Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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eines Käuzchens in der Ferne. Der Garten war zwar nicht besonders groß, aber es war doch immer wieder für jeden Besucher verblüffend, wie hier auf vergleichsweise kleinem Raum verschiedene Gestaltungselemente, wie künstlich angelegte Teiche und Bäche, künstliche Hügel aus Erde und Felsgestein, sichtbegrenzende Mauern, Torbögen, verschlungene Wege und Brücken, ein kleiner Pavillon sowie zahlreiche Bäume, Bambushecken und Blu­men, die jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung für die Chi­nesen haben, zu einem in seiner Vielfältigkeit wohl-ausbalancierten, harmonischen Gesamt­kunstwerk arrangiert wurden, das den geneigten Betrachter zu Versenkung und Beschau­lichkeit einlud. In jedem Winkel des Gartens ergaben sich wieder neue Perspektiven, neue Eindrücke. Aber von keinem Punkt aus konnte man den Garten vollständig überblicken. Das gab ihm scheinbare Größe und hielt den Besucher in neugieriger Erwartung auf den nächsten Blickwinkel.

      Chinesische Laternen beleuchteten den sich durch den Garten schlängelnden Weg, spiegel­ten sich auf der Wasseroberfläche von Teich und Bach silbrig-gelblich wider und luden den Be­trach­ter zu romantisch verklärter Stimmung ein.

      Nachdem sie so eine Weile, eng aneinander gekuschelt, träumend in den Garten geschaut hatten, unterbrach Chan die traute Zweisamkeit: „Mir wird allmählich kalt.“

      „Es ist doch nicht kalt“, entgegnete Qiang, „es ist sogar sehr mild heute. Aber du bist wahr­schein­lich sehr, sehr müde, sonst könntest du nicht in meinen Armen frieren.“

      „Da magst du recht haben. Komm, laß uns wieder reingehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

      Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Robby schon auf sie wartete und fragen zu wollen schien, ob er die Nachrichten wieder einschalten sollte. Qiang nickte ihm kurz zu und prompt lief die Sen­dung. Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Und während Qiang die Bilder der Nach­rich­ten verfolgte, kuschelte sie sich fest an ihn und schloß die Augen.

      Nachdem er die Nachrichten zu Ende gesehen hatte und aufstehen wollte, bemerkte Qiang, daß seine Frau bereits schlief. Behutsam hob er sie auf und trug sie hoch zum Schlafzimmer im Ober­geschoß.

      „Danke“, murmelte Chan verschlafen, die unterwegs doch aufgewacht war.

      Wenig später waren sie im Bett.

      Qiang konnte nicht gleich einschlafen, ihm gingen noch so viele Gedanken durch den Kopf. Aber er fühlte sich behaglich wohl und zufrieden. Die Familie lebte nun seit etwa fünf Jahren in Deutschland und hatte sich seither bestens akklimatisiert. Sie fühlten sich wohl hier in Ulm, auf­genommen von der Gesellschaft, anerkannt und geachtet, ja geschätzt. Neben ihrer beruf­lichen Beanspruchung pflegten sie regelmäßige gesellschaftliche Kontakte. So waren insbe­son­dere ihre ein- bis zweimaligen Einladungen pro Jahr an einen ausgewählten Kreis von Hono­ratioren der Stadt aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Lehre schon zur festen Regel geworden. Es waren von allen Beteiligten immer wieder sehr gern wahrgenommene Gelegen­heiten der Kontaktpflege und des Informations- und Meinungsaustausches. Ja, und das aller wichtigste für ihn war natürlich die Tatsache, daß seine Geschäfte so erfolgreich liefen. Vor fünf Jahren hätte er das noch nicht einmal zu träumen gewagt, jetzt schlief er mit der Gewiß­heit darüber und einem seligen Lächeln ein.

      Am nächsten Tag

      Pünktlich um 6.00 Uhr erklang in den Schlafzimmern Musik, bei den Eltern Klavier­­musik von Chopin, zart beginnend und dann langsam stärker werdend, bei den Kindern Modern Beat­. Man hielt sich aber nicht lange auf dabei. Alle waren von früher Jugend an gewohnt, jeden Morgen, auch am Wochenende, regelmäßig zu dieser Zeit aufzustehen, und die Gewohnheit ließ sie inzwischen längst von allein erwachen. Es hätte eigentlich keines Weckers bedurft, aber mit der Gewißheit rechtzeitigen Gewecktwerdens ließ es sich eben doch irgendwie bes­ser schlafen; man hatte dann nicht die Unruhe, vielleicht doch einmal zu verschlafen. Und ein bißchen angenehme Musik am Morgen war ja auch eine gute Ein­stimmung für den Tag. Alle kamen aus ihren Betten gekrochen, zogen sich einen Trainings­anzug über und gingen in den Garten.

      Qiang und Chan pflegten von Kindheit an die seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Körper­übungen des Tai Chi, und sie hatten es frühzeitig auch ihren eigenen Kindern weiter­vermittelt. Regelmäßig morgens gegen sechs Uhr ging die ganze Familie in den Garten, um gemeinsam ihre Entspannungsübungen zu machen. Es waren harmonische, fließende Be­we­­gungen, die lang­sam und ohne Unterbrechung ausgeübt wurden, kombiniert mit einer be­stimmten Atem­technik und einer meditativen Konzentration auf bestimmte Körper­regio­nen. Gemäß dem Prinzip von Yin und Yang ist jede Übung eine fortwährende Folge von Bewe­gung und Ge­gen­bewegung: Auf Heben folgt Senken, auf Beugen folgt Strecken, auf Vorwärts- folgt Rück­wärtsbewegung.

      Nach etwa 40 Minuten beendeten sie ihre Übungen und gingen zum Duschen, und nach einer weiteren Viertelstunde saßen alle beisammen am Frühstückstisch.

      Chinesen beginnen ihren Tag üblicherweise mit einem warmen Frühstück. Kaltes Essen ist für sie kein Essen. Dazu trinken sie entweder frisch aufgekochtes Wasser oder grünen Tee. Robby hatte bereits alles vorbereitet. Die Kinder aßen gern – so auch an diesem Morgen – gebratenes Gemüse mit Nudeln. Außerdem hatten sie sich ein paar süße Baozi, das sind gefüllte Klöße aus Hefeteig, bestellt. Es gibt nicht nur süße, sondern auch salzige Baozi, saure und sogar bittere, insgesamt mehr als 70 Varianten. Als Füllung wird Schweine-, Rind- oder Hammel­fleisch, Krabben, Fisch und Gemüse aller Art verwendet. Sie sind sehr beliebt in China, man kann sie an fast jeder Straßenecke kaufen – chinesisches Fast Food. Sie werden gleich so, wie sie sind, das heißt ohne Soße oder ähnliches, von der Hand geges­sen. Chan hatte sich Youtiao bei Robby bestellt, das sind fritierte Teigstangen, ähnlich den spanischen Chur­ros, und dazu eine Art Crêpe, gefüllt mit Fleisch, Soja, Ei und Koriander. Qiang aß nur eine Schüssel Reissuppe, denn er mußte sich heute kurzfassen beim Früh­stück, weil er bereits einen Besprechungstermin zu acht Uhr mit seinen Vorstandskollegen ver­einbart hatte. Die neue Lage sollte besprochen, notwendige Maßnahmen mußten erörtert werden. Und dazu wollte er noch ein paar Dinge vorher vorbereiten.

      Er wählte, wie gewöhn­lich, den Runway, um zu seiner Firma zu kommen. Das war ökono­mischer und ging sogar schneller, als wenn er seinen Wagen benutzt hätte. Diese Runways sind eine Art ‚Laufbänder‘ nach dem Prinzip der Rolltreppen, aber tech­nisch verbessert und so breit, daß drei Leute bequem nebeneinander herlaufen können. Außerdem sind sie groß­zügig überdacht, so daß man sie auch bei Regen und Schneefall trockenen Fußes passieren kann, und des Nachts beleuchtet. Sie durchzogen die ganze Trabanten­siedlung sternförmig, jeweils in Abschnitten von etwa 50 Meter Länge. In den vom Zentrum etwas entfernter gele­ge­nen Bereichen gab es Querverbindungen. So wirkte die Gesamtanlage dieser Runways von oben betrachtet wie ein überdimensionales Spinnennetz.

      Viertel vor acht war Qiang in seinem Büro, wo er von seinem Sekretär, natürlich auch ein Robo­ter, freundlich begrüßt wurde.

      „Hallo Robby!“ grüßte er zurück. „Du weißt, daß wir gleich eine Besprechung haben?! Hast du uns ein paar Getränke hingestellt?“

      „Ja, selbstverständlich! Alles erledigt!“ erwiderte Robby.

      „Aber heute brauchen wir einen Prosecco zum Anstoßen. Es gibt was zu feiern!“

      „Okay! Wird sofort erledigt!“

      Qiang ging in sein Büro. Es war ein relativ großer, heller und unter Beachtung der Feng-Shui-Regeln sehr repräsen­tativ gestalteter Raum. Eine den neun Lebensbereichen des sogenann­ten Bagua entsprechende Gliederung und dezente Zuordnung verschiedener das Chi spen­den­der, verstärkender und verteilender Hilfsmittel sowie weiterer im Raum verteilter Symbole und Acces­soires sollten dafür sorgen, daß das Chi durch die Gesamtheit der in diesem Raum wirkenden Schwingungen positiv beeinflußt würde.

      Eine breite Fensterfront ließ viel Licht herein. Das Mobiliar, eine Schrankwand, sein Schreib­tisch, ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Sesselgruppe, waren großzügig im Raum ver­teilt. Ein großes Aquarium stand zwischen der Sessel- und der Tischgruppe. Aquarien gelten in China