Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Sie bildet schließlich die Jugendlichen aus. Wenn bekannt würde, daß sie sich anderen gegenüber, vor allem Westlern gegenüber, in irgendeiner Weise despektierlich über Staat und Gesellschaft Chinas äußert, dann ist sie ihren Job los, verstehst du?“

      „Wird das tatsächlich immer noch so rigoros gehandhabt bei euch? Ich hatte eigentlich ge­dacht, daß ihr dort inzwischen mehr Freiheiten in der Meinungs­äußerung habt.“

      „Haben wir ja auch schon – im Prinzip. Aber gerade Pädagogen haben eine sehr wichtige Vorbildfunktion. Sie müssen unsere Ideale und Prinzipien überzeugend vertreten. Wenn sie auch nur einmal illoyal auf die Jugendlichen wirken, sind sie für die nicht mehr glaubwürdig.“

      „Du meinst, die tut nur so linientreu, weil sie es muß?“

      „Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau. Dazu kenne ich sie zu wenig. Aber wie auch immer. Sie hat diesen Beruf, und sie muß so agieren. Und – weißt du – auf Dauer wird es für jeden mal zu anstrengend, immer hin und her zu switchen, hier so und dort anders zu reden. Das machst du nicht lange, ohne dich irgendwann mal zu verplappern. Also bleibst du lieber gleich konsequent. So ist das nun mal.“

      „So ist das nun mal, ja. Also lassen wir sie machen. Ich will ihr ja auch nicht unrecht tun. Es ist eben leider nur so, daß man sich selbst dann aus lauter Rücksichtnahme auf die Befind­lichkeiten des anderen sehr bald nicht mehr traut, bestimmte Äußerungen zu machen oder Themen anzusprechen. Das ist schade. Es schränkt so schnell die Diskussion ein, wenn du deine eigenen Überzeugungen nicht darlegen darfst. An solchen Diskussionen verliere ich ziem­lich schnell die Lust.“

      „Das verstehe ich gut; geht mir genauso.“

      „Wir sind ja nun – glücklicherweise, muß ich schon fast sagen – durch Herrn Li in unserer Unter­haltung unterbrochen worden. Vermutlich hätte ich mir andernfalls wieder ihren Zorn zugezogen, denn es lag mir schon wieder die ketzerische Frage auf der Zunge, wieso man in eurem vorgeblich kommunistischen Paradies eigentlich Schulgeld bezahlen muß, während wir uns in unserem ‚bösen’ kapitalistischen System den Luxus leisten können, die gesamte Kinder­garten- und Schulausbildung für die Familien kostenfrei zu ermöglichen.“

      „Oh, damit wärst du sicher in ein Fettnäpfchen getreten, Ellen.“

      „Das fürchte ich auch. Dabei will ich gar nicht provozieren. Man muß doch einfach mal ganz wertfrei seine Meinungen und Ansichten austauschen können.“

      „Sollte man meinen, ja. Aber wenn du meine Meinung dazu hören willst, dann frage ich zurück: Was heißt da schon kommunistisch? Die kommunistische Ideologie wird doch schon lange nur noch als ‚Deckmäntelchen‘ zur Schau getragen. In Wirklichkeit haben wir doch in China längst Kapitalis­mus pur!“ ereiferte sich Chan. „Glaubst du im Ernst, es würde uns heute in China so gut gehen, wenn wir die kommunistische Idee – ich könnte auch sagen: die kommu­nistische Utopie – weiterverfolgt hätten? . . . Nein, nein! Das hat Deng Xiaoping damals schon sehr richtig erkannt. Und alle nachfolgenden Regierungs- und Parteichefs haben seine Lehre befolgt. Damit ist China über die Jahre sehr gut gefahren.“

      „Ja, offenbar! Nicht umsonst ist China heute die führende Weltmacht schlechthin!“ stellte Ellen fest. „Früher haben sie im Westen immer von China als dem ‚Schlafenden Riesen‘ ge­sprochen, aber dieser Riese ist inzwischen schon lange aufgewacht – und putzmunter! . . . Ach, und übrigens, weißt du, daß Napoleon Bonaparte angeblich schon gesagt haben soll: ‚Laßt China schla­fen. Denn wenn der Drache erwacht, dann wird die Welt erzittern.’ Glaubst du, daß der das damals wirklich schon erkannt haben konnte?“

      „Hm, ja. . . . Oder viel mehr nein, das war mir jetzt eigentlich nicht bekannt. China ist natür­lich ein sehr großes, starkes Land – und das bevölkerungsreichste – neben Indien – dazu! Vielleicht be­grün­dete sich sein Ausspruch darauf?! Außerdem sind die Menschen sehr fleißig und sehr diszipliniert. Da mußte sich dieser Erfolg einfach ein­stellen!“

      „Liegt es wirklich daran? Oder ist es nicht vielmehr das autoritäre Regime, das die schnel­leren Fortschritte schafft, weil da einfach beschlossen und gehan­delt wird . . . während bei uns, in der Demokratie, ja immer erst mühsam Kompromisse gefunden werden müssen, um einen möglichst großen Konsens herzustellen. Dabei wird dann regelmäßig sehr viel Zeit nutzlos vertan und leider auch immer vieles zerredet. Wie viele gute Ideen sind da schon verloren­gegangen, nur weil sie zu diesem Zeitpunkt gerade nicht opportun erschienen.“

      „Das spielt sicher auch eine maßgebliche Rolle. Die Entscheidungsprozesse sind bei uns vermutlich schneller als in einer Demokratie. Aber dies allein ist es eben auch nicht. Es gab zu allen Zeiten und gibt immer noch genügend diktatorische Systeme, in denen nichts voran geht, in denen teilweise sogar das blanke Elend herrscht, während eine vergleichsweise kleine Führungsclique in Saus und Braus lebt. Unsere politische Führung herrscht zwar autoritär, aber wirtschaftlich läßt sie uns sehr große Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Jeder hat die Möglichkeit, eine gute Ausbildung zu erfahren und eine eigene Existenz aufzu­bauen; jeder partizipiert am wirtschaftlichen Erfolg.“

      „Hm . . . . Sozialistischer Kapitalismus! . . . oder Kapitalistischer Sozialismus?“

      Chan lachte, ging aber nicht weiter auf das Wortspiel ein, denn sie wußte natürlich, daß dies nur eine scherzhafte Äußerung war. So fuhr sie fort: „Und nicht zu vergessen, daß wir ja einen in jeder Hinsicht riesigen Nachholbedarf gegen­über der westlichen Welt hatten! Mit der wirt­schaft­lichen Öffnung durch Deng erwachten die Menschen bei uns aus einem Zustand der Lethargie und entwickelten einen unbändigen Willen zum Wohlstand. Das ist vielleicht ein bißchen vergleichbar mit euren Aufbaujahren hier in Deutschland nach dem Zweiten Welt­krieg. Nur daß dieser Boom bei uns viel länger anhält – eben weil das Land so groß, der Rück­stand so gewaltig, die Zahl der Menschen so immens ist. Bis da ein gewisser Sätti­gungs­zustand landesweit erreicht ist, dauert es natürlich viel länger, als es bei euch damals der Fall war, zumal ihr ja seinerzeit sogar noch von einem viel höheren Ausgangsniveau aus gestartet seid!“

      „Ja, ja. Das ist sicher richtig. Aber mal angenommen, ihr hättet zu Zeiten Dengs oder bald darauf eine Demokratie eingeführt – glaubst du wirklich, daß China in seiner Entwicklung schon genausoweit wäre wie es jetzt ist?“

      „Nein, das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht.“

      „Na siehst du! Das glaube ich nämlich auch nicht. Und das ist es, was ich vorhin mit den schnelleren Entscheidungsprozessen meinte. Für mich ist das das Ausschlaggebende für die Entwicklung. Ein philosophischer Redezirkel oder ein politischer Debattierklub kann wunder­bare Ideen hervorbringen. Aber was nutzen sie, wenn man nichts damit anfängt? Wenn man nichts daraus macht, sie nicht umsetzt? Über jede Idee läßt sich trefflich streiten. Es wird immer irgendwelche Gegenargumente geben. Das ist völlig normal; dazu sind einfach die Ansichten der Menschen viel zu unterschiedlich, als daß überall ‚Friede, Freude, Eierkuchen’ herrschen könnte. Aber darf das dazu führen, daß überhaupt nichts mehr richtig vorangeht? Daß alles blockiert wird?“

      „Nun, ganz so schlimm ist es bei euch ja auch wieder nicht. Eure Europäische Union hat sich – nach zugegebenermaßen teils schwierigen Geburtswehen und Krisen – ja schließlich doch sehr vor­teil­haft ent­wickelt.“

      „Schließlich! Ja. Aber wie lange hat das gedauert?“

      „Sicher, so etwas braucht einen langen Atem – viel Geduld! Keine Nation will ihre Eigenstän­dig­keit, ihre Souveränität verlieren. Es muß ein gewaltiges Umdenken stattfinden – das geht nur über mehrere Generationen! Aber dafür ist es freiwillig passiert! Und das hält allemal besser und länger als jede erzwungene Vereinigung!“

      „Zweifellos, ja! . . . Und bei so gravierenden Veränderungsprozessen mag es ja auch noch angehen. Aber es ist ja auch im ganz alltäglichen Leben so – alles so zäh! Unsere Politiker streiten sich doch selbst im ganz normalen Tagesgeschäft meistens um nichts und wieder nichts – das sind reine Schaukämpfe! . . . Bei euch in China sieht man davon nichts der­gleichen.“

      „Man bekommt es nicht mit, das