Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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      „Was für Themen bearbeitet ihr denn gerade in Bio?“, wollte Qiang wissen.

      „Wir behandeln zur Zeit die Vererbungslehre von Mendel“, antwortet Long, „ein wirklich inte­res­­san­­tes Thema. Ich werde es auch als Vortragsthema wählen.“

      Jeder Schüler mußte in jedem Fach einmal pro Halbjahr einen Vortrag zu einem selbst­ge­wähl­ten Thema aus dem behandelten Stoffgebiet halten. Man hatte damit sehr gute Erfah­run­gen gesammelt, denn auf diese Weise lernten die Schüler frühzeitig, selbständig ein Thema vertieft zu erarbeiten und dann in möglichst freier Rede coram publico vorzutragen. Und so war es inzwischen in allen Schulen des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden.

      „Es ist ja eigentlich schon verwunderlich, daß die Kinder, obwohl von denselben Eltern ab­stam­­­mend, trotzdem doch sehr verschieden sein können“, konstatierte Long. „Die Ursachen da­für herauszufinden, stelle ich mir fast so spannend wie einen Krimi vor – und der Mendel hat mit seinen Versuchen dafür die Grundlage geschaffen und entsprechende Regeln, die später nach ihm benann­ten Mendelschen Regeln, formuliert.“

      „Wieso? Was hat der für Versuche gemacht?“ wollte Jiao wissen.

      „Der hat in einem Klostergarten ganz systematisch eine große Reihe von Kreuzungen ver­schie­dener Erbsen­rassen durchgeführt und ausgewertet. Seine Beobachtungen, wie sich die unter­­schied­lichen Merkmale der Erbsenrassen, also zum Beispiel die Wuchsform, die Blü­ten­­farbe oder die Gestalt und Farbe der Samen, auf die jeweiligen Nachkommen ver­teilten, hat er 1865 in einem Buch veröffentlicht. Seine Ergebnisse zeigten unter anderem die Häu­fig­keits­­verteilung bei der Vererbung der unterschiedlichen Merkmale in einem ganz bestimm­ten Zah­len­­verhältnis, beispielsweise 1:2:1 oder 3:1, je nachdem, ob es sich um intermediäre oder domi­nant-rezessive Vererbung handelt.“

      „Was muß ich darunter verstehen?“ fragte Jiao.

      „Das zu erklären würde jetzt hier sicher zu weit führen, dazu müßte ich länger ausholen“, er­widerte Long.

      „Ja toll – sehr interessant!“ unterbrach ihn Jiao etwas unwirsch, wobei sie besonders das „sehr“ betonte. „Ich verstehe zwar im Moment nur ‚Bahnhof‘, aber du kannst ruhig weiter dozieren. Auf mich brauchst du ja keine Rücksicht zu nehmen!“ Und es klang fast schon ein wenig be­leidigt.

      „Das lernst du auch alles noch in der Schule, mein Kind“, versuchte Chan ihre Tochter zu ver­trösten. „Hab nur etwas Geduld.“

      Jiao schien etwas genervt und verdrehte demonstrativ die Augen.

      „Naja, ich will hier auch gar nicht in die Details gehen“, fuhr Long fort. „Jedenfalls gelten die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung für die ganze belebte Natur und damit eben auch für den Menschen, wie man durch Familien- und insbesondere auch Zwillingsforschung schon lange weiß. Auch beim Menschen gibt es dominante und rezessive Merkmale. Das zeigt sich be­son­ders deutlich bei bestimmten Krankheiten oder Abnormitäten, aber auch bei charakte­ris­tischen Äußerlichkeiten oder Angewohnheiten.“

      „Deine Angewohnheiten sind manchmal ganz schön lästig!“ platzte Jiao wieder dazwischen. „Von wem hast du die?“

      Alle lachten.

      „Zweimal darfst du raten!“ rief Jie lachend.

      „Also, wenn ich mir unsere Familie so anschaue, dann habe ich den Eindruck, daß wir Drei“, und damit meinte Long seine Geschwister und sich, „uns ja auch erkennbar unterscheiden – und zwar nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen, daß wir aber andererseits teilweise unüber­sehbar deutliche Ähnlichkeiten zu unseren Eltern aufweisen. Ich denke zum Beispiel, daß ich ganz offensichtlich eher nach Paps komme“, sagte Long, „während Jiao deutlich mehr von Mam geerbt hat. Bei Jie kann ich bisher keine klare Dominanz zur einen oder anderen Seite ent­decken, er hat wohl von euch beiden ungefähr gleich viel mitbekommen.“

      Jiao kicherte: „Du bist ein Mischling, kleiner Bruder!“

      „Du bist selbst ein Mischling!“ wehrte sich Jie vehement.

      „Ihr braucht euch gar nicht zu streiten!“ unterbrach Long die beiden. „Mischung ist ganz normal! Oder vielmehr: Das ist ja gerade das Normale! Genau das ist nämlich von der Natur beab­sichtigt, es ist praktisch das Grundprinzip der Evolution! . . . Da fällt mir übrigens gerade ein Gedicht vom alten Goethe ein, das wir in diesem Zusammenhang in der Schule gelernt haben. Wollt ihr’s hören?“

      „Ja, gerne“, bat Chan sofort.

      „Offenbar hat sich der alte Dichterfürst auch schon mit genau dieser Thematik befaßt, jeden­falls läßt das sein folgendes Gedicht vermuten:

      ‚Vom Vater hab ich die Statur

       des Lebens ernstes Führen,

       vom Mütterchen die Frohnatur

       und Lust zu fabulieren.

       Urahnherr war der Schönsten hold,

       das spukt so hin und wieder;

       Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,

       das zuckt wohl durch die Glieder.

       Sind nun die Elemente nicht

       aus dem Komplex zu trennen,

       was ist denn an dem ganzen Wicht

       Original zu nennen?‘“

      Qiang und Chan klatschten beifällig in die Hände, denn sie freuten sich, daß er das Gedicht so schön aufgesagt hatte, während Jiao und Jie noch etwas nachdenklich schienen.

      „Du siehst also, kleiner Bruder“, belehrte Long seinen jüngeren Bruder, „man hat schon viel, viel früher festgestellt, daß die Erbanlage jedes Kindes immer von beiden Elternteilen be­stimmt ist; es gibt immer wieder neue Vermischungen. Deshalb sind die Menschen ja so verschieden! Auch innerhalb einer Familie, obwohl da die Unterschiede sicher nicht ganz so groß sind.“

      Long war für seine vierzehn Jahre ein guter Beobachter. Er hatte beim Betrachten von Famili­en­fotos schon relativ früh festgestellt, daß er eine sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, was ihm überdies auch Freunde und Bekannte gelegentlich bestätigten. Und diese Tatsache trieb ihn immer wieder um. So ertappte er sich beispielsweise immer öfter dabei, Ausdrucks­weise, Gestik und Gebärden seines Vaters ganz offenbar zu imitieren. Aber imitierte er sie willentlich? Oder agierte er vielmehr unwillkürlich aus sich selbst heraus und stellte gewisser­maßen erst im nachhinein durch Selbstbeobachtung fest, daß er sich genau­so ver­halten hatte, wie es sein Vater in dieser Situation getan haben würde? Er wußte es nicht. So sehr ihn diese Frage beschäftigte, er fand keine Antwort darauf. Immerhin war dieser, für ihn unbefriedigende Umstand Motivation genug, sich stärker in die Thematik der Vererbungslehre einzuarbeiten – immer in der Hoffnung, die Ursachen für diese Evidenz eines Tages doch noch zu ergründen.

      Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über dies und das, obwohl es inzwischen schon halb elf geworden war. Mit dem Essen waren sie längst fertig, und der Tisch war von Robby bereits abgeräumt.

      „So, jetzt ist es aber schon ziemlich spät“, sagte Qiang schließlich, „es wird Zeit für euch zum Schlafen­gehen. Morgen früh um sechs ist die Nacht vorbei, also hopp, hopp ins Bett.“

      Sie wünschten sich eine gute Nachtruhe, und die Kinder gingen auf ihre Zimmer.

      „Wie sieht deine Planung für morgen aus?" fragte Qiang seine Frau, nachdem die Kinder draußen waren.

      „Ich habe morgen vormittag zwei Vorlesungen, und danach will ich die Beiträge unseres heuti­gen Symposiums noch ein bißchen für mich aufarbeiten, damit ich die Dinge nicht so schnell vergesse“, antwortete Chan.

      „Ja