Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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ging dann in den Garten, um ihre morgendlichen Übungen zu machen. Anschließend ging sie duschen, aß zwei, drei Baozi und meldete sich dann mit einem: „All right, Mam, I´m ready to go now bei Chan zum Abmarsch.

      Es war ein schöner, sonniger Tag, und so gingen sie, sommerlich leicht bekleidet, über den Runway zur nächsten Busstation. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Bus kam. Sie stiegen ein und waren nach knapp zehn Minuten in der Innenstadt.

      Die Geschäfte hatten gewöhnlich jeden Tag geöffnet, wochentags in der Regel von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends, Sonntags von zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends. Das konnte zwar jeder Geschäftsinhaber ganz individuell so regeln, wie er es für richtig hielt, denn Vorschriften bezüglich der Öffnungs­zeiten gab es schon lange nicht mehr, aber fast alle hielten ihren Laden während dieser ganzen Zeit geöffnet. Das war ein sehr großer Vorteil für die Kundschaft, denn Einkaufen-müssen unter Zeitdruck und in völlig überfüllten Geschäften, das war vorbei. Man konnte jetzt völlig streßfrei, ganz entspannt und ohne Ge­dränge durch die Geschäfte gehen, ein richtiges Vergnügen.

      „Ich möchte heute auch mal wieder in die kleine Mode-Boutique am Münster reinschauen, die haben immer so süße Sachen“, sagte Jiao.

      „Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Chan ihr bei. „Da kaufe ich auch sehr gerne ein. Die Verkäuferin ist ausgesprochen nett, und sie kann einen wirklich fachmännisch und gut bera­ten, ohne einem nach dem Munde zu reden oder gar aufdringlich zu werden. Ich habe bisher noch keinen einzigen Einkauf dort bereuen müssen.“

      Sie kannte diese Verkäuferin schon seit ein paar Jahren, denn sie hatte das Geschäft schon bald, nachdem sie nach Ulm gezogen waren, entdeckt und seitdem mehr oder weniger regel­­mäßig dort eingekauft. Die Verkäuferin war ihr sehr sympathisch, und sie hatte wirklich Ahnung von ihrem Metier und einen guten Geschmack. Sie hatte auch einen sicheren Instinkt dafür, welche Garderobe zu welchem Typ paßt, und konnte ihre Kunden daher ent­sprechend gut beraten.

      Am Bahnhof angekommen, sagte Chan: „Du, mir fällt gerade ein, daß wir für heute abend noch ein paar Lebensmittel einkaufen müßten. Das machen wir am besten gleich jetzt am Anfang, dann ist es erledigt, und wir müssen uns damit nicht mehr belasten.“

      „Aber das können wir doch auch von zu Hause aus via WorldNet erledigen“, wandte Jiao ein.

      „Natürlich, könnten wir“, entgegnete Chan, „aber ich suche mir die Sachen lieber durch eige­ne Inaugenscheinnahme aus als über den Bildschirm.“

      „Da bist du vielleicht doch ein wenig altmodisch“, bemerkte Jiao schmunzelnd.

      „Nenn’ es, wie du willst. Mir ist es jedenfalls lieber so.“ Sie machte eine kurze Pause, dann ergänzte sie: „Du schaust dir die Sachen ja offensichtlich auch lieber vorher an, bevor du sie kaufst. Sonst würdest du ja heute nicht mit mir diesen Einkaufsbummel machen.“

      „Ja, ja. Aber es ist doch etwas anderes, ob ich Lebensmittel oder Klamotten kaufe. Kla­motten will ich selbstverständlich erst in Natura sehen, bevor ich mich entscheide. Außerdem muß ich sie ja auch vorher anprobieren, um zu sehen, ob sie mir überhaupt passen und ob sie mir auch stehen.“

      „Der Einwand ist berechtigt“, gab Chan zu, „aber ich möchte eben auch die Lebensmittel mit eigenen Augen in Natura sehen, bevor ich sie kaufe. Altmodisch hin oder her.“

      „Na gut, dann gehen wir halt jetzt die Lebensmittel aussuchen.“

      Sie gingen in das große Einkaufszentrum am Bahnhof, in die Lebensmittelabteilung. Am Ein­gang der Abteilung bekamen sie ein kleines Fernbedienungsgerät in die Hand gedrückt, das sie an der Kasse später wieder abgeben sollten. Es hatte ein kleines Display und ver­schie­dene Tasten, mit Hilfe derer sie die gewünschten Artikel auswählen konnten. Im Laden waren die Artikel sehr über­sichtlich in langen Regalen, eines neben dem anderen, aufgereiht – jeweils immer nur ein Ansichtsexemplar pro Artikel und davor ein Schild mit einer kurzen Artikel­beschrei­bung und dem Preis. Sie gingen zügig durch die Reihen, und hier und da hielt Chan die Fernbedienung auf einen Artikel gerichtet, las dann auf dem Display die Artikel­bezeichnung und den Preis, um sicher zu gehen, daß sie den gewünschten Artikel ‚getroffen‘ hatte, und gab schließlich die gewünschte Stückzahl mit Hilfe der Tastatur ein. Das Display zeigte den Preis ‚Artikel mal Anzahl‘ und darunter den Gesamtpreis aller bisher ausgewähl­ten Artikel. Es dauer­te kaum fünf Minuten, da hatten sie alles geordert und standen an der Kasse. Chan hatte schon auf dem Weg dorthin auf die Taste ‚Warenausgabe‘ an der Fern­bedienung gedrückt, und sogleich kam ein Warenkorb mit den ausgewählten Artikeln auf dem Förderband angerollt. Die ‚Heinzelmännchen‘, so nannten sie hier die Roboter, die im Lagerraum alle im Laden ausge­wähl­ten und über Funk gemeldeten Artikel für jeden Kunden zusammen­trugen und im Waren­korb auf das Band stellten, hatten so schnell gearbeitet, daß die beiden nicht warten mußten. Chan warf einen prüfenden Blick auf den Inhalt, insbeson­dere auch auf den Frische-Zustand von Obst und Gemüse, und stellte fest, daß alles in Ord­nung war. Deshalb betätigte sie jetzt die Taste ‚Bestätigen‘ auf der Fern­bedienung, worauf der Kassenbon ausgedruckt wurde. „Okay“, sagte sie zu der Kassiererin, „liefern sie mir bitte die Ware bis spätestens sieben Uhr nach Hause.“

      „Ja, gern“, antwortete die Kassiererin.

      Es gehörte einfach zum Service, daß den Kunden die eingekauften Waren nach Hause ge­lie­fert wurden.

      Chan holte ihren PACCS hervor und aktivierte ihn. Dann sprach sie hinein: „Ident-Code“. Nach­dem dieser gesendet war, hatte PACCS als Antwort den Rechnungsbetrag von der Kasse empfan­gen und auf seinem Display dargestellt. „Okay“, bestätigte Chan, nachdem sie die Rich­tig­keit des Betrages geprüft hatte, und der Rechnungsbetrag wurde von ihrem Fami­lienkonto abgebucht. „Adresse“, sagte sie dann in den PACCS, woraufhin dieser Straße, Hausnummer und Koordinaten ihrer Wohnung an das Kassenterminal sendete. Auf ihrem Display las sie die Antwort: ‚Danke für ihren Einkauf, die Ware wird sofort geliefert.

      Damit war die Pflichtübung beendet, jetzt konnten sie gewissermaßen zur Kür übergehen. Sie schlenderten gemächlich die Hirschstraße Richtung Münster entlang. Unterwegs schau­ten sie sich die Auslagen in den Schaufenstern an, gingen in einen und den anderen Laden hinein, begut­achteten dieses und jenes, probierten hier ein Blüschen und dort ein Jäckchen, kauften ein paar nette ‚Teile‘ und hatten gerade beschlossen, die Shoppingtour zu beenden, denn sie fühlten sich allmählich etwas ermüdet vom langsamen Gehen und vielen Stehen, als Jiao plötzlich laut jauchzte vor Freude und wild gestikulierend auf eine Modepuppe zeig­te: „Schau mal Mam, ist der Pulli nicht süß? Du, der gefällt mir! Was meinst du, ob der mir paßt?“

      „Hm . . . Ja, . . . der sieht nett aus“, pflichtete Chan ihrer Tochter etwas bedächtig bei.

      „Nett? Der ist doch bildhübsch!“ protestierte Jiao. „Ich finde den einfach super!“

      „Ja, wenn er dir so gut gefällt, dann probier‘ ihn doch mal an“, ermunterte Chan sie.

      „Ja, meinst du wirklich, ich soll?“

      „Natürlich, warum denn nicht?“

      Jiao zögerte. „Hm . . . Naja, . . . die Sache ist die: Ich weiß nicht, ob mein Budget das noch her­­gibt.“

      „Ach so!“ zeigte Chan sich erstaunt. „Bist du schon wieder am Limit, obwohl wir noch nicht einmal den Fünfzehnten haben?“

      Jiao zögerte einen Moment, schaute noch einmal wehmütig zu dem schönen Pulli rüber und sagte dann fest entschlossen: „Du hast recht! Ich muß endlich Haushalten lernen. Komm, laß uns gehen!“

      Das hatte Chan nun auch wieder nicht gewollt. Sie fühlte, wie groß der Wunsch ihrer Tochter war und wie sehr sie jetzt enttäuscht sein mußte. Deshalb sagte sie: „Jetzt probier‘ ihn doch wenigstens erst mal an. Vielleicht paßt er dir ja gar nicht, oder er steht dir nicht. Dann hast du dich wenigstens nicht umsonst geärgert.“

      Jiao zögerte noch.

      „Nun