Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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und dadurch mehr Lebensqualität zu erlangen, dann verharrst du eben im Zyklus eines fragwürdigen Aktionismus‘ bei der Jagd nach neuen Erlebnissen und materiellem Wohlstand. Dann lebst du halt schnell, bist aber ver­mut­lich auch schneller am Ende und hast in gewisser Weise das Leben verpaßt. Solche Men­schen können in der Regel mit sich allein nichts anfangen, weil sie sich selbst nicht ge­nug sind, und fliehen daher in die Aktivität, fliehen vor sich selbst. Sie leiden unter Aktivi­täts­­depres­sion. Wenn du dagegen dein Leben auch genießen und über mehr persönliche Frei­heit verfü­gen willst, dann darfst du dir nicht zu viel Arbeit aufhalsen, darfst nicht jedem Event nachjagen und mußt die Bedeutung von Erfolg, Anerkennung und Wohlstand für dich neu definieren. Das ist keine leichte Aufgabe, denn das aktionistische Verhalten wird ja gesell­schaftlich nicht nur akzeptiert, son­dern sogar mit Leistungsbereitschaft gleichgesetzt. Aber der Verzicht wird sich letztlich als Gewinn entpuppen, denn durch ein Mehr an Ruhe, Lang­sam­keit, Beschau­lich­keit und Muße wer­den ganz neue Kräfte frei, insbesondere wird die Kreativität mobili­siert.“

      „Welch professorale Ausführungen aus dem Munde eines zehnjährigen Hosenscheißers!“ be­merk­te Trendy, der selber gerade mal drei Monate älter war als Jie, teils ironisch, teils beein­druckt, denn er war beim Zuhören in der Tat ganz nach­denklich geworden.

      Die Ironie seines Gesprächspartners geflissentlich überhörend, fuhr Jie ungerührt fort: „Und ich setze sogar noch einen drauf! Ich sage dir, Zeit ist das wertvollste aller Geschenke des Le­bens, aber wir wissen das gar nicht richtig zu schätzen.“

      „Machst du denn irgend etwas anders als die anderen Menschen?“ wollte Trendy wissen. „Ich meine, wenn du schon so klugscheißerisch daher redest, dann wäre es doch nur kon­se­quent, wenn du deine Erkenntnisse nicht nur über andere ergießt, sondern zumindest mal an dir sel­ber ausprobierst, oder?“

      „Ja, natürlich!“ parierte Jie sofort. „Ich kann da mittlerweile auf zehn Jahre Erfahrung zurück­schauen!“

      Trendy kicherte los: „Hast dir schon an der Mutterbrust viel Zeit gelassen, was?“

      „Ja klar! Da ganz besonders! Und ich hab‘ viel Spaß dabei gehabt“, scherzte Jie zurück. „Aber davon mal abgesehen“, versuchte Jie das Gespräch wieder auf die sachliche Ebene zu brin­gen, „habe ich mir eigentlich, solange ich zurückdenken kann, immer genug Zeit ge­lassen bei allem, was ich gerade tat. Lieber habe ich irgend etwas weggelassen, als daß ich mich in hek­tischem Aktionismus ereifert hätte. Das war wohl schon immer ein Teil meines Naturells. Und nach­dem ich dann mit Tai Chi begonnen hatte, war für mich die Ruhe im Handeln ganz bewußt zu einer Maxime geworden. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Worte meines Vaters, der mir ja Tai Chi beigebracht hat: ‚Du mußt deine Bewegungen so langsam machen, daß selbst die Luft nicht verletzt wird‘. Hört sich irgendwie verrückt an, nicht? Ich werde diese Worte nie vergessen. Aber so funktioniert Tai Chi: Ruhige, gleich­förmige, harmonische Bewe­gun­gen in der Meditation. Kein Zeitdruck, kein Streß, keine Hek­tik, sondern innere Ruhe des Geistes und äußere Ausgeglichenheit in der Bewegung. Wenn du dazu nicht bereit bist, brauchst du damit gar nicht erst anzufangen.“

      „Das hast du schön gesagt, Chino!“ bemerkte Trendy und überließ es seinem Gesprächs­part­ner, die­­­­se Aussage als Ausdruck von Bewunderung oder doch wieder als Ironie zu deu­ten.

      „Danke!“ sagte Jie selbstbewußt.

      „Und, hast du auch schon mal Langeweile gehabt?“

      „Nein, noch nie!“

      „Wäre ja immerhin möglich. Wenn du nie Zeitdruck und Streß hast, könnte es ja umgekehrt so sein, daß für dein Zeitgefühl die Uhr zu schleichen scheint, daß du die Zeit praktisch tot­schla­gen mußt. Und dann wirkt das Leben nur noch langweilig.“

      „Und du wirst depressiv, desinteressiert und hoffnungslos!“ ergänzte Jie. „Nein danke! Die­sen Zustand kenne ich zum Glück nicht – und will ich auch nie erfahren! Was wir jetzt gerade diskutieren, das sind für mich zwei Extremfälle. Worauf es nach meiner Auffassung im Leben aber ankommt, ist, möglichst die goldene Mitte zu treffen, Ausgeglichenheit in jeder Bezie­hung zu finden. Extreme Positionen wirken sich immer irgendwie nachteilig aus, entweder für den Betreffenden, der diese Position vertritt, selbst oder für die anderen um ihn herum. Sie bringen Unruhe und Störungen in dein eigenes Leben und in die Gesellschaft. Das wider­spricht der konfuzianischen Soziallehre, nach der ich erzogen worden bin, und deren erklär­tes Ziel das Streben nach Harmonie ist. Wenn du also, um keine Langeweile zu empfinden, für dich genügend Abwechslung fin­dest ohne dich dabei unter Zeitdruck zu fühlen, dann hast du einen Zustand der Harmonie erreicht, dann fühlst du dich wohl und kannst dein Leben genießen.“

      „Hey! Was ist denn mit euch drei Quasselstrippen los?“ wurden sie plötzlich und unver­mittelt aus ihrem Gespräch gerissen. „Hier ist Party angesagt! Für Intim­gespräche habt ihr euch einen sehr ungeeigneten Platz ausgesucht!“

      „Ja, ja! Komm, geh tanzen! Und laß uns in Ruhe!“ wehrte Jie ab.

      „Man, oh Mann, seid ihr dröge!“ Dann war er auch schon wieder in der Menge verschwun­den, und die Drei setzten ihr Gespräch fort.

      „Eigentlich komisch, daß wir kein Sinnesorgan für die Zeit haben, wo sie uns doch so wichtig ist“, bemerkte Trendy.

      „Ein Sinnesorgan für die Zeit? Wie kommst du denn darauf?“ fragte Chimney.

      „Na, warum denn nicht? Für Licht haben wir die Augen, für Schall die Ohren, für Geruch die Nase, für Geschmack die Zunge und für Berührung die Haut. Und sogar für unsere Lage im Raum haben wir einen Gleich­gewichts­sensor im Ohr. Also warum haben wir keinen für die Zeit? Auf einen mehr oder weniger wäre es doch nun wirklich nicht angekommen. Hat uns also die Natur schlecht ausgestattet?“

      „Nein, sicher nicht. Wieso auch? Anders als die von dir aufgezählten Sinneseindrücke ist doch die Zeit nicht überlebenswichtig für uns“, gab Jie zu bedenken. „Alle Tiere kommen doch sehr gut ohne Zeitmesser aus. Nur der Mensch glaubt, sie messen zu müssen – und das sogar höchst präzise. Die Uhr ist im Grunde ein Zivilisationsprodukt, die Natur braucht sie nicht.“

      „Okay! Die Uhr vielleicht nicht, aber ein Zeitgefühl schon“, widersprach Chimney. „Denn auch die Tiere richten ihren Lebensrhythmus nach den Jahres- und Tageszeiten aus.“

      „Ja, genau!“ bestätigte Trendy. „Alle Zugvögel, wie zum Beispiel die Stare, haben eine Art innere Uhr, die sie alles zur richtigen Zeit tun läßt: Sie wissen beispielweise instinktiv, wann Paarungszeit ist und wann sie in den Süden fliegen müssen. Außerdem orientieren sich die Zugvögel noch an der Tageslänge.“

      „Ja, gut. Du meinst die biologische innere Uhr aller Lebewesen, die sich mit dem Tag-Nacht-Wechsel und anderen natürlichen Zyklen synchronisiert“, bestätigte Jie, „ . . . und die übri­gens auch ohne Bezug zu äußeren Zeitrhythmen funktioniert, wie Bunker-Experimente mit frei­willigen Versuchspersonen gezeigt haben. Die ist als Produkt evolutionärer Anpassung aller Lebewesen an die Umweltgegebenheiten schon genetisch verankert. Und die ist auch überlebenswichtig, weil alle einen Wach-Schlaf-Rhythmus einhalten und den jahreszeitlichen Temperaturwechseln durch entsprechende Anpassungsmaßnahmen gerecht werden müs­sen. Aber das ist ja eine reine Anpassung an natürliche Gegebenheiten und hat nicht primär mit der Zeit zu tun! Dafür ist es doch völlig Wurscht, wie spät es gerade ist!“

      „Da hast du auch wieder recht“, mußte Chimney zugeben. „Also bleibt es tatsächlich dabei, daß wir über ein Zivilisationsprodukt reden“.

      „Soweit es die Uhr anbetrifft, ja. Aber wir reden ja ganz allgemein über die Zeit, und die ist natürlich kein Zivilisationsprodukt“, korrigierte Jie.

      „Weißt du eigentlich, wie die Zeiteinteilung zustande gekommen ist?“

      „Ja, genau das habe ich mich auch schon mal gefragt. Und dazu habe ich eine Textpassage auf der Web-Site der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) gefunden, die da lau­tet:

      ‚Das