Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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selbst bei Chancengleichheit, individuell verschieden ist, und weil zum anderen auch die Entwicklung der Heranwachsenden sowohl im Vergleich zueinander als auch bei jedem Einzelnen über die Zeit betrachtet sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Die­ses System funktioniert aber erst, seit es die kleinen Lerngruppen und entsprechend viele Ausbil­der gibt, seine immensen Erfolge haben sich allerdings schon nach sehr kurzer Zeit klar her­aus­gestellt.

      Es gibt nicht nur mehr Kurse und Ausbilder, auch die Ausbildung der Ausbilder selber ist wesent­lich verbessert worden. Sie müssen grundsätzlich ein Hochschulstudium absolvieren, das neben der gewählten fachlichen Ausrichtung insbesondere auch Seminare in Pädagogik, in Psychologie, in der Vermittlung von Sozialkompetenz, in der Behandlung von beziehungs­weise im Umgang mit Konflikt­fällen, in der Motivation von Schülern, in der Erziehungs­metho­dik und in der Didaktik umfaßt.

      Die Ausbilder sind keine Beamten, und sie sind auch nicht auf Lebenszeit angestellt. Für sie gilt das Leistungsprinzip wie für alle anderen, denn auch Lehrer brauchen Leistungsanreize, damit sie nicht mit der Zeit abstumpfen und gleichgültig werden. Ihre Dienstverträge gelten immer nur für ein Schuljahr, werden aber bei Bewährung um jeweils ein weiteres Jahr ver­län­gert. Es gibt auch kein Einheitsgehalt für sie. Vielmehr sind ihre Befähigung und ihr Enga­ge­ment ausschlag­gebend für die Bezahlung. Je besser die Unterrichtsgestaltung, je mehr Stun­den und je größer der Einsatz in zusätzlichen Aufgaben, wie beispielsweise Individual­be­treu­ung, Pausen­aufsicht, Hobby­stunden, Diskussionszirkel, Sport- und Spiel­stunden, Exkursio­nen, et cetera, desto mehr zahlt sich dies für den Betreffenden aus. Art und Umfang ihres Engage­ments können die Ausbilder für jedes Jahr von neuem selber bestimmen; es wird dann ver­trag­lich für das jeweilige Jahr festgeschrieben.

      Da alle Unterrichtsräume video-überwacht sind und alles fortlaufend aufgezeichnet wird, be­steht die Möglichkeit, einzelne Szenen, Unterrichtsstunden oder auch bestimmte Entwick­lun­gen einen Lehrer oder Schüler betreffend über einen bestimmten Zeitraum gezielt zur nach­träglichen Beobachtung auszuwählen und für Beurteilungen heranzuziehen. Diese Maß­nahme dient somit auch als zusätzlicher Leistungsanreiz für Schüler und Lehrer: Die Schüler benehmen sich anständig, weil ihnen im Bedarfsfall jede ‚Sünde‘ nachgewiesen werden kann, und die Lehrer haben den Ansporn, guten Unterricht zu machen, weil sie andernfalls Gefahr liefen, ihren Vertrag nicht verlängert zu bekommen.

      Das war nicht einfach durchzusetzen, die Lehrer haben sich lange vehement dagegen ge­sträubt, Einblicke von außen in die gewohnte Autonomie ihres Unterrichts zulassen und sich ge­ge­benenfalls der Kritik anderer aussetzen zu müssen. Während sie ihr Berufsleben lang Urteile über andere fällten, also routiniert mit der Kritik an der Arbeit anderer umzugehen ge­wohnt waren, hatten sie nie gelernt, mit Kritik an der eigenen Person oder an ihrem Unter­richt umzugehen – weder in der Ausbildung noch im Beruf. Und da es – anders als in ande­ren Be­rufen – keine einheitlichen Standards für den Lehrerberuf gab, fehlten ihnen schlicht und ein­fach auch die Maßstäbe für ihre Leistung, was sie zusätzlich verunsicherte. Kritik empfanden sie als etwas Negatives, selbst wenn diese eigentlich konstruktiv gemeint war. So wuchs über die Jahre das Unbehagen der Schüler darüber, täglich von Menschen bewertet zu werden, deren eigene Leistung sich jeglicher Kontrolle entzog, während sie selbst sich in ihrer Mei­nungs­äußerung unterdrückt sahen. Auf der anderen Seite war mit der Einführung des Leis­tungs­prinzips im Ausbildungsbetrieb Transparenz eine unabdingbare Voraus­setzung gewor­den, der sich auch die Ausbilder nicht entziehen konnten. An den Schulen wurde eine offene Feedback-Kultur eingeführt, die den Schülern seither die Mög­lichkeit gibt, ihre Lehrer zu beur­teilen. Und auf der anderen Seite gibt es die erwähnte Video­aufzeichnung des Unterrichts für Kontrollzwecke in bestimmten Fällen.

      Die staatliche Schulaufsicht gibt keine detaillierten Lehrpläne vor, sondern lediglich Lern­ziele, die von den Lehrern erreicht werden müssen – wie, das bleibt im wesentlichen ihrem Gestal­tungs­spielraum überlassen.

      Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt nicht mehr in der reinen Wissensvermittlung, und schon gar nicht in Form von überwiegend frontaler Ansprache, sondern vielmehr in der prak­tischen Anleitung zum richtigen Lernen und dem Finden bestimmter Informationen durch gemein­­sames, interaktives ‚Erarbeiten‘ von Wissen in der Gruppe, im Wecken von viel­sei­tigen Interessen und dem Schaffen entsprechender Anreize, in der Förderung der Kreativität und der analytischen Denkweise, in der Förderung selbständigen Denkens und Handelns sowie in der Prägung von sozialem und verantwortungsbewußtem Verhalten in der Gemein­schaft, von Team­fähigkeit. Die Schüler bekommen natürlich in jedem Fach ein gewisses ‚Grund­gerüst‘ an Wissen, das nötig ist, um eigene Interessensgebiete zu entdecken und zu erschließen, so daß es ihnen möglich ist, sich weiteres Wissen dazu eigenständig zu erarbei­ten. Aber gerade die­ses selbständige Erarbeiten und die dazu geeigneten Vorgehensweisen bilden den eigent­lichen Schwerpunkt der Ausbildung. Reines Auswendiglernen von Fakten, insbesondere vor Prüfungen, das ist Vergangenheit.

      Besonderer Wert wird auch auf die Fähigkeit zur Konzentration gelegt, die effizientes Lernen und Arbeiten überhaupt erst ermöglicht. Folge­rich­tig gehören tägliche Konzentrations­übun­gen zum festen Trainingsprogramm. Untersuchungen haben nämlich gezeigt, daß sich die meisten Menschen frühestens nach 15 Minuten so konzentrieren können, wie es viele Auf­gaben ver­langen. Diese Viertelstunde braucht das Gehirn, um alle Informationen zu ord­nen. Mit jeder neuen Unterbrechung gehen alle Daten wieder verloren. Ablenkungen während des Lernpro­zes­ses schränken zudem die Merkfähigkeit ein.

      Das in der schnellebigen Zeit weitverbreitete Bestreben, möglichst viele Dinge gleichzeitig machen zu wollen, hat sich daher in der Praxis nicht bewährt. Dieses sogenannte Multi­tas­king bedeutet häufiges Hin- und Her­springen zwischen den einzelnen Informationen, Auf­gaben, Themen, Problemen in kurzen Abständen, und dies erfordert die Teilung der Auf­merk­samkeit be­zie­hungsweise eine Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne. Da aber nie­mandem mehr als 100 Prozent Aufmerksamkeit zur Verfügung stehen, werden die einzelnen Aufgaben zwangs­­läufig weniger effizient ausgeführt, das heißt langsamer, weniger gut und fehler­behaftet: Der ständige Wechsel zwischen mehreren Aufgaben impliziert für das Gehirn nämlich Streß, und der beeinträchtigt gerade die Hirnareale, die zwischen Wichtigem und Un­wichtigem unterscheiden und unsere Leistungen auf die einzelnen Aufgaben sinnvoll ver­teilen können – was dazu führt, daß man nur noch impulsiv und aktionistisch reagiert, anstatt zu überlegen und bewußt zu agieren. Die Folge sind Fehler und falsche Entscheidungen. Außer­dem kostet es zusätzliche Energie und macht daher schneller müde.

      „Wie schon gesagt“, fuhr Ellen fort, „die früher üblichen unterschiedlichen Schulsysteme und Schultypen gibt es längst nicht mehr. Es gibt nur noch einen – wohlgemerkt: staatlichen! – Schultyp, die Ganztagsschule von 8.00 bis 16.00 Uhr für ausnahms­los alle Schüler vom fünf­ten bis zum 17. Lebensjahr – also für alle, die nicht eine private Schuleinrichtung besuchen. Jeder Bürger hat bei uns ein Recht auf Bildung, einen Anspruch auf Ausbildung. Und dabei hat er die freie Auswahl zwischen dem staatlichen System und den diversen privaten Einrich­tun­gen. Bei dem staatlichen System, über das wir hier sprechen, findet keine Selektion der Schüler nach Leistung mehr statt im Sinne von Sitzenbleiben oder Aussortieren auf eine an­de­re Schule, wie das früher besonders in Deutschland der Fall war. Die Schüler bleiben in ihrer Jahr­gangsgemeinschaft über die zwölf Jahre integriert, aber sie können unterschied­liche Fächer wählen und unterschiedlich starken und schnellen Leistungsgruppen ange­hören. Das klassische Spektrum an Unterrichtsfächern ist erheblich ausgedehnt worden. Es erstreckt sich so ziemlich über alle Lebens­bereiche, so daß viele Schüler hier bereits den Ein­stieg in ihre spätere berufliche Ausrichtung finden.

      Neben den lernbetonten Leistungsgruppen gibt es zahlreiche Sport-, Spiel-, musische, künst­lerische und handwerkliche Gruppen, häufig als ‚Hobbygruppen’ bezeichnet, die – wie der Name schon sagt – der gemein­schaft­lichen Pflege bestimmter Hobbys unter Anleitung eines Ausbilders und gleichzeitig aber auch der notwendigen Entspannung zwischen den Lern­einheiten dienen. Wie überhaupt das Tagespensum sehr abwechslungs­reich gestaltet ist. Das fängt schon damit an, daß die erste Stunde am Morgen grundsätzlich eine Hobby- oder Spielstunde ist, die