unkompliziert ab­­ge­­laufen, so daß Qiang sofort mit der Umsetzung seines Bauprojektes beginnen konnte.

      Bei der Bauplanung hatte er sich ganz nach der Jahrtausende alten chinesischen Tradition des ‚Feng-Shui‘ gerichtet, denn, obgleich er sich selbst nicht für abergläubisch hielt, orientier­te er sich bei seinem Denken und Handeln doch immer wieder an den von alters her über­lieferten Gebräuchen und Regeln seiner Heimat. Er konnte es rational nicht begründen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, mit der ihm vertrauten Tradition im Einklang stehen zu müs­sen, um sich wirklich wohl fühlen und gut schlafen zu können.

      Alles schien wunderbar gelungen, denn die Jahre, die Qiang dort mit seiner Familie bisher ver­bracht hatte, waren voller Glück, beruflicher Erfolge und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine bessere Bestätigung für seine Überzeugung konnte er gar nicht bekommen.

      Inzwischen war er zu Hause angekommen. Die Toreinfahrt und das Garagentor öffneten sich automatisch, so daß er ohne Halt einfahren konnte. Danach schlossen sich die Tore wieder. Nachdem er das Fahrzeug abgestellt hatte, zeigte sein Bord-Display die gefahrenen Kilo­meter und die dafür erforderlichen Straßenbenutzungsgebühren mit der Bitte um Kenntnis­nahme und Bestätigung an. Qiang sah keinen Grund, zu widersprechen. Also drückte er auf die Bestäti­gungs­­­taste, wonach der angezeigte Betrag automatisch von seinem Konto abge­bucht wurde.

      In der Garage wurde er schon von Robby erwartet, der ihm seine Tasche und seine Jacke ab­nahm, um sie ins Haus zu tragen. „Hallo Robby“, sagte er, „ist alles okay hier?“

      „Guten Abend, Qiang“, antwortete Robby höflich. „Ja, das Entspannungsbad ist angerichtet, das Essen ist für 19.30 Uhr vorbereitet. Chan ist noch in einem Seminar, sie wird gegen 19.00 Uhr hier sein. Long, Jiao und Jie sitzen an ihren Computern und bereiten sich auf die nächs­ten Prüfungen vor.“

      „Prima, dann nehme ich jetzt als erstes mein Bad, anschließend mache ich noch eine halbe Stunde Qi Gong, und dann bin ich genau zum Essen fertig“, freute sich Qiang. Er war zirka 1,85 Meter groß und von sportlich-schlanker Figur. Mit seinem pech-schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, einem ver­gleichs­­­weise schma­len Gesicht, aus dem eine sehr scharf geschnittene, schma­le Nase herausragte, und seiner sehr glatten Haut machte er – rein äußerlich betrachtet – einen sehr jungenhaften Eindruck, während sein selbstbewußtes und vornehmes Auftreten sowie seine ausgesprochen höflichen Um­gangs­­formen einen wahren Gentleman zeigten.

      Als es halb acht geworden war, kam Qiang frisch gestärkt und gutgelaunt aus seinem Medi­ta­tions­­raum, wo ihm die Qi Gong-Übungen, eine seit etwa 6.000 Jahren in China praktizierte Körperübung in Form be­stimm­ter Bewegung, Atmung und meditativer Konzentration, zu seinem offenkundig wunderbaren Zustand völ­li­ger innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit verholfen hatten.

      Im Wohnzimmer be­grüßte er Chan, seine Frau. Ihr Name bedeutet so viel wie „schön“, „anmutig“. Und in der Tat war sie eine bildschöne Frau, machte ihrem Namen alle Ehre. Besonders ihre wunderschön geform­ten Mandelaugen mit den lan­gen Wimpern schienen ihrem ausgesprochen hübschen Gesicht den letzten Schliff zur Vollkommenheit zu geben. Sie hatte schulterlange, pech-schwarze Haare, die sie üblicherweise an den Seiten zurückgekämmt und am Hinter­kopf zusammengesteckt trug. Sie war etwa 1,75 Meter groß und wie ihr Mann von sportlich-schlanker Figur. Auch sie hatte heute einen außergewöhnlich langen Tag an der Uni Ulm, wo sie als Dozentin für Neuroinformatik tätig war, hinter sich, denn normalerweise dauer­te ihr Arbeits­tag höchstens bis etwa 16 Uhr.

      Sie tauschten kurz ihre Tageserlebnisse aus und riefen dann die Kin­der herein, die sich nach Beendigung ihrer Computerarbeiten gerade noch im Garten ein wenig in der traditionellen chinesischen Kunst der Selbstverteidigung – Tai Chi Chuan, auch be­­kannt als Schattenboxen – übten.

      Mit Ausnahme von Long, der sich in beiden Stilrichtungen – neben Tai Chi auch in Kung Fu – übte, interessierten sich die drei Kinder insbesondere für das Tai Chi Chuan (Chuan heißt Faust), mit dem sie täglich Körper und Geist trainierten – anfangs vor allem Ausdauer und Körperbeherrschung, im fort­geschrit­tenen Stadium stärker die innere Konzentration und Ausgewogenheit der Bewegun­gen beto­nend. Mit zunehmender Beherrschung der üblicherweise im Zeitlupentempo aus­geführten Be­we­gungen übten sie sich auch sehr gerne und ausgiebig im schnellen und effizienten Ab­lauf die­ser Übungen in simulierter Kampfhandlung.

      Nachdem sie sich gewaschen hatten, kamen sie lebhaft diskutierend ins Wohnzimmer und um­arm­ten ihre Eltern zur Begrüßung – drei sehr aufgeweckte und hübsche Kinder.

      „Das wird aber auch Zeit, daß ihr endlich da seid“, sagte Long mit leicht vorwurfsvoll klingen­dem Ausdruck, „wir haben schon einen riesigen Hunger.“

      Long, der Älteste, war 14 Jahre alt, von drahtiger, sportlich durchtrainierter Gestalt und fast schon so groß wie sein Vater. Geistig war er, wie seine Eltern, technisch-wissenschaftlich orien­­tiert. So hatte er sich schon früh für deren Arbeit, die Robotertechnik und die Neuro­infor­matik, interessiert. Es faszinierte ihn der Gedanke, eines Tages künstliche Menschen zu schaffen, die den natürlichen eben­bürtig oder sogar überlegen sein würden. Er betrachtete es als die Herausforderung schlecht­hin und war begierig, sie anzunehmen.

      Seine Schwester, Jiao – die „Bezaubernde“, „Liebenswerte“, war zwei Jahre jünger als er. Ein sehr aufgewecktes, beredtes Mädel. Sie inte­ressierte sich – einer ausgeprägten weiblichen Neugier folgend – ganz allgemein für den Lauf der Welt in seiner Gesamtheit, also für alles, was so auf der Welt in der Ver­gan­gen­heit pas­sier­te und in der Zukunft passieren könnte, die Geschehnisse und ihre Entwicklung. Weil dies ein sehr weites Feld war, pflegte sie ein Zeit­fenster herausgehobenen Interesses ein­zugren­zen: Die neuzeitliche Historie der letzten 200 Jahre und die Vorausschau auf die zukünf­tigen zwan­zig, dreißig Jahre. Sie wußte noch nicht, wie sie sich beruflich orientieren würde, ob sie sich eher der Historie oder vielleicht doch lieber der Zukunfts­forschung widmen sollte. Jedenfalls be­schäf­tigte sie sich für ihr Alter erstaunlich intensiv mit den historischen Abläufen wie auch mit den publizierten Zukunfts­prognosen, und dabei speziell mit den evidenten oder schein­baren Zusammen­hängen, kon­sumierte sehr viel einschlägige Literatur und debattierte gern auch im Familien­kreis darüber.

      Der Jüngste, Jie, interessierte sich – ungeachtet seines Alters von gerade mal zehn Jahren – bereits sehr für Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen, aber auch für Philosophie, Physik und vieles mehr. Und er nutzte gern jede sich bietende Gelegenheit, mit anderen über Gott und die Welt zu diskutieren. Aber gerade weil er so vielseitig interessiert war, hatte er noch keine konkrete Vor­stellung, was er später einmal studieren würde.

      Alle Drei gehörten in ihrer jeweiligen Jahrgangsstufe zu den besten Schülern. Sie waren viel­sei­tig interessiert, lernbegierig, fleißig, und doch nicht streberhaft. Ihre schnelle Auf­fassungs­ga­be erleichterte ihnen das Lernen. Und die vielen angeregten Unterhaltungen im Familien­kreis zu diversen Themenkomplexen haben ihre vielseitigen Interessen geweckt.

      Sie waren von ihren Eltern entsprechend der kulturellen Tradition der Chinesen im Sinne der konfuzianischen Soziallehre erzogen worden. Das bedeutet Ehrerbietung, Pflichtgefühl und un­be­dingten Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern, Anerkennung der Autorität der Eltern wie der älteren Generation generell gegenüber der jüngeren. Strenge Hierarchie, klar definierte Rollen, Rechte und Pflichten sind in der Soziallehre des Konfuzius die Grund­pfeiler, die letzt­lich alle der obersten Maxime, der Herstellung