Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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können, in der Sprache der Kinder. Das ist wirklich nicht einfach. Deshalb gibt es hier inzwischen auch schon seit ein paar Jahren Spezialisierungen im Ausbildungsgang, weil einer allein gar nicht alle fachlichen Berei­che mehr abdecken kann. So ist zum Beispiel ein Studiengang mehr naturwissen­schaft­lich-technisch ausgerichtet, ein anderer mehr biologisch-ökologisch. Die Kinder haben ja auch Fragen zu ihrer Umwelt und zu Naturphänomenen. Warum ist der Himmel heute blau und morgen grau? Warum scheint heute die Sonne und morgen regnets? Was ist eigentlich Schnee? Warum ist es nachts dunkel? Wo versteckt sich die Sonne? Was sind Mond und Sterne? Warum verlieren die Bäume im Winter ihre Blätter? Nicht jedes Kind stellt all diese Fragen von sich aus, hört aber trotzdem aufmerksam zu, wenn sie erklärt werden. So kann man Interesse durch einen äußeren Anstoß auch erst wecken. Wichtig ist die Anschauung; rein theoretische Erklärungen sind in diesem Alter nicht angebracht. Des­halb werden zum Beispiel Naturphänomene dann erklärt, wenn sie gerade zu sehen sind. Außerdem machen sie Exkursionen in den botanischen Garten, wo sie sehr viel über die unterschiedlichen Pflanzen, Sträucher und Bäume, über ihre Blatt- und Wuchsformen, über ihre Blüten und Samen und so weiter per eigene Anschauung erfahren. Am Teich erfahren sie etwas über Wasserpflanzen, Fische und Frösche. Die unterschiedlichen Tiere und deren Eigenheiten lernen sie beim Besuch auf dem Bauernhof oder im Zoo kennen.“

      „Ihr habt doch gar keinen Zoo in Ulm!“

      „Nein, jedenfalls keinen richtig großen, aber die machen dann einen Tages­ausflug mit dem Bus oder der Bahn nach Stuttgart oder München.“

      „Ist ja wirklich toll, was ihr für eure Kleinen alles tut!“ staunte Chan. „Ein richtig interessantes und abwechs­lungs­reiches Programm – und alles kostenfrei. Wirklich toll!“

      „Ja, das leisten wir uns für unseren Nachwuchs! Nicht umsonst haben wir seit geraumer Zeit ein so hohes Bildungsniveau!“

      „Ein hohes Bildungsniveau haben wir in China auch, wie ich vorhin schon sagte“, entgegnete Frau Li.

      „Allerdings“, wandte Chan ein, „ist das ganze System bei uns doch stärker ‚verschult‘, denke ich. Nicht so spielerisch, locker, lustig, was ich sehr schade finde. Aber die Kinder spüren bei uns von klein auf, daß sie selbst im eigenen Land eine riesige Konkurrenz haben und daß sie sich schon deshalb unheimlich ins Zeug legen müssen, um sich später be­haupten zu können. Deshalb büffeln sie gnadenlos! Das ist natürlich sehr viel stressiger als du es gerade geschildert hast, aber im Endeffekt erreichen sie auch alle ein sehr hohes Bildungsniveau.“

      „Das glaube ich, ja. Eine starke Konkurrenz ist natürlich auch eine sehr starke Motivation!“ bestätigte Ellen. „Aber ich bin sehr froh, daß man bei uns inzwischen einen sehr viel ange­neh­meren Weg zum Erfolg gefunden hat. Denn der ist erstens wirklich aus eigenem Antrieb motiviert, aber streßfrei für die Kinder, und zweitens sicher auch dauerhafter. Das glaube ich jedenfalls. Und das hast du ja im Grunde gerade selber bestätigt. Ob das mit dem Kon­kurrenz­gedanken auf längere Sicht auch immer so funktioniert, da habe ich gewisse Beden­ken.“

      Frau Li zog die Stirn kraus, äußerte sich aber nicht dazu.

      Mit Beginn des fünften Lebensjahres wechseln die Kinder in die Schule über, die in Halb-Jahr­gangs­stufen gegliedert ist. Man hatte nämlich früh der Tatsache Rechnung getragen, daß ein Altersunterschied von einem Jahr innerhalb einer Jahrgangsstufe gerade in der kind­lichen Entwicklungszeit eigentlich zu groß ist, und deshalb eine halbjährliche Staffelung ein­ge­führt. Feste Klassenverbände im herkömmlichen Sinne gibt es nicht mehr. Statt dessen wird in kleinen Gruppen von maximal 15 Schülern unterrichtet, die nach Leistung zusam­men­­­gestellt werden. Dabei sind für jedes Unterrichtsfach üblicherweise drei Leistungs­klassen abgestuften Schwierig­keitsgrades und unterschiedlich schnellen Vorgehens im Lern­stoff definiert. Die Schüler werden je nach Leistung in dem betreffenden Fach in eine dieser Gruppen eingeteilt. Sie können demnach – und das ist sogar der Normalfall – in den ver­schie­denen Fächern jeweils in ganz unterschiedlichen Leistungsgruppen sein. Diese Zuord­nung unterliegt der ständigen Kontrolle der jeweiligen Ausbilder und wird entsprechend dyna­misch gehandhabt. So kann ein Schüler im Laufe seiner Schulzeit – je nach Leistung in dem je­wei­li­gen Unterrichtsfach – mehrfach in höhere oder in niedrigere Leistungsklassen je Unter­richts­fach umgesetzt werden – auch unterjährig. Weil diese Umsetzungen zur alltäg­lichen, gewohn­ten Praxis gehören, werden sie von den Schülern auch nicht als besondere ‚Herausstellung‘ in der einen oder anderen Weise empfunden, also auch die ‚Rückstufung‘ in eine leistungs­schwächere Gruppe wird nicht als Makel empfunden. Aber – und das ist der eigentliche Vorteil dieser Methode – der betreffende, ‚zurückgestufte‘ Schüler selbst be­kommt die große Chance, in dieser Gruppe mit etwas geringeren Anforderungen und etwas lang­samerem Vorgehen im Stoff besser mitzukommen, das heißt, besser zu lernen und wieder Erfolg zu haben. Umge­kehrt profitiert die andere Gruppe davon, daß er sie beim zügigeren Vorgehen nicht mehr aufhält, dort also auch nicht mehr stört. Beide Seiten profitieren davon – eine klassische win-win-situation. Jeder wird seiner Leistungs­fähigkeit ent­sprechend gefordert und gefördert, keiner fühlt sich über- oder unter­fordert. Die persön­lichen Stärken eines jeden Einzelnen kommen frühzeitig zur Geltung und können weiter ge­för­dert werden, ohne daß dadurch die anderen Themen völlig vernach­lässigt würden. Im Ge­gen­­teil, auch dort kann jeder seine Erfolge haben – eben auf niedri­gerem Niveau. Und das ist ja völlig normal, niemand kann auf allen Gebieten gleich gut sein. Der unter­schied­lichen Leistungsfähigkeit der Schüler wird man durch die große Zahl gut aufein­ander abge­stimmter Kurse, die die erforderliche Leistungs­bandbreite ganz abdecken, gerecht. Ein ‚Sitzen­bleiben‘ gibt es jedenfalls nicht mehr, aber auch keine ‚Überflieger‘. Jeder Schüler macht nach zwölf Schuljahren ausnahmslos seinen Abschluß. Schüler, die auch im leistungs­­schwächsten Kurs noch Probleme haben, bekom­men ‚Privatstunden‘, in denen ein Lehrer sich ihrer ganz per­sönlich annimmt, um intensiver auf ihre individuellen Schwierigkeiten eingehen und diese über­­winden zu können. Es gibt aber auch eine Reihe von Fächern, die man abwählen kann. Denn warum sollte man die Schüler zu etwas zwingen, an dem sie partout kein Interesse und damit auch keine Lernbereitschaft zeigen? In ähnlicher Weise werden solche Schüler, die selbst im leistungs­stärksten Kurs noch unterfordert scheinen, durch zusätzliche Auf­gaben­stellungen im Einzel­unterricht individuell gefördert.

      Fördern und fordern im richtig verstandenen Sinne – das ist das A und O für optimales und lebenslanges Lernen. Diese Erkenntnis ist endlich erfolgreich umgesetzt worden, fand Eingang in die moderne Lehrmethodik. Und deshalb ist Lernen heute kein passiver Vorgang in Form von ‚Einpauken‘ mehr, sondern das aktive und zum Teil interaktive Lösen von immer neuen Aufgaben­stellungen mit Praxisbezug. Jeder Mensch braucht Leistungs­­­anreize, braucht immer wieder neue Herausforderungen, an denen er sich messen kann. Denn mit jeder Aufgabe, die er erfolgreich bewältigt hat, wächst seine Persönlichkeit; läßt ihn sein Beloh­nungs­system im Gehirn Stolz empfinden. Es stärkt sein Selbstbewußtsein, weckt seine Neugier auf neue Auf­ga­ben und regt seine Kreativität an.

      Das ‚Benotungssystem‘ hat sich zwangsläufig auch geändert, weil zwar alle Schüler gleicher­maßen für zwölf Jahre in der Schulausbildung sind, aber nicht alle die gleiche Stoff­menge in dieser Zeit bewältigt haben. Sechs Noten reichen da zur Differenzierung überhaupt nicht mehr aus, sind auch nicht aussagekräftig genug bezüglich der Stärken und Schwächen eines Schülers im einzelnen. Daher sind für jeden Kurs entsprechende Lernziele und die Erfüllungs­kriterien für das Erreichen dieser Ziele – mit bestimmten Abstufungen – genau definiert. Die­sen Abstufungen entsprechend sind dann auch die Beurteilungsformulierungen verbal fest­gelegt. Ungeachtet dessen werden aber zusätzlich noch die herkömmlichen Noten in Klam­mern angegeben, weil sie gleich auf den ersten, flüchtigen Blick eine grobe, aber gewohnte Einordnung der Schülerleistung sowie deren Vergleich mit denen der Klassen­kameraden ermög­lichen. Die Schüler selbst vergleichen sich gern und permanent mit ande­ren, nicht nur ihre Leistungen, sondern auch ihre Vorstellungen und Ansichten, ihre Ge­schmäcker und Wünsche. Vergleich ist ein unabdingbarer Bestandteil unseres Lebens, also auch des Schüler­lebens. Insofern war es richtig, nicht der verschiedentlich unter der Parole