Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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ihm noch viel restliche Prüfungszeit übrig, die ihm wahrscheinlich sehr lang vor­kommt, weil er in der Zeit nichts mehr zu tun hat.“

      „Das klingt auch wieder sehr plausibel.“

      „Oder ein anderes Beispiel: Wenn du im Wartezimmer einer Arztpraxis sitzt und darauf wartest, hereingerufen zu werden, dann kommt dir die Zeit elend lang vor. Hast du aber eine spannende Lektüre dabei, dann merkst du gar nicht, wie lange du schon warten mußtest, bis du ‚plötzlich‘ aufgerufen wirst.“

      „Ja, genau! Das habe ich auch schon selber mehrfach festgestellt.“

      Chan schaute sie schmunzelnd an und stellte dann resümierend fest: „Ist schon ein interes­santes Phänomen, unser Zeitgefühl, nicht?“

      „Ja, ja, das ist es“, pflichtete Ellen ihr bei und fügte dann lachend hinzu: „aber wir werden es heute abend sowieso nicht mehr klären können.“

      Beide lachten.

      „Auf jeden Fall ist dieses Jahr nun auch schon bald wieder vorbei“, stellte Ellen nochmal fest. „Und wann ist das bei euch in China?“

      „Unser Neujahr beginnt auch am ersten Januar, seit wir 1912 vom Mond- auf den Gregori­anischen Kalender umgestellt haben. Aber die traditionellen Feste nach dem Mond­kalender werden trotzdem weitergepflegt. Und danach feiern wir das Frühlingsfest, das ist am ersten Tag des ersten Mondes und fällt in der Regel in den Februar. Da haben alle Chinesen eine Woche Urlaub.“

      „Fahrt ihr dann wieder hin?“

      „Ja, wie jedes Jahr. Wir treffen immer unsere ganze Familie.“

      „Schön“, sagte Ellen gedehnt und mit einem Ausdruck bewundernder Anteilnahme.

      „Ja, wir freuen uns auch schon darauf“, entgegnete Chan, „obwohl Qiang diesmal wegen der Ausschreibung für die Mars-Mission ziemlich unruhig ist. Er hat immer etwas Sorge, er könnte was verpassen, wenn er da am anderen Ende der Welt ist, oder es könnte irgendwas schief­laufen in seiner Firma. Dabei ist er in ständigem Kontakt mit seinen Kollegen und mit Robby, hat überall, wo er auch ist, direkten Zugang zu allen wichtigen Informationen und so weiter – also ich weiß wirklich nicht, warum er sich Sorgen machen müßte. Aber so ist er nun mal, er will alles immer unter unmittelbarer Kontrolle haben.“

      „Ach, wenn man vom Teufel spricht!“ rief Ellen, als sie Qiang auf sich zukommen sah.

      Es war etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht, als Qiang begann, seine Familie zusammen­zutrommeln, um sich mit ihnen auf den Heimweg zu machen. Bei der Verabschiedung fiel Jiao aber wieder ein, daß man sich ja noch für die Globalisierungsdiskussion verabreden wollte.

      „Ja gut, daß du daran erinnerst, Jiao“, sagte Ellen, „beinahe hätten wir es nun doch noch ver­gessen. Also dann schauen wir mal in den ‚Dispo‘, wann wir einen geeigneten Termin fin­den.“

      Man sagte einfach „Dispo“, wenn man das Dispositionsprogramm für die individuelle Termin­pla­­nung meinte, das jeder auf seinem ständigen Begleiter, dem sogenannten Per­sonal All­round Computer and Communications System oder kurz PACCS, ver­­­­füg­­­­­bar hatte.

       So ein PACCS war praktisch ein Universalgerät, das sehr viele Funktionen in sich vereinte, nicht nur so triviale Dinge wie Uhrzeit, Kalender, Terminplaner, Rechner, Datenbank, Notiz­buch, Enzyklopädie, Sprachdolmetscher, Mobilfunk-Telefon, Radio/TV, Photoapparat, Navi­ga­­tions­system und ähnliches. Er war auch gleichzeitig der persönliche Identitätsnachweis, er­setz­te also den in früheren Zeiten üblichen Personalausweis und Reisepaß, er war Ver­siche­rungsausweis, Kfz-Führerschein, Mitgliedsausweis jedweder Vereinigung, und er war zudem das Mittel für den bargeldlosen Zahlungsverkehr – und es gab nur noch solchen, da man das Bargeld mit der Einführung des PACCS in Europa völlig abgeschafft hatte. Damit war der PACCS praktisch das wichtigste Utensil überhaupt, das jede Person besaß und auch ständig bei sich trug. Entsprechend sorgsam mußte man damit umgehen; vor allem galt es, den Zugangscode gut zu hüten. Dieser mußte über mehrfaches Berühren einer Sensor­taste, durch die der Finger­abdruck aufgenommen wurde, in einer vom Besitzer selbst vor­pro­grammierten Weise, die Reihenfolge unterschiedlicher Finger sowie den Eingabe-Rhythmus betreffend, ein­ge­­geben werden. Dies war die einzige Taste an dem Gerät. Alle anderen Ein­gaben wurden per Sprachbefehl über ein integriertes Mikrophon getätigt, während alle Aus­gaben auf einem integrierten Display dargestellt oder direkt in einem kleinen Ohrhörer verbal ausgegeben wur­den. Daneben verfügte jeder PACCS über eine Funkschnittstelle zum Infor­mations­aus­tausch mit anderen Computern, direkt oder über das WorldNet, zum Übertragen von Telefon­gesprä­chen oder eben zum Geldtransfer. Alle Spracheingaben wurden kontinu­ier­lich durch einen integrierten Stimmen-Analysator auf Identität mit dem gespeicherten Sprachmuster des Besitzers geprüft. Das war als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme gegen Mißbrauch eingebaut; so reagierte PACCS grundsätzlich nur auf die Stimme „seines Herrn“. Alle wichtigen Eingabe­befehle, wie zum Beispiel Geldbeträge und Empfänger im Zahlungs­verkehr, wurden grund­sätzlich vor Ausführung auf dem Display dargestellt und mußten durch ein „ja“ oder „okay“, oder was sonst der jeweilige Besitzer vorprogrammiert hatte, nochmals bestätigt werden, um Fehl­anweisungen möglichst weitgehend auszu­schließen. Die meisten Leute trugen ihren PACCS am Handgelenk wie früher die Arm­band­uhren. Gehäuse und Display waren in diesem Fall leicht gewölbt, um sich der Form des Unterarms anzupassen. Es gab aber auch eine ganze Reihe von Frauen, die – wie auch Ellen Eppelmann – das Gerät, als Schmuckstück gestaltet, an einer Halskette trugen. Für die Sprachausgabe, zum Beispiel bei Telefongesprä­chen, gab es einen speziellen Ohr-Clip mit Kleinstlaut­sprecher, der die Sprach­signale über die Funkschnittstelle des PACCS empfing.

      Ganz „Fortschrittliche“ – Menschen, die sich jedenfalls als solche empfanden – verfügten bereits über ein Hirnimplantat, das heißt, einen am Kopf unter die Haut implantierten elektronischen Chip mit künstlicher Intelligenz und neuronaler Vernetzung über eine entsprechende Gehirn-Computer-Schnittstelle aus Hunderten haarfeiner Mikroelektroden, was sie zum direkten Gedankenaustausch mit dem Computerchip und darüber hinaus auch zu anderen Computern befähigte. Auf diese Weise kombinieren diese Menschen ihre Intelligenz, ihre Kenntnisse und kreativen Fähigkeiten mit der künstlichen Intelligenz, der Speicherkapazität, der Schnelligkeit und Präzision des Computerchips, was ihnen auf eine völlig neue Art zu denken, zu kommunizieren und zu erschaffen erlaubt. Solche Menschen, bei denen sich ihr Organismus mit technischen Implantaten zu einer hybriden Lebensform verbindet, bezeichnet man als „Cyborgs“ – ein Akronym von cybernetic organism. Allerdings scheuten noch immer die meisten Menschen davor zurück, weil damit ja doch ein nicht ungefährlicher Eingriff in das Gehirn verbunden war.

      Die PACCS und die Computer-Implantate, diese kleinen, aber äußerst leistungsfähigen Universal-Computer, verfügten über eine enorm große Speicherkapazität, denn mit der hier eingesetzten Technologie wurde nicht nur die elek­trische Ladung, sondern auch die Eigenrotation von Elektronen, der sogenannte Spin, zur Datenspeicherung genutzt. Das verwendete Material, das über eine sehr hohe Spin-Polarisa­tion verfügte, ermöglichte eine extreme Miniaturisierung der Scheichermedien. Dane­­ben aber hatte diese Technologie den weiteren Vorteil gegenüber herkömmlichen Silizium­chips, daß die Informationen fest gespeichert wurden, so daß sie bei einem Ausfall des Akkus nicht verlorengehen konnten.

      Die Chips waren äußerst dünn – dünn wie eine Folie. Die PACCS konnten von den Trägern im un­ge­­nutzten Zustand zu einer kleinen Rolle zusammengerollt werden.

       Jeder fingerte an der Sensortaste seines PACCS, um diesen betriebsbereit zu schalten, hielt ihn dann an den Mund und sagte leise: „Kalender“, woraufhin auf dem Display der je­weilige persönliche Terminkalender abgebildet wurde. Da man sich schon darauf ver­ständigt hatte, daß es ein Samstag sein sollte, an dem man sich zusammensetzen wollte, sagte jeder in sein Gerät: „Samstag“, worauf der nächste Samstag mit allen eingetragenen Terminen angezeigt wurde. Jiao hörte, wie Herr Eppelmann mehrfach sagte: „weiter“, „weiter“, „weiter“, „weiter“.