Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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amüsanten Stunden ungern verpassen wollen. Ab neun Uhr geht das Lernprogramm dann aber für alle verbindlich los. Von zwölf bis ein Uhr ist Mittags­pause, da nehmen Schüler und Lehrer gemeinsam und kostenfrei ihr Mittagessen in der Schul­kantine ein.“

      „Mit Ihrer Hobbystunde verfolgen Sie offenbar das gleiche Ziel wie wir mit unserer gemein­sa­men Morgengymnastik“, vermutete Frau Li.

      „Im Prinzip, ja, sieht so aus“, erwiderte Ellen. „Aber so eine gemeinsame Morgen­gymnastik ließe sich bei uns hier in Europa nicht durchsetzen.“

      „Bei uns ist es Tradition seit Urzeiten. Wenn Sie frühmorgens durch einen Park gehen, kön­nen Sie überall tanzende Menschen sehen oder solche, die ihre TaiChi- oder QiGong-Übun­gen machen. Das ist unter anderem auch ein Teil ihrer Gesundheitsvorsorge. Insofern ist das auch für die Kinder nichts Ungewöhnliches oder Neues; sie sind es schlichtweg gewöhnt von klein auf.“

      „Schön für Sie, wirklich. Da haben Sie uns gegenüber schon einen Vorteil.“

      „Und die Mittagspause ist bei uns zwei Stunden, damit die Kinder in Ruhe essen und sich an­­schlie­ßend noch etwas ausruhen können“, sagte Frau Li.

      „Bei uns, wie gesagt, nur eine. Aber dafür ist die erste Stunde nach der Mittagspause wieder eine ‚Hobbystunde’ ohne Anspruch auf hochgeistige Konzentration“, antwortete Ellen und fuhr dann mit ihrer Erzählung fort:

      „Die Vielfalt sowohl an Leistungs- als auch an Hobby­kursen ist sehr groß, so daß die Orien­tie­rung für die Schüler zunächst nicht einfach ist, insbesondere bei denen – und das sind mit Abstand die meisten –, die noch gar keine Präfe­renzen haben. Deshalb beginnen alle Schul­anfänger grundsätzlich erst einmal mit den soge­nannten Pflichtkursen, zu denen neben der Muttersprache und Mathematik auch die erste Fremdsprache Englisch vom ersten Jahr an gehört. Sie haben aber von Anfang an die Mög­lich­keit, darüber hinaus weitere, frei gewählte Kurse zu besuchen. Außerdem sind alle Aus­bilder gehalten, den Schülern möglichst viele Anre­gungen zu geben, deren Resonanz – sprich: Interessen – zu erforschen und ihnen dann konkrete Empfehlungen für weitere Fächer­belegungen zu geben. Auf diese Weise werden vielerlei Interessen geweckt; die Schule ist spannend und wird nicht als lästiges Übel em­pfun­den. Die Bereit­willigkeit zum Lernen ist einfach da, und so gibt es auch für die Ausbilder eine größere Befriedigung und weiteren Ansporn, den Unterricht interessant zu gestalten.“

      Frau Li schaute ein wenig nachdenklich drein. Vermutlich vollzog sie gedanklich Vergleiche zwischen dem gerade von Ellen Gehörten und den entsprechenden chinesischen Verhält­nis­sen. Ellen machte deshalb eine kurze Pause bis sie feststellte, daß Frau Li wieder ihren Blick auf sie gerichtet hatte. Dann fuhr sie fort:

      „Ein nicht unerheblicher Teil der Ausbildung findet am Computer statt. Das hat sehr große Vorteile: Der Lehrer muß nicht mehr mühsam alles an die Tafel schreiben, und die Schüler müssen nicht mehr dessen ‚Gekritzel’ zu entziffern versuchen. Sie müssen auch nicht mehr mit- beziehungsweise von der Tafel abschreiben, sie können sich voll und ganz auf das Gesprochene und die dazu mitgelieferte, anschauliche Bildschirmpräsentation konzentrieren. Sie können diese auch zu jedem späteren Zeitpunkt wieder aus dem Speicher abrufen und erneut durcharbeiten. Insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern ist der Compu­ter eine sehr große Hilfe. So sind zum Beispiel chemische oder physikalische Versuche hervor­ragend nach didaktischen Gesichtspunkten aufbereitet und dargestellt. Aber auch im Bereich der Biologie, der Erdkunde, der Mathematik, der Geschichte und in anderen Fächern ist der Lehrstoff sehr anschaulich aufbereitet.

      Jeder Schüler verfügt über einen tragbaren persönlichen Computer mit Sprach-Ein-/Ausgabe und integrierter Kamera und ist via Funkverbindung und WorldNet mit dem Schul-Computer vernetzt. Auch der Lehrer hat damit die Möglichkeit, Einzel­verbindungen zu einem be­stimm­ten Schüler oder sogenannte Konferenzverbindungen zu mehreren oder zu allen Schülern der Gruppe zu schalten. Diese Fähigkeit wird systematisch von Zeit zu Zeit zum interaktiven Fern­unterricht genutzt, um auch mit dieser, im späteren Berufsleben sehr häufig angewen­deten Arbeits­methode Erfahrung zu sammeln. Und im Falle einer Erkrankung hat der Schüler damit die Möglichkeit, dem Unterricht trotzdem – vom Krankenbett aus – zu folgen.“

      „Ist das auch in closed user groups bezüglich der Zugriffsrechte organisiert?“ wollte Frau Li wissen.

      „Ja, natürlich“, antwortete Ellen. „Das ist eigentlich heutzutage generell der Fall, es sei denn, es handelt sich um Informationen von allgemeinem Interesse. Also, mit der heutigen Organi­sation und Funktion des WorldNet können wir wirklich alle sehr zufrieden sein. Das hat sich sehr gut entwickelt.“

      „Das finde ich auch“, bestätigte Chan.

      „Um noch mal auf die Unterrichtsstunden in der Schule zurückzukommen“, erzählte Ellen wei­ter, „so dienen die aber vor allem auch dem persönlichen Kennenlernen und der Kontakt­pflege, dem Erwerben der sogenannten Sozialkompetenz, dem Training von Teamwork und der Be­deu­tung von Gruppendynamik, dem Erlernen von Vor­trags­­techniken sowie der inten­siven Dis­kus­sion bestimmter Fachthemen. Dieser Thematik wird – seiner herausragenden Bedeutung ent­sprechend – ein vergleichsweise großer Teil der Ausbildungszeit gewidmet. Die Welt ist so komplex geworden, die Informationsflut dermaßen groß und die Verände­rungs­geschwindigkeit so rasant, daß ein Einzelner hier schnell auf sehr verlorenem Posten steht. Die Gesamtheit als Gemeinschaft ist gefordert.“

      „Sehr richtig“, kommentierte Frau Li.

      „Das ‚Pauken‘ früherer Jahre gibt’s nicht mehr“, erzählte Ellen weiter. „Die ganze Lehr­metho­dik ist darauf abgestellt, den Schülern selbständiges, logisches Denken und Handeln beizu­brin­gen, Zusammenhänge aufzuzeigen, Informationsquellen zu finden und richtig zu nutzen. Fak­ten­­wissen wird nicht mehr abgefragt. Man hat erkannt, daß es keinen Sinn macht, die Schüler mit Fakten ‚vollzustopfen‘, die sie nach der Prüfung meist doch nicht mehr brauchen und des­halb sehr schnell wieder vergessen. Viel wichtiger ist, zu wissen, wo man die Infor­ma­tionen findet, die man gerade braucht, und entsprechend schnell – zum Beispiel über das WorldNet – auf diese zugreifen zu können. Des weiteren ist wichtig, diese Informationen rich­tig zu ver­stehen, sie zu plausibilisieren und in den Gesamtkontext einordnen zu können. Genau das ist es, was die Schüler heute in jedem Fach lernen. Auch das Abfragen von Vokabeln in den Fremd­­sprachen gibt’s nicht mehr. Der Lehrer führt Gespräche – auch über den Computer – mit dem Schüler in der betreffenden Fremdsprache und erkennt so am bes­ten die jeweiligen Stärken und Schwächen. Das Ziel ist das Verstehen der Fremdsprache und deren Beherr­schung in Wort und Schrift. Dabei ist es irrelevant, ob der Schüler die eine oder andere Voka­bel auswendig kennt. Das hört sich jetzt banal an, aber es hat unendlich lange gedauert, bis sich das in allen Köpfen durchgesetzt hat.“

      „Hmm, glaube ich“, bemerkte Chan lakonisch.

      „Und nur dadurch, daß die sture Paukerei abgeschafft ist, haben die Schüler ja überhaupt erst den Kopf frei für die heutzutage wesentlich umfangreicheren Wissensgebiete, können den größeren Anforderungen unserer Wissens­gesellschaft eher gerecht werden und ihre Interessen viel besser entfalten.“

      „Das sehe ich auch so“, stimmte Chan zu. „Man muß mit seinen begrenzten kognitiven Fähig­­keiten sehr rationell umgehen, wenn man in der heutigen Leistungsgesellschaft beste­hen will.“

      „Genau. Man darf sich keinen unnützen Ballast aufladen. Aber, um den Gedanken noch kurz zu Ende zu führen: Wir haben weitere Schwerpunkte in der Ausbildung. Da sind beispiels­weise Exkursionen und andere Gemein­schafts­­unter­neh­mungen zur Vertiefung der Sozial­kon­­takte, Besichtigungs­programme mit – dem ‚Intel­lekt’ der jeweiligen Gruppe entsprechend an­ge­­paßten – ausführlichen und anschau­lichen Erläuterungen zum Erschließen neuer Wis­sens­­­felder sowie zum frühzeitigen Kennenlernen ‚der Praxis’, das heißt, bestimmter Berufs­bilder, Firmen, Behörden, sozialer Einrichtungen, Vereine, et cetera, aber auch – in etwas fort­ge­schrit­te­nerem Alter – mehrwöchige Praktika zum intensiveren Kennenlernen. Sie die­nen vor allem auch der Orientierung