Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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mit anderen Kulturen. Sie waren ge­wis­sermaßen Wanderer zwischen den Welten, kannten die eine wie die andere. Unab­hängig davon hatten sich in den letzten Jahrzehnten, eben auch im Zuge der Globali­sierung und der damit ver­bundenen zahlreichen inter­kulturellen Kontakte, nach und nach bestimmte Gepflogenheiten in der geschäftlichen Kommu­nikation und Interaktion heraus­kristallisiert, die im internationa­len Business inzwischen praktisch zum Standard geworden waren. Qiang und Chan waren bestens vertraut damit, und diese Einflüsse waren natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. So war es nicht verwunderlich, daß sie die alten konfuzianischen Regeln nicht allzu streng handhabten. Nichtsdestotrotz standen sie zu ihrer eigenen Tradition mit ihren Werten, wollten diese auf keinen Fall verleugnen. Sie such­ten das eine mit dem anderen bestmöglich zu verbinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie.

      Draußen war es inzwischen fast stockdunkel geworden, und sie begaben sich in das Eßzim­mer. Hier war es taghell, als schiene direkt im Zimmer die Sonne.

      Das Prinzip der Glühlampen, wie es einstmals von Thomas Edinson entwickelt worden war, hatte längst ausgedient. Das Wort „Lampe“ war schon fast ganz aus der Mode gekommen, jetzt sprach man nur noch von „Licht“. Man beherrschte inzwischen die Technik bis zu den sehr hohen Frequenzen im sichtbaren Bereich. Und so lag es nahe, das Tageslicht in die Woh­nung zu holen. Dazu hatte man in jedem Raum eine winzige, praktisch nicht sichtbare An­tenne an der Decke, die elektro­magnetische Wellen im sichtbaren Frequenzbereich ab­strahl­te, deren Eigenschaften über eine elektronische Regelung vorgegeben werden konn­ten.

      „Ach, das ist mir jetzt aber zu ungemütlich“, sagte Chan gleich beim Eintreten. „Ich möchte es nicht so grell haben. Wie seht ihr das?“

      „Natürlich, wie du wünschst mein Schatz. Schaffen wir eine angenehmere Atmosphäre“, ant­wor­tete Qiang spontan und sprach dann ein Kommando in den Raum: „Licht wärmer!“

      Die Lichtfarbe änderte sich langsam und kontinuierlich von weiß zu gelb oder, wie man auch sagte, von kaltem zu warmem Licht.

      „Stopp!“ sagte Chan, als sie das Gefühl hatte, daß jetzt ein angenehmer Warmton erreicht war. Und augenblicklich wurde der Einstellvorgang beendet. „Ist es euch auch so recht?“ fragte sie die anderen Familienmitglieder.

      „Ja, ist okay!“ kam es vielstimmig.

      „Vielleicht doch noch eine Idee dunkler?“ fragte Chan nochmal nach.

      „Von mir aus“, kam es wieder vielstimmig.

      „Licht dimmen!“ kommandierte Chan, und die Lichtintensität nahm langsam und gleichmäßig ab. „Stopp!“ rief sie wieder, und auch dieser Einstellvorgang war beendet.

      „Jetzt gefällt es mir gut“, bemerkte sie zufrieden, „so ist es angenehm. Für euch auch?“

      Die anderen nickten.

      Aber ihrer Mimik nach schien sie doch noch nicht zufrieden mit der Einstellung. „Hm . . ., viel­leicht doch wieder eine Idee heller?“ fragte sie nach kurzem Zögern und schaute dabei leicht verschmitzt lächelnd in die Gesichter der anderen.

      Long wollte gerade eine Unmutsäußerung anbringen, als er bemerkte, daß seine Mutter herz­haft zu lachen anfing. Da wußte er sofort Bescheid: „Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zu viele alte Videos von diesem Klassiker, dem Loriot, angesehen, was?“

      Chan prustete vor Lachen: „Ja, ich finde diese Szenen immer wieder köstlich! Die kleinen Schwächen der Menschen – wirklich fein beobachtet und meisterhaft wiedergegeben, ein­fach köstlich anzuschauen!“

      Alle lachten mit.

      In der Küche dampften drei große Kesselpfannen, sogenannte Woks, vor sich hin und ver­ström­ten einen köstlichen, appetitanregenden Duft nach geröstetem Sesam, nach Soja und Sirup, Ingwer und Zwiebeln, Knoblauch, Chili und Cayenne, nach Fisch, Fleisch und Gemüse. Alles war nur kurz, aber heftig in siedendheißem Öl angebraten worden, so daß das Gemüse Biß und Vitamine behielt und Fisch und Fleisch zart und saftig blieben.

      Der Tisch war bereits gedeckt – ein großer runder Tisch, dessen mittlerer Teil drehbar war. Auf diesem wurden nacheinander die Schüsseln mit den verschiedenen Speisen abgestellt, so daß jede Schüssel – nach entsprechender Drehung des Mittelteils – für jeden bequem erreich­bar war.

      „Robby hat uns schon verraten, daß es heute unser Lieblingsessen – Nang King Niu Wei – gibt“, sagte Long. Das war ein pikant zubereiteter Ochsenschwanz in Sojasoße.

      „Ja, und außerdem haben wir einen Bärenhunger, deshalb konnten wir es kaum noch erwar­ten, bis ihr endlich gekommen seid“, ergänzte Jie.

      „Jetzt seid ihr ja erlöst von der Warterei“, beruhigte Chan die Kinder, „die Raubtierfütterung kann sofort beginnen. Also bedient euch.“

      Sie setzten sich zu Tisch, und Robby, der Haus-Roboter der Familie, erläuterte die Speisen­folge: „Heute gibt es folgende Menü-Auswahl: Schweinefleisch süß-sauer, Fisch mit Zitro­nen­­soße . . . und . . .“ – Robby machte eine kurze Pause, schaute in die Runde, um dann mit einem Augen­zwinkern in Richtung Jiao fortzusetzen – „auf Wunsch einer einzelnen Dame“, und damit meinte er Jiao, „gibt es . . . Ochsenschwanz Nanking; außerdem gibt es grüne Bohnen mit Bam­bus­spitzen und Won-Tan-Suppe. Ich wünsche guten Appetit!“

      Alle waren begeistert und bedienten sich der köstlich duftenden und schmeckenden Speisen von den vorbeikreisenden Schüsseln. Robby schien sich über die zufriedenen Gesichter zu freuen und machte lächelnd eine kurze Verbeu­gung.

      Genau­genommen waren es eigentlich fünf Roboter, die allen Familien­mit­glie­dern als dienst­bare „Geister“ zur Verfügung standen. Sie hörten alle auf denselben Namen. Das war ein­fach praktischer für die Familie, schon um mögliche Verwechslungen von vorn­herein aus­zu­­schließen, denn die Roboter sahen alle gleich aus.

      Sie waren in der Firma von Qiang entwickelt und gebaut worden. Ihre Motorik, ihre Sensorik, ihre „Intelligenz“ und ihre Funktionssteuerung waren im Laufe der Jahre ständig verbessert worden. Inzwischen waren sie fast als perfekt zu bezeichnen. Äußerlich waren sie den Menschen nach­gebildet, und sie bewegten sich auch genau wie diese. Intellektuell waren sie dem Men­schen hinsichtlich eigener Kreativität noch unterlegen, aber bezüglich Geschwin­digkeit und Präzision, „Gedächtnisleistung“ und „Konzentration“ schon deutlich überlegen. Sie verfügten über die Fähigkeit, die menschliche Sprache zu verstehen – auch Sätze mit „äh“, Satzbrüche und Versprecher – und sich auch selbst so zu artikulieren. Neben Deutsch verstanden sie Eng­lisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch, und sie konnten aus allen diesen Sprachen ins Deutsche übersetzen. Das war ihr Standard-Sprachschatz, selbst­ver­ständ­lich konnte jede weitere Sprache im Bedarfsfall sofort „nach­geladen“ werden. Eigene Gefüh­le konnten sie noch nicht entwickeln, aber immerhin waren sie mit ihrer Wahr­neh­mungs­­­fähigkeit bereits in der Lage, zwischen verschiedenen Gemüts­lagen des Menschen zu differenzieren und entsprechend „einfühlsam“ zu reagieren.

      Da die Wangs fünf Roboter im Haus hatten, stand im Bedarfsfall jedem der fünf Familien­mit­glieder je einer zur selben Zeit für Dienstleistungen zur Verfügung. Sie machten praktisch alles, was so an Hausarbeit anfiel – und sie kochten vorzüglich! Sie hatten tausend Rezepte im „Kopf“, die im Laufe der Jahre durch die Familie ständig verfeinert und entsprechend einpro­gram­miert worden waren. Angebranntes oder noch ungares Essen, zu stark oder zu wenig gewürzt – das alles gab es bei ihnen nicht, es war immer von gleich guter Qualität.

      „Und? Was habt ihr heute so erlebt?“, fragte Qiang, während er nacheinander seine drei Kinder prüfend anschaute.

      „Och“, fing Long an, „ich habe ziemlich viel gelernt heute, weil wir morgen eine Prüfung in Bio haben.“

      Er sprach ein sehr gutes, fast schon akzentfreies Deutsch, obwohl er erst seit etwa fünf Jahren in Deutschland lebte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war er in China aufge­wachsen, und nur im letzten, dem neunten Jahr, als schon klar