Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Und das auch nur, weil wir so viele unterschiedliche Varianten durchrechnen müssen. Ein einzelner Durchlauf über den betrachteten Zeitraum von fast zwei Millionen Jahren dauert am Computer ja angesichts der heute verfügbaren Prozessor­leistung nur ungefähr knapp zwei Stunden. Aber dann die Auswertung der Millio­nen und Aber­millionen von Simulationen – das wird trotz Unterstützung durch entsprechende Bewertungs­programme neben der Modellierung die allermeiste Zeit kosten.“

      „Na, dann viel Spaß dabei!“ sagte Jie, räkelte sich und gähnte herzhaft.

      „Ich bin auch schon total müde“, sagte Jiao. „Können wir die Sitzung vertagen?“

      „Oh ja, es ist ja schon so spät!“ bemerkte Chan, als sie auf die Uhr schaute. „Also ab ins Bett!“

      „Wetten, daß ich als erster im Bett bin?“ rief Jie, sprang auf und rannte davon. Long und Jiao folgten ihm, und ihre Eltern amüsierten sich darüber.

      Die Party

       Zwei Wochen später. Es war schon eine Bombenstimmung im Hobbyraum, als Qiang und Chan so gegen neun Uhr mal reinschauten. Es mußten wohl so an die dreißig Leute in dem Raum sein. Es war heiß und stickig. Laute Musik, es waren offenbar Oldies aus der Zeit um die Jahr­tausendwende oder frü­her, und das Licht im Raum verfärbte sich im Rhythmus der Musik, manchmal harmonisch flie­ßend, manchmal blitzlichtartig pulsierend, stroboskopisch. Je nach Einstellung des Modula­tors wurde das Frequenz­band des sichtbaren Lichts ent­weder kontinuierlich durch­laufen, oder die Einzelfrequenzen wurden ‚durch­gesteppt‘ mit dem Effekt, daß die Regen­bogenfarben ein­zeln nacheinander aufleuchteten und wieder abklan­gen. Eine wogende Menschenmenge tauch­­te mit jedem neuen Lichtblitz wieder aus dem abgedunkel­ten Raum auf.

      Nachdem sich ihre Augen einigermaßen an das „Blitzlichtgewitter“ adaptiert hatten, ent­deck­ten Qiang und Chan ihre Tochter in dieser brodelnden Menge, wie sie ihnen zuwinkte. Sie tanzte offenbar gerade mit Alexander Eppelmann und schien sich gut zu amüsieren. Nach­dem sie eine Weile in der Tür gestanden und dem munteren Treiben zugeschaut hatten, zupfte Qiang seine Frau am Ärmel und machte eine Geste zum Gehen.

      „Ja, ich denke, wir ziehen uns jetzt wieder zurück“, sagte Chan. „Die Jugend unterhält sich offen­bar sehr gut, da stören wir nur.“

      „Musik leiser!“ rief eine Stimme aus dem Dunkel, und langsam nahm die Lautstärke ab.

      „Musik lauter!“ rief sogleich eine andere Stimme, und langsam nahm die Lautstärke zu.

      „Hey, was soll das?“ tönte wieder die erste Stimme. „Das ist doch viel zu laut, da kann man sich ja überhaupt nicht unterhalten!“

      „Du sollst ja auch nicht quatschen, sondern tanzen!“ kam prompt die Antwort, während die Laut­­stärke immer weiter zunahm.

      „Musik leiser!“ kommandierte wieder der erste, und während die Lautstärke langsam ab­nahm, rief er: „Wieso brauchst du zum Tanzen so laute Musik? Du sitzt doch nicht auf deinen Ohren!“

      „Stopp!“ rief der andere, und die Lautstärke veränderte sich nicht mehr. „Diese Musik muß man einfach so laut hören!“

      „Dann machen wir eben eine andere Musik“, entgegnete der erste und kommandierte: „Pro­gramm 6!“ Das Beat-Programm verstummte augenblicklich, und es erklang Elvis Presleys: „Love me tender“. „Musik leiser!“ rief der erste nochmal, und jetzt kam kein Protest mehr. Als die Lautstärke ein erträgliches Maß erreicht hatte, rief er wieder: „Stopp!“

      Es war Jie, der mit einigen Freunden in einer Ecke saß und sich durch die laute Musik in seiner Unterhaltung erheblich gestört fühlte. Erst jetzt, als die Musik angenehm leise den Raum durchschwebte und die Pärchen eng aneinander geschmiegt und schmusend auf der Tanzfläche herumrutschten, war es wieder möglich, die unterbrochene Unterhaltung fort­zu­setzen.

      „So, jetzt . . .“, nahm Jie den Gesprächsfaden wieder auf: „Kannst du nochmal wiederholen, was du vorhin gesagt hast; ich habe es akustisch nicht verstanden“.

      „Ich sagte: Mit der ‚Zeit‘, das ist schon ein Phänomen“, antwortete Trendy. „Für die einen ver­geht sie viel zu schnell und für die anderen viel zu langsam. Dabei geht sie doch für alle gleich schnell oder langsam.“

      Trendy, ein Mitschüler von Jie, hatte diesen Spitznamen bekommen, weil er sehr viel Wert auf sein Äußeres legte und immer recht modebewußt gekleidet war. Der Dritte in dieser Gesprächsrunde war Chimney, den sie so nannten, weil er rauchte wie ein Schlot. Und ihn, Jie, nannten sie halt einfach Chino, weil er ein Chinese war. Und das war nicht als Belei­di­gung oder irgendwie abwertend gemeint. Das war einfach sein Rufname geworden – so, wie sie einen Mit­schüler russischer Abstammung Russki nannten, einen anderen Sput­nik. Sie hatten sich in ihrer Jahrgangsstufe alle so charakteristische Spitznamen gegeben. Außerdem gehörten zu dieser Clique noch Drinky, der für seinen reichlichen Alkohol­kon­sum bekannt war, und Eppel, das war schlicht die Abkürzung für Gerd Eppelmann.

      „Naja, daß auch die Zeit ‚relativ‘ ist, das wissen wir ja schon seit Einstein“, entgegnete Jie. „Aber das ist natürlich nicht der Punkt, den du meinst, ich weiß schon. Was du meinst, das ist das Zeit­gefühl jedes Menschen."

      „Ja genau!“ pflichtete Trendy ihm bei. „Der eine empfindet Streß und Hektik, während ein anderer zur selben Zeit gähnende Langeweile verspürt. Das ist doch verrückt, oder?“

      „Verrückt oder nicht. Es zeigt jedenfalls, daß unser Zeitgefühl sehr beeinflußbar ist. Es hängt offen­bar davon ab, was wir gerade tun – ob es etwas ist, das uns Spaß macht und uns interessiert, oder ob es uns eben nicht interessiert oder gar stupide ist. Im ersten Fall sind wir so beschäftigt, daß wir gar nicht bemerken, wie schnell die Zeit vergeht. Im zweiten sind wir so unterbeschäftigt, daß wir vor lauter Langeweile dauernd nach der Uhrzeit schauen und des­halb den Eindruck haben, die Zeit verginge viel zu langsam.“

      „Also“, resümierte Trendy für sich, „je mehr Interessen ich habe und je mehr Aufgaben ich übernehme, desto schneller vergeht für mich die Zeit – und umso größer ist die Gefahr, daß ich vor lauter Streß und Hektik noch krank werde.“

      „Genau! Und warum solltest du es also machen?“ fragte Chimney.

      „Warum sollte ich was machen?“

      „Ich habe mal in einer alten Zeitschrift gelesen, daß mehr als zwei Drittel aller Menschen in Deutschland über Zeitnot kla­gen und mit Recht fürchten, sie könnten krank davon werden. Dabei ist es doch kein Natur­­gesetz, daß alles im Turbo-Tempo ablaufen muß. Jeder Mensch ist doch selber Herr seiner Zeit­planung“, analysierte Chimney. „Also warum willst du so ein gestreßter Getriebe­ner sein?“

      „Ich will ja nicht“, entgegnete Trendy. „Aber wir werden doch schon von klein auf unter Zeit­druck gesetzt: Schnell, schneller, am schnellsten – los, beeil‘ dich! Bei den Erwachsenen heißt das dann: Zeit ist Geld. Ein Ökonom, ich glaube, er hieß Nicholas Georgescu-Roegen, hat das ungefähr mal folgendermaßen ausgedrückt: ‚Ich rasiere mich schneller, damit ich mehr Zeit habe, eine Maschine zu erfinden, mit der ich mich noch schneller rasieren kann, damit ich noch mehr Zeit habe ...‘. Er wollte damit veranschaulichen, daß wir uns eigentlich alle in einem Teufelskreis bewegen.“

      „Ja, also, nochmal meine Frage: Warum solltest du das Tempo mitmachen?“ wiederholte Chimney seine Frage. „Warum sich zum Sklaven der schnellebigen Zeit machen? Zeitdruck macht nicht nur krank, es produziert bekanntermaßen häufig auch Mißerfolge! Beispiele dafür gibt es mehr als genug. Die einzig vernünftige Konsequenz ist doch: Tempo drosseln; Schluß mit der Hetze. Leiste dir den Luxus der Langsamkeit und lebe nach der Devise: ‚Weniger ist Mehr‘. Glaub‘ mir, jeder Mensch könnte deutlich mehr Kontrolle über seine Zeit haben, als er sich eingesteht – wenn er nur wollte.“

      „Das mag schon sein“, räumte Trendy ein. „Aber wenn du dich vom Zeitdruck befreien willst, dann mußt du auf alles mögliche verzichten, und zwar nicht