Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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heran­zutasten. Sie fühlen sich oft düpiert von dem konfrontierenden westlichen Gesprächs­stil, wäh­rend die Europäer häufig gelangweilt und schon ermüdet sind, wenn ihre chine­sischen Ge­sprächspartner endlich auf den Punkt kommen. Auch das Gesprochene selbst, die inhaltliche Aus­sage wird unterschiedlich bewertet – die Schwerpunkte liegen hier auf der Logik und dort auf dem chinesischen Verständnis von Vernunft. Während eine Aussage für Europäer vor allem logisch sein muß, gilt es den Chinesen als entschei­dender, daß sie auch vernünftig ist im Sinne einer Übereinstimmung mit der menschlichen Natur, seiner Behut­sam­keit, Geduld und Selbstzurücknahme in den zwischenmenschlichen Bezie­hun­gen sowie in der Vermei­dung aller Extreme. Wer sich in einer Auseinandersetzung dem Vorwurf „bu jiang-li“, das heißt: „Er redet keine Vernunft“, aussetzt, der hat sein Gesicht ver­loren. Das ist die schlimmste Mißbilli­gung. „Alles Unheil kommt davon, daß man den Mund zu weit auftut“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Deshalb gehen die Chinesen mit sprach­lichen Äußerun­gen gewöhnlich zurück­haltend um und vermeiden Konflikte, wie sie leichthin in Diskussionen durch Rede und Gegen­rede entstehen können. Der Austausch von Informa­tionen und Fak­ten, nach westlicher Auffassung das Hauptziel einer Kommunikation, ist bei chinesischen Gesprächspartnern eher Nebensache; für sie ist die verbale Kommunikation in erster Linie ein Mittel, um Beziehungen zu beeinflussen und zu festigen.

      Für Marketing and Sales hatte Qiang mit Deborah Brown ganz bewußt einen English native speaker eingestellt, denn Englisch war nun mal die Weltsprache schlechthin. Die Globalisie­rung hatte es mit sich gebracht, daß Englisch sich als einheitliche Verkehrs- und Geschäfts­sprache durch­setzte – und das, obwohl um die Jahrtausendwende nur etwa 320 Millionen Men­schen Englisch gegenüber 1,3 Milliarden Menschen Chinesisch als Mutter­sprache hat­ten. Aber China war zu jener Zeit noch in der Entwicklung zur Weltmacht, hatte damals einfach nicht die Bedeutung wie die führenden westlichen Industrienationen, die sich im Ge­schäfts­verkehr und selbst im Tourismusbereich alle des Englischen befleißigten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dramatisch geändert; jetzt ist China die Weltmacht schlechthin. Viele Nicht-Chinesen in aller Welt lernen inzwischen die chinesische Sprache. Nichtsdesto­trotz hatte sich Englisch längst als Weltsprache durchgesetzt und fest etabliert. Auf dem Wege zur Welt­macht hatten mehr und mehr chinesische Jugendliche Englisch in den Schu­len gelernt, um im internationalen Handel bessere Chancen zu haben. Auch dieser Trend hatte die Vormacht­stellung von Englisch weiter unterstützt. Und gerade weil Englisch im Ge­schäftsverkehr so wichtig war, hatte Qiang den Marketing- und Sales-Bereich britisch be­setzt.

      Qiang begrüßte jeden seiner Kollegen per Handschlag, obwohl er eigentlich – wie alle Chine­sen – das in Europa übliche Händeschütteln verabscheute. Aber da er nun mal hier lebte, ver­such­te er, sich den europäischen Sitten so gut wie möglich anzupassen. Während er noch mit jedem seiner Kollegen ein paar freundliche Worte wechselte, hatte Robby den Prosecco eingeschenkt und ging nun herum, um jedem ein Glas anzubieten.

      „So, meine Damen und Herren“, begann Qiang feierlich seine Rede, obgleich sie sich seit Jahren untereinander duzten, „um gleich mal ohne Umschweife auf den Anlaß dieser Be­sprech­ung zu kommen: Die Sache ist so gut wie perfekt! Und darauf sollten wir erst einmal anstoßen.“ Sie erhoben die Gläser und prosteten sich zu. „Ich bin ausgesprochen happy“, fuhr Qiang fort, „daß wir gestern so weit gekommen sind. Herr Güssen, der Ge­schäftsführer von Anthropo­Tec, zeigte sich am Ende doch ziemlich kooperativ. Unsere Ab­schätzung des Unterneh­mens­wertes und seiner weiteren Geschäftsaussichten, die ich lange und aus­führ­lich mit ihm disku­tiert habe, machten ihm letztlich klar, daß sein Unternehmen in dieser Form nicht mehr lange würde bestehen können. Mit der derzeitigen kognitiven Per­formance seiner Roboter ist er ein­fach nicht mehr konkurrenzfähig, da helfen ihm auch die Vorteile seiner sicher sehr guten anthro­po­technischen Eigenschaften nicht weiter. Die Kun­den wollen heute einfach immer intel­li­gentere Roboter, und da haben wir eindeutig die Nase vorn. Er hätte dringend in die Verbesserung der kognitiven Performance investieren müssen, aber dazu fehlten ihm die Mittel und das Know-how – vielleicht auch die notwendige Einsicht. Und den besten Zeitpunkt dafür hat er ohnehin schon verpaßt. Das könnte er jetzt auch gar nicht mehr aufholen, und das hat er schließlich eingesehen. Man konnte förmlich spüren, wie sich in ihm die Resignation breit­machte, obgleich er sehr bemüht war, sich nichts davon anmer­ken zu lassen. Und dann ging es nur noch um die Konditionen. Er wollte natürlich noch möglichst viel herausholen – für sich, aber auch für seine Mitarbeiter. Er selbst wird sich wohl zur Ruhe setzen, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. So deutlich hat er es nicht gesagt. Immerhin ist er bereits über sechzig und finanziell gut versorgt, wozu wir ja jetzt auch noch etwas bei­tragen. Das wird also nicht das Problem sein. Wichtiger ist ihm seine Ver­ant­wor­tung gegenüber seinen Mitarbeitern, und das ehrt ihn. Er hat zirka 80 Leute ohne die freien Mit­arbeiter. Wenn wir die alle übernehmen würden, hätten wir ´ne ganze Menge Re­dundanz – aus wirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll. Wir können nur die übernehmen, die uns das Know-how mitbringen, das uns fehlt, bezie­hungs­weise wo die besser sind als wir – also vor allem im anthropo­technischen Bereich. Nur so haben wir einen Synergiegewinn.“

      Bei dem Wort bekam er ganz glänzende Augen und kam fast ins Schwärmen: „Stellt euch das mal vor, Leute, wir verlieren auf einen Schlag einen unserer größten Konkurrenten und gewin­nen gewissermaßen für ´nen Appel und ´nen Ei“, er beherrschte das Deutsch schon wie seine Muttersprache, „genau die Kompetenz, die wir bisher nicht in dem Maße hatten, um wirklich ‚Spitze’ zu sein. BrainTech und AnthropoTech vereinigt – das ist nicht mehr zu toppen, jedenfalls kann uns in Europa keiner mehr das Wasser reichen. Wir werden eine ganz neue Roboter-Generation entwickeln, eine Symbiose aus den hervorragenden kog­ni­tiven Fähigkeiten unserer Roboter mit den ausgezeichneten anthropotechnischen Eigen­schaften derer von AnthropoTech. Damit werden wir unschlagbar sein.“

      Nachdem er sich so eine Weile fast in den Rausch geredet hatte, kehrte allmählich wieder die Sachlichkeit zurück.

      „Eine andere Frage, die wir noch zu klären haben, ist die Standortfrage: Was machen wir mit dem Standort Leipzig? Geben wir ihn auf? Und wann? Und wie können wir dabei noch ein gutes Geschäft machen? Ich denke, es macht einfach keinen Sinn, den Standort mit seiner Infrastruktur zu erhalten“, gab er gleich selbst die Antwort. „Dann brauchten wir auch wieder mehr Personal dort. Es ist in jeder Hinsicht effektiver, den Standort zu schließen und die Leute, die wir brauchen, hierher zu holen. So deutlich habe ich das Thema gestern noch nicht angesprochen, aber wir werden in diesem Sinne verhandeln müssen. Ich bin sicher, Güssen wird das letztlich akzeptieren – er ist selbst Geschäftsmann und kennt die ökono­mischen Erfor­dernisse. Wir werden aber seinen Mitarbeitern, die wir nicht übernehmen kön­nen, sicher eine Abfindung zahlen müssen, das erwartet er von uns. Und anders werden wir wahr­schein­lich auch gar nicht aus den Verträgen mit ihnen herauskommen.“

      „Ist da schon über Zahlen gesprochen worden?“, fragte Sandrine.

      „Nein, soweit sind wir gar nicht gekommen; Güssen gab hier nur generell seiner Erwartung Aus­druck.“

      Er machte eine kurze Pause, und da keine weitere Frage kam, fuhr er fort: „Wir müssen also jetzt sehr kurzfristig“, und er legte die Betonung deutlich auf das „kurz“, „folgende Action Items behandeln: Erstens alle juristischen Fragen im Zusammen­hang mit der Geschäfts­übernahme klären, Sandrine. Und denk auch an deren Patente, die sind sehr wichtig für uns. Zweitens die Personalfrage, also welche Leute sollten wir über­nehmen und welche nicht – das müßt ihr zu­sammen entscheiden: Sandrine, Deborah und Lothar; zu diesem Zweck habe ich mit Güssen vereinbart, daß er uns eine Liste seiner Mitarbeiter mit deren Personalprofil zuschickt. Drittens eine erste Abschätzung der Gesamtkosten für die Übernahme einschließ­lich aller möglichen beziehungs­weise notwendigen Abfindungs­zahlungen, Betriebs­­­­schlie­ßungs- und Über­­führungs­kosten, eventuell notwendige Erweite­rungen am hiesigen Standort und so weiter, da bist du gefordert Susanne. Viertens Einsichtnahme in die technische Doku­mentation, sobald dies möglich ist, und Identi­fi­zierung der für unsere weitere Produkt­entwick­lung relevanten und interessanten Potentiale – darum kümmerst du dich mit deinen