Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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zu sein. Das solltet ihr dringend mal wieder trainieren.“

      Kurze Pause, während der er allen dreien nacheinander erwartungs­voll und bestimmt zu­gleich in die Augen schaute. „Also, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wann wir unsere letzte ‚Tarifverhandlung‘ hatten – das ist jetzt gerade mal acht Monate her! Und was die Inflation anbetrifft, mein Sohn, müßtest du wissen, wenn du dich tatsächlich dafür interes­sier­test, daß die seit längerer Zeit sehr moderat gewesen ist.“

      Die Kinder waren einen Moment sprachlos. Diese Antwort bot ihnen keinerlei ‚Angriffsfläche‘. Sie war offenbar faktisch richtig, jedenfalls klang es alles sehr überzeugend. Einen Gegen­beweis konnten sie nicht antreten. Ihnen fehlten die Argumente, das merkten sie jetzt sofort. Sie hatten ihr Ansinnen nicht gut vorbereitet.

      So blieb Jiao nur der ‚geordnete Rückzug‘: „Schade! Aber einen Versuch war’s wert. Mir kommt es jedenfalls so vor, als wenn alles viel teurer geworden ist in der letzten Zeit.“

      „Es mag schon sein, daß es dir so vorkommt, weil du dauernd ‚Ebbe‘ im Portemonnaie hast“, entgegnete Qiang. „Aber ich denke, das liegt weniger an gestiegenen Preisen, als vielmehr an dei­nen gesteigerten Ansprüchen und Wünschen.“

      „Also, so anspruchsvoll bin ich ja nun wirklich nicht!“ protestierte Jiao. „Da mußt du erst mal die anderen in meiner Jahrgangsstufe sehen, was die sich alles leisten können!“

      „Was die anderen machen, ist für mich nicht beispielgebend. Ich entscheide so, wie ich es für richtig halte. Und ich vertrete die Auffassung, das weißt du auch schon länger, daß man bereits in frühem Alter lernen sollte, den Wert der Dinge richtig einzuschätzen und nicht ver­schwenderisch damit umzugehen – so etwa nach der Devise: Einmal getragen und dann weg damit; dann muß Neues her.“

      „Das habe ich noch nie so gemacht, das weißt du auch!“ protestierte Jiao heftig.

      „Ja, das weiß ich, und darüber bin ich auch sehr froh“, entgegnete Qiang beschwichtigend. „Ich über­spitze es jetzt ganz bewußt ein bißchen, um zu verdeutlichen, was ich meine.“

      „Ein bißchen?“ monierte Jiao wieder.

      „Jetzt laß uns nicht um Worte streiten und jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen. Es geht mir ums Prinzip!“ entgegnete Qiang etwas ungehalten. „Ich war schon immer ein Geg­ner der sogenannten Wegwerfmentalität, und zwar nicht nur, weil ich davon überzeugt bin, daß es den Charakter verdirbt, wenn man ständig aus dem Vollen schöpfen kann, ohne sich den erreichten Wohlstand selbst erarbeitet und die dazu notwendigen Mühen am eigenen Leibe erfahren zu haben, sondern auch, weil es sich unsere ganze Gesellschaft nicht leisten kann, unsere immer knapper werdenden Ressourcen auf diese Weise sinnlos zu verschwen­den, ohne an die Lebenschancen der nachfolgenden Generationen zu denken. Die Produkte, die wir heute auf den Markt bringen, sind qualitativ so gut, daß sie jahrelang halten. Es besteht sach­lich überhaupt kein Grund, dauernd etwas Neues zu kaufen!“

      „Paps! . . . Ich kann doch nicht jahrelang mit denselben Klamotten rumlaufen! Selbst wenn sie noch ordentlich aussehen! Was sollen denn die anderen von uns denken? Außerdem kommen wir ja nun auch nicht gerade aus dem Armenhaus, wir können es uns ja leisten, mal was Neues zu kaufen“, widersprach Jiao sichtlich erregt.

      „Darum geht es doch gar nicht. Ich glaube, du hast mich immer noch nicht verstanden“, bemühte sich Qiang, geduldig zu bleiben. „Sieh mal, wir nagen glücklicherweise nicht am Hungertuch. Wir können es uns in der Tat leisten, öfter mal etwas Neues zu kaufen. Und das tun wir ja auch. Aber wir tun es nur dann, wenn wir es für nötig erachten, nicht weil wir unbedingt mal wieder etwas Neues haben müssen. Ihr sollt lernen abzuwägen, ob eine Sache jetzt wirklich notwendig und sinnvoll ist oder nicht; ob das alte Teil nicht vielleicht doch noch gut genug ist. Es geht mir um den Überfluß und die Verschwendungssucht! Ich bin der Meinung, ihr habt in der Tat keinen Grund, euch zu beklagen. Es geht euch gut, und ihr seid auch bestens bei uns hier versorgt. Ihr habt alles, was ihr braucht. Und selbst, wenn du über Mode redest, kannst du dich nicht beklagen. Du hast reichlich viele Sachen im Schrank, und du hast ein bestimmtes Budget, um dir hin und wieder ein paar neue Teile zu kaufen. Und nun lerne, damit umzugehen.“

      Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

      „Ich denke, das haben unsere Kinder schon gelernt, Qiang“, versuchte Chan behutsam zu ver­mit­teln. „Sie sind eigentlich nicht sehr anspruchsvoll, das kann ich wirklich nicht sagen. Diese Grund­einstellung zu den Werten, wie du sie gerade angesprochen hast und worauf es uns vor allem ankommt, die haben wir ihnen, denke ich, bereits nachhaltig vermittelt. Das schließt ja aber nicht aus, daß man gelegentlich denn doch mal den einen oder anderen Wunsch hegt, obwohl man es nicht unbedingt braucht. Es gibt ja auch Dinge, die einem auf Anhieb so gut gefallen, daß man sie – wie sagt man immer: ‚Um jeden Preis‘ – haben möchte.“

      „Genau!“ rief Jiao laut und deutlich dazwischen, um die Argumentation ihrer Mutter demon­strativ zu unterstützen.

      „Das geht uns Erwachsenen genauso wie den Kindern“, setzte Chan ihren Gedankengang fort. „Wir leisten uns ja auch hin und wieder Dinge, die wir nicht unbedingt brauchten, die uns aber eine besondere Freude bereiten. Solange sich das alles in überschaubarem und vertretbarem Rahmen bewegt, ist dagegen meines Erachtens überhaupt nichts einzu­wenden. Das gleiche Recht, das wir uns nehmen, müssen wir dann aber auch unseren Kindern zugestehen – zumindest, wenn wir den Eindruck haben, daß sie die Lektion gelernt haben. Also, langer Rede kurzer Sinn: Ich denke, unsere Kinder haben bereits verinnerlicht, was wir ihnen in dieser Hinsicht vermitteln wollten. Sie können im Großen und Ganzen recht gut mit dem ihnen anvertrauten Budget umgehen. Es besteht somit kein Anlaß zur Sorge für uns, sie könnten sich angewöhnen, über die Stränge zu schlagen. Deshalb müssen wir auch keine übertriebene Strenge demonstrieren.“

      Die Kinder bekamen ganz glänzende Augen und schauten erwartungsvoll auf ihren Vater.

      Qiang hatte seiner Frau aufmerksam zugehört, und ihre Argumentation schien ihn etwas nach­­denk­lich gemacht zu haben. Jedenfalls nahm er sich etwas Zeit, bevor er schließlich antwor­tete: „Ich denke, über zu große Strenge können sich unsere Kinder nun wirklich nicht bekla­gen. Und hier geht es auch nicht um Strenge, sondern um die Vermittlung von Werten bezie­hungsweise Wertvorstellungen, also um eine eher grundsätzliche Einstellung zum Leben und zu den Dingen unserer Welt. . . . Wenn wir hier mehrheitlich der Meinung sind, in diesem gerade diskutierten Punkt unser Ziel bereits erreicht zu haben, dann wäre ich schon sehr zufrieden.“

      Wieder legte er eine Pause ein, und noch immer schauten die Kinder gespannt und erwar­tungs­voll auf ihn, als wollten sie sagen: Nun mach’s nicht so spannend; sag endlich, ob wir einen Zuschuß bekommen oder nicht.

      „Dann wäre ich schon sehr zufrieden“, wiederholte er, „und dann wäre ich auch eher geneigt, wohlwollend über eure finanziellen Spielräume nachzudenken.“

      „Juhu!“ riefen die Kinder spontan und machten kleine Luftsprünge.

      Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über die Höhe ihrer Budgetsteigerungen, an de­ren Ende man sich gütlich auf einen für alle Seiten befriedigenden Kompromiß ver­ständigte.

      Die Wangs hatten, wie allgemein üblich, ein gemeinsames Bankkonto für die ganze Familie, das jedes Familienmitglied entsprechend seinem individuell festgelegten Verfügungsrahmen nutzen konnte. Da es Bargeld schon seit längerem nicht mehr gab, liefen sämtliche Geld­transfers auf rein elektronischem Wege ab. Bei jedem Transfer wurden automatisch von der Bank dreißig Prozent des Betrages eingezogen, wovon zwanzig Prozent als Steuer ans Finanzamt und zehn Prozent an die Sozialversicherung überwiesen wurden. So hatte dieses Verfahren für die Gesellschaft den großen Vorteil, daß keine Einkünfte mehr am Fiskus und an den Grundversicherungen vorbei geschleust werden konnten, und für jeden einzelnen, daß dadurch die Höhe der Steuer- und Versicherungsbeiträge auf ein vergleichsweise niedri­ges Maß reduziert wurde. Außerdem enthob es jeden Bürger von der lästigen Notwendigkeit, immer genügend Bargeld mit sich herumschleppen zu müssen, das man unter Umständen verlieren, das einem vielleicht auch mal gestohlen werden