Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Rolle eines Angeklagten gedrängt und glauben sich verteidigen zu müssen, wenn sie darauf angesprochen werden. Dabei sind ihre Beweggründe sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. So ein großes multi-ethnisches Staatsgebilde ist ein sehr fragiles Konstrukt, das leicht in sich zusammen­fallen kann. Das hat schon die Sowjetunion erfahren müssen. Und selbst das sehr viel kleinere Jugoslawien brach unter Ausübung furchtbarer Grausamkeiten und Massenmorde sehr schnell zusammen, als die klammer­bildende Staatsgewalt zu schwach wurde, um den Zusammenhalt zu gewährleisten. Man kann es den Chinesen gar nicht verdenken, wenn sie alles daran setzen, ihre staatliche Einheit unter allen Umständen zu erhalten und zu fördern, dachte sich Ellen. So gesehen haben sie bisher eigentlich alles richtig gemacht. Die Nation, der Staat, das Land und seine Bürger haben mehrheitlich davon profitiert. Die durch schnelle Entscheidungs­prozesse forcierte dynamische Entwicklung hat das Land binnen kurzer Zeit an die Weltspitze katapultiert und seinen Bürgern Wohlstand gebracht. Eigentlich beneidens­wert, diese Chine­sen, dachte Ellen jetzt. Auch Europa würde es ganz guttun, wenn sich ein größeres Gemein­schaftsgefühl, so eine Art Europa-Patriotismus, herausbildete und die Ge­mein­samkeiten stär­ker betont würden, anstatt immer noch mit 550 Millionen unterschied­lichen Zungen zu sprechen und sich über jeden Kleinkram end- und fruchtlose Debatten zu liefern.

      „Ja, ich glaube auch, daß das Zusammengehörigkeits­gefühl der Menschen für die Einheit einer Nation beziehungsweise einer Gesellschaft generell entscheidend ist und deshalb unbe­dingt gefördert und gepflegt werden sollte! . . . Was heißt sollte? Gepflegt werden muß!“, durch­brach Ellen, noch ganz in Gedanken versunken, unvermittelt die Stille. Und obwohl ihr dieser Gedanke nicht grundsätzlich neu war, kam es ihr in diesem Moment doch so vor, als hätte sie gerade eine ganz neue Erkenntnis gewonnen. Und – dachte sie sich – ich sollte mich dringend bemühen, solche Fragen oder Aussagen zu vermeiden, die auf diese Frau Li irgend­wie provokativ wirken können.

      Frau Li lächelte freundlich. Und auch Chan sah sie lächelnd an, während sie zu ihr sagte: „Viel­leicht erzählst du jetzt mal etwas über euer Ausbildungssystem, Ellen?“

      „Selbstverständlich, ja gern“, stimmte Ellen spontan zu. „Ich habe Sie ja wirklich lange genug gepeinigt mit meinen Fragen“, sagte sie Frau Li zugewandt.

      „Ja, unser Schulsystem – und ich beschränke mich jetzt mal auf das staatliche System; die unterschiedlichen Privatschulen, die es auch noch gibt, lasse ich zunächst mal außer acht – ist im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr verbessert worden“, begann Ellen zu erzählen. „Wir hatten in Deutschland ja mal ein dreigliedriges Schulsystem, wie Sie wahrscheinlich wissen. Das ist Vergangenheit. Statt dessen gibt es – inzwischen europaweit! – nur noch ein einheit­liches Ausbildungssystem mit gleichen Lehrplänen und Prüfungs­verfahren – allerdings mit ver­schiedenen Leistungsstufen. Irgendwie müssen wir ja auch differenzieren, aber darauf komme ich später noch zurück. Die herkömmlichen Lehrpläne und -methoden wurden gründ­lich überarbeitet und an die heutigen Erforder­nisse angepaßt. Der früher übliche Frontal­unterricht ist weitgehend ersetzt durch interaktives Erarbeiten von Lösungen für interessante, lebensnahe Aufgabenstellungen. Die Lehrer können sich jedem einzelnen Schüler sehr viel intensiver widmen als früher, weil auch die Klassen sehr viel kleiner sind, und nicht zuletzt dadurch haben die Schüler jetzt eine hohe Motivation zum Lernen.

      Sehr positiv wurde auch der bi-linguale Unterricht angenommen, das heißt, alle Fächer werden von der ersten bis zur letzten Klasse simultan in Englisch und der jeweiligen Landes­sprache unterrichtet, so daß man ohne Probleme von Polen nach Spanien oder von Finnland nach Griechenland ziehen kann. Denn Englisch versteht ja jeder, und als Ausländer kriegt man von der jeweiligen Landessprache auch gleich noch etwas mit. Daneben kann man selbst­verständlich noch jede andere Sprache auf freiwilliger Basis in separatem Unterricht erlernen.“

      Das europäische Schulsystem war in der Tat zu einem der besten der Welt geworden. Man konnte das schon rein äußerlich an der vorbildlichen Ausstattung der verschiedenen Ausbil­dungs­anstalten, an dem breiten Spektrum des angebotenen Lernstoffs wie auch an der Zahl der Lehrkräfte erkennen. Aber das eigentlich Entscheidende war die Qualität der Ausbil­dung; die hatte sich gegenüber früheren Jahren dramatisch verbessert. Erziehung und Ausbildung waren endlich konsequent als allgemeine gesell­schaftliche Verpflichtung und Aufgabe im Sinne der Zukunftssicherung dieser Gesellschaft wahrgenommen, und dieser hatten sich alle Mitglieder der Gesellschaft unterzuordnen. Und sie taten es gern, denn es brachte für alle nur Vorteile – für die Kinder, für die Eltern, für die Ausbilder, für die Arbeitgeber und für die Gesell­schaft insgesamt.

      Obwohl das neue Ausbildungssystem vom Eintritt in den Kindergarten bis zum Abschluß der Schule für jedes Kind kostenfrei war, hatte es bei dessen Einführung zunächst nicht uner­heb­liche Bedenken gegeben, die von verschiedenen Seiten geäußert worden waren. Deshalb hatte man sich darauf verständigt, vor einer flächendeckenden Einführung erst einmal einige, in verschiedenen Städten parallellaufende Pilotprojekte auf freiwilliger Basis zu starten, um damit Erfahrungen zu sammeln. Die Resonanz bei den Eltern war – für die Kritiker sehr über­raschend – erstaunlich groß, denn es wurden viel mehr Kinder angemeldet als die Pilotprojekte aufnehmen konnten. Und das Vertrauen dieser Eltern in das neue System hat sich für sie ausgezahlt, denn es zeichnete sich schon nach der halben Durch­laufzeit des ersten Jahr­ganges ab, daß dieses Modell sehr erfolgversprechend war.

      Dieses neue Modell berücksichtigte nun endlich, was man schon lange wußte, aber bis dato nicht umgesetzt hatte: Je früher die Kinder mit dem Lernen beginnen, desto besser, denn in den ersten Jahren haben sie die größte Aufnahmekapazität, lernen am schnellsten, und um so größer ist bei ihnen noch die synaptische Plastizität, das heißt, die Fähigkeit ihrer Nerven­zellen, unter­einander neue Verknüpfungen zu bilden. Folgerichtig ‚greift‘ dieses System be­reits sehr früh: Mit Beginn des dritten Lebensjahres kommen alle Kinder in den Kindergarten. Dort wird nicht nur gespielt, sondern auch schon – spielerisch – gelernt und die Kreativität an­ge­regt. Es ist eigentlich – in der Begriffswelt früherer Generationen – eine Kombination aus Kinder­garten und Vorschule, und es soll durch eine kontinuierliche Schwerpunkt­verlagerung von spielerischen Anteilen zu Lerneinheiten einen möglichst fließenden Über­gang zur Schule schaffen. In dieser Zeit sollen die Kinder bereits gelernt haben, sich mutter­sprachlich schon recht gut auszudrücken, einigermaßen zu lesen, zu schreiben und einfache Aufgaben zu lösen. Außerdem haben sie bereits Grundkenntnisse in der englischen Sprache erworben. Unabhängig davon entwickeln sie hier ganz beiläufig ein Gemeinschaftsgefühl und legen den Grundstock für ihre soziale Kompetenz.

      „Ich weiß ja nicht, wie bei Euch in China die Kinder­gärten sind“, begann Ellen Eppelmann sich in fast schwärmerischer Weise über die hiesigen Kindergärten auszulassen, „aber bei uns hier sind diese Einrichtungen einfach phantastisch! Leider gab´s das in meiner Kindheit noch nicht in der Weise. Deshalb könnte ich richtig neidisch werden, wenn ich sehe, was die heutzutage dort schon mit den Kindern alles machen!“

      „Erzähl’ doch mal!“ bat Chan. „Wir haben ja hier diese Erfahrung gar nicht machen können, weil unsere Kinder bereits aus dem Kindergartenalter raus waren, als wir hierher übersiedel­ten. Und Frau Li wird es sicher auch sehr interessieren.“

      „Ja, natürlich! Das interessiert mich sehr“, pflichtete Frau Li ihr bei und sah Ellen erwartungs­voll an.

      „Naja. Also, zunächst mal sind die Kinder dort den ganzen Tag über, genau gesagt von acht bis 16 Uhr, bestens aufgehoben, behütet und versorgt. Sie sind in kleine Gruppen von maxi­mal zehn Kindern eingeteilt, so daß sich deren Betreuerinnen sehr viel intensiver als in früheren Zeiten um jedes einzelne Kind kümmern können, denn damals waren die Gruppen häufig dreimal so groß. Und diese Betreuerinnen sind alle bestens ausgebildet in Pädagogik, in Kinder­­psychologie und weiß der Teufel, was noch alles. Jedenfalls haben die alle einen Hoch­­schul­abschluß. Da gibt´s ´ne eigene Fachrichtung für. Naja, was mich aber vor allem begeis­tert, ist die Tatsache, wie die mit den Kindern umgehen und wie die denen schon un­glaublich vieles beibringen.“

      „Ja, jetzt erzähl’ schon! Du machst einen ja wirklich ganz neugierig“, fuhr Chan ungeduldig da­zwischen.

      „Ja,