Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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konzentriert zuzuhören, den geistig an­spruchs­vollen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu folgen. Und entsprechend müde bin ich jetzt, um nicht zu sagen: völlig groggy. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich mit deinen Fragen vielleicht bis morgen gedulden könntest.“

      „Selbstverständlich, mein Schatz. Ich will dich natürlich nicht quälen. Es hat auch Zeit bis mor­gen.“ Er beugte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen und fragte, während er sich wieder zurücklehnte: „Um welche Thematik ging es eigentlich heute noch mal?“

      „Es ging – kurz gesagt – im wesentlichen um die Frage des Bewußtseins: Was ist Bewußt­sein? Läßt es sich durch eine mathematische Formel beschreiben? Oder hilft vielleicht die Quan­tenphysik dabei weiter? Ist Bewußtsein überhaupt eine Größe, die objektiver wissen­schaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Ist die Erschaffung eines künstlichen Bewußtseins denkbar? Und so weiter. An diesem Thema arbeiten wir ja schon seit langer Zeit, wie du weißt.“

      „Ja, sicher, und es ist höchst interessant und wissenschaftlich bestimmt sehr anspruchsvoll, da­von bin ich über­zeugt. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Erkenntnisse. Und vor allem auch auf die Umset­z­barkeit dieser Erkenntnisse in technische Lösungen. Das würde unsere Ro­boter­­entwicklung weiter deutlich voran bringen. Wann, glaubst du denn, könnte es soweit sein?“

      „Das läßt sich heute leider noch nicht so genau abschätzen, soweit sind wir einfach noch nicht. Wir haben da noch einen besonderen Knackpunkt. Wenn wir den gelöst haben, dann sehen wir klarer. Aber der hängt eben nicht nur von uns ab, wie du weißt. Wir arbeiten in unse­rem interdisziplinären Team ja eng mit unseren Kollegen in der Hirnforschung zusam­men, und die haben das Problem leider auch noch nicht richtig im Griff. Unsere Arbeit ist aber letztlich abhängig von ihren Ergebnissen, baut gewissermaßen auf ihren Erkennt­nissen auf. Durch die Teamarbeit sind wir immerhin auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Erkennt­nisse, kön­nen sie partiell sogar durch eigene Beiträge unterstützen und auf diese Weise die ganze Entwicklung forcieren, aber wir können sie natürlich nicht überholen.“

      „Ja, ich weiß. Wir müssen uns noch gedulden, obwohl ich gerne viel schneller vorankommen würde.“ Er machte eine kurze Pause. „Immerhin bin ich heute wenigstens geschäftlich einen großen Schritt voran­gekommen. Wir sind uns ziemlich einig in den Fragen der Geschäfts­übernahme, es gibt nur noch marginale Punkte, die wir in den nächsten paar Tagen auch geklärt haben werden. Ich bin sehr zufrieden mit dem heutigen Tag. Aber müde bin ich jetzt auch.“

      „Ja, ich auch.“

      „Ach, übrigens, das muß ich dir doch noch schnell erzählen . . .“

      „Was denn?

      „Der Güssen hat doch allen Ernstes behauptet, er hätte mich neulich auf der Leipziger Messe gesehen. Dabei war ich doch dieses Jahr gar nicht dort! Der hat Gespenster gesehen, anders kann ich mir das nicht erklären.“

      „Na, dann hat er sich eben getäuscht. Das kann ja mal passieren.“

      „Das habe ich ihm auch nahezulegen versucht. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, daß ich dieses Jahr nicht auf der Messe war. Aber er sagte, er könne Stein und Bein schwören, daß er mich gesehen hat.“

      „Dann hast du vielleicht einen Doppelgänger?“

      „Hmmm . . . Das wäre die einzige plausible Erklärung, wenn er sich nicht wirklich verguckt hat. . . . Aber Doppelgänger? Zum Verwechseln ähnlich? Ich weiß nicht. . . . Allerdings tun sich die Europäer ja bekanntlich etwas schwerer, Asiaten zu unterscheiden. Insofern wäre eine Verwechslung schon leicht möglich.“

      „Hat er deinen Doppelgänger nicht angesprochen? Denn dann hätte sich das Mißverständnis doch sehr schnell aufgeklärt.“

      „Er hat mir erzählt, er habe mich an einem chinesischen Ausstellerstand gesehen, wie ich gerade telefonierte. Da wollte er nicht stören, deshalb habe er gewartet, bis ich das Telefonat beende. Aber dann sei ich plötzlich hinter dem Stand verschwunden. Daher habe er keine Gelegenheit gehabt, mich zu begrüßen.“

      „Na, wie auch immer, wir können es heute nicht mehr aufklären. Gehen wir mal davon aus, daß er sich getäuscht hat.“

      „Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig. Mich irritiert nur, daß er so felsenfest davon überzeugt war, mich gesehen zu haben, und eine Verwechslung kategorisch ausschloß.“

      „Aber es kann nur eine Verwechslung gewesen sein! Also haken wir es ab und gehen ins Bett.“

      „Okay. Ich will nur noch kurz die Nachrichten anschauen, dazu bin ich heute den ganzen Tag noch nicht gekommen.“

      Robby hatte die Aufforderung verstanden, sandte ein Signal an den MEC, den Media Con­trol­ler, und im Nu war der Nachrichtenkanal eingeschaltet. Das war nur einer aus einer Vielzahl unterschiedlicher Themen-Kanäle, die man per Fernsteuerung aus dem WorldNet abrufen konn­te. Das Bild wurde auf einem groß­formatigen Flachdisplay, das wie ein Gemäl­de an der Wohn­zimmerwand hing, dargestellt.

      Gerade wollten sie sich auf das Sofa setzen, als Chan durch das Fenster den Mond erblickte und spontan ausrief: „Ach, schau mal, der Mond, wie schön klar und hell der scheint! Komm, laß uns noch einen Moment auf die Terrasse gehen.“ Sie nahm ihren Mann bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

      Beim Hinausgehen sagte Qiang noch zu Robby: „Also, kannst nochmal ausschalten, wir sehen uns die Nachrichten etwas später an.“

      „Kein Problem“, antwortete Robby lakonisch, während er sich freundlich lächelnd verbeugte. Und es war mit TV on demand in der Tat kein Problem, denn wann immer man einen Kanal anwählte, erhielt man das gewünschte Programm jeweils von Anfang an – so, als würde das Programm genau und ausschließlich für diesen einen Teilnehmer ausgestrahlt. Man konnte das Programm auch jeder Zeit anhalten, zurückspulen und nach beliebiger Zeit wieder starten, als hätte man das Programm auf dem eigenen Videorecorder gespeichert – hatte man aber nicht. Das war gar nicht nötig. Die Übertra­gungs­kapazität des WorldNet war so immens, daß Millionen von Programmen in Form digitaler Datenpakete simultan übertragen werden konn­ten.

      Nachdem Robby das Programm abgeschaltet hatte, erschien wieder das Landschafts­gemäl­de von Guilin auf dem Bildschirm. Chan liebte diese phantastische und manchmal schon ein wenig verwunschen und geisterhaft anmutende Landschaft in China so sehr, daß dieses Bild fast immer gemäldegleich dargestellt wurde, wenn das Display nicht gerade als „Kino­lein­wand“ genutzt wurde. Aber natürlich konnte auch jedes andere gewünschte Bild statt dessen darge­stellt werden wie etwa die ebenfalls von Chan geliebten Peonienbilder chine­sischer Künstler oder eigene Fotos.

      Auf der Terrasse angekommen, atmete Chan zwei-, dreimal tief durch und schwärmte dann: „Hm . . . Gute, frische Luft, das tut gut! Spürst du es auch?“

      Qiang atmete ebenfalls tief durch und sagte dann: „Ja . . . Ich glaube schon, daß die Luft hier bes­ser ist als in Nanjing.“

      „Das glaube ich auch“, pflichtete Chan ihm bei. „Aber heute erscheint sie mir besonders gut. Und sieh mal den Sternenhimmel. Es ist ganz klare Sicht heute.“

      Qiang legte seinen Arm über ihre Schultern, schaute erst zum Mond und dann zu ihr, die wohl gedankenversunken im Mondlicht zu träumen schien. Nachdem er sie so eine Weile liebevoll von der Seite betrachtet hatte, drehte er sich ihr ganz zu, nahm sie in beide Arme und schaute ihr in die Augen, in denen sich das Mondlicht silbern spiegelte. „Du bist wunder­schön!“ flüster­te er leise, drückte sie noch etwas fester an sich und küßte sie auf die Stirn. „Deine Lippen sind irgendwie unbeschreiblich verführerisch, erotisch“, säuselte er weiter und küßte sie zärt­lich auf den Mund. Und während er sie weiter liebkoste, auf die Wangen und auf die Ohr­läpp­chen küßte, und sie mit tiefem Einatmen förmlich aufzusaugen schien, sagte er: „Du riechst so aufregend gut.“ Dann sah er ihr wieder in die Augen und sagte: „Ich liebe dich. Ich liebe dich sehr.“

      Sie schmiegte sich an ihn und entgegnete: „Ich fühle mich sehr wohl bei dir.