Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Unternehmer werden, nur vergleichs­weise wenige sind in einer festen Anstellung beschäftigt.“

      „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, bestätigte Chan, „daß es hier sehr viele Selb­stän­dige, Klein- und Mittelstandsunternehmen gibt.“

      „Ich denke, das war eine zwangsläufige Entwicklung“, erklärte Ellen. „Seit die Automati­sie­rung und Roboterisierung in der Industrie und vielen anderen Bereichen soweit fortge­schrit­ten ist, sind immer mehr Arbeitsplätze für Menschen verlorengegangen, weil diese Tätig­keiten durch die leistungsfähigen Maschinen immer effektiver und effizienter, das heißt, immer schneller, präziser und kostengünstiger ausgeführt wurden, wo der Mensch einfach nicht mehr mithalten konnte. Daher mußten sich die Menschen notgedrungen umorientieren und sich auf Tätigkeits­felder konzentrieren, die sich einer Automatisierung weitgehend ent­ziehen. So sind beispiels­weise in Produktionsbetrieben nur noch wenige Menschen beschäf­tigt, nämlich vorwiegend im Entwicklungsbereich, wo Kreativität gefragt ist. In der Produktion selbst sind nur noch sehr weni­ge Leute mit Kontroll- und Überwachungs­funktionen beschäf­tigt, das heißt, sie beauf­sich­tigen lediglich die Automaten und Roboter und greifen ein, wenn es Probleme gibt. Daneben gibt es natürlich, wie früher auch schon, freischaffende Hand­werker, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte, Händler, Logisti­ker, Landschafts­gärtner und weiß der Teufel, was noch alles. Und vor allem gibt es jetzt in viel stärkerem Maße als früher Arbeitsplätze in Forschung und Lehre, in jeglicher Art von Service, Beratung, Unterhaltung, Physio- und Psycho­therapie, Wellness, sowie jede Menge freischaffender Künstler und Kunsthandwerker.“

      „Ja, du sagst es, Ellen! Das ist das eigentlich Schöne an unserer Zeit, daß wir uns heute nicht mehr wie Hamster im Laufrad tagein, tagaus abstrampeln müssen, um unser täglich Brot zu verdienen, wie unsere Vorfahren im Industriezeitalter, sondern daß wir einer selbst­bestimmten Tätigkeit nachgehen können, die uns weniger Streß, dafür aber sehr viel mehr Motivation, Frei­raum und Selbstzufriedenheit verschafft – und trotzdem unser Auskom­men sicherstellt.“

      „Richtig! Und abgesehen davon ist unser Lebensunterhalt ja heutzutage auch noch mit der ‚Allgemeinen Grundversorgung‘ (AGV) staatlicherseits einigermaßen abgesichert. Wenn es mit einem zusätz­lichen Einkommen durch Arbeit mal nicht so klappt, dann müssen wir uns nicht gleich Sorgen machen. Genau das haben wir letztlich der Automatisierung und Robo­te­risierung zu ver­danken – also auch deinem Mann mit seiner Roboterfirma“, sagte Ellen zu Chan. „Denn da­durch wird schließ­lich zu einem wesentlichen Anteil unser Bruttosozial­produkt erwirtschaftet.“

      „Ja, schon. Aber was für mich von größerer Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß heutzutage die ganzen stupiden Arbeiten von Automaten ausgeführt werden, daß die Menschen sich heute Aufgaben widmen können, zu denen sie früher gar keine Zeit oder Möglichkeit oder Muße hatten. Der Gewinn an Lebensqualität ist doch kolossal!“

      Dem stimmte auch Frau Li ohne Zögern zu. Da waren sich alle einig.

      „Um noch mal auf unsere Ausbildung zurückzukommen“, erklärte Ellen, „woran die Schüler ganz besonders interessiert sind, das ist die ‚Projektarbeit‘, wo sich jeweils mehrere Schüler in einer Gruppe zur Lösung einer bestimm­ten Aufgabenstellung zusammenfinden. Dafür sind regel­mäßig feste Zeiten im Stundenplan vorgesehen, meistens nachmittags. Die Aufgaben­stel­lung kann von einem Lehrer oder von den Schülern selbst vorgeschlagen werden, sie kann sich aber auch unmittel­bar aus dem Unterrichtsstoff ergeben; sie kann fachspezifisch oder fächer­übergreifend, theoretisch oder praktisch sein – da sind keine Grenzen gesetzt. Wenn so ein Thema ansteht, dann bilden die daran interessierten Schüler auf freiwilliger Basis eine Projektgruppe, die je nach Größe und Umfang der Aufgabenstellung mehr oder weniger Betei­ligte umfaßt. Es kommt auch schon mal vor, daß sich zu viele für ein Thema interessieren, so daß die Projektgruppe für eine sinnvolle Bearbeitung zu groß würde. In so einem Fall lassen wir dann auch ruhig mal zwei Gruppen das gleiche Thema – gewisser­maßen in Konkurrenz – erarbeiten, denn Konkurrenz gehört nun mal zu unserem Leben; und auch damit müssen die Schüler umzu­gehen lernen. Wir bringen ihnen dann richtig bei, so einen ‚Chinese Wall‘ – wie in der Industrie üblich – zu bilden, also keine projektspezifischen Informationen auszutau­schen, solange das Projekt läuft. Und am Ende vergleichen und bewerten wir dann die unter­schied­lichen Vorgehens­weisen und Ergebnisse. Das ist auch für die Schüler immer wieder sehr interessant zu sehen, daß man so ein Thema in verschie­dener Weise angehen, und daß man auch zu ganz unterschiedlichen Lösungen kommen kann. Ja, wie gesagt, das Themen­spektrum ist sehr breit­gefächert und vielfältig: Da werden physikalische und chemische, bio­lo­gische, mikro­bio­logische und sogar gentech­nische Expe­ri­mente gemacht, mathematische Unter­­suchungen durchgeführt, gesellschaft­liche, soziale, philosophische, ethische Fragestel­lungen erörtert, da wird gebastelt und ge­wer­kelt, da werden sogar Erfindungen gemacht. Bei vielen Projekten, insbesondere bei den älteren Jahrgängen, arbeiten die Schüler auch mit Fir­men und wissenschaftlichen Einrich­tungen zusammen. So bekommen sie frühzeitig Einblicke in solche Institutionen, erleben hautnah deren Aufgaben und Arbeitsweisen, erhalten jede Menge zusätzliche Anregungen und kön­nen durch Nutzung der dort gegebenen Möglichkei­ten Experimente durchführen, die ihnen auf dem Schulgelände gar nicht eingeräumt werden könn­ten. Wir haben inzwischen Verbin­dungen zu sehr vielen Firmen und wissenschaftlichen Insti­tu­tionen in der Umgebung, die sich sogar als Sponsoren betätigen, die uns Aufgaben­stellun­gen und Projektbetreuer aus ihrem Bereich vermitteln und bei der Finanzierung unter­stützen, denn nicht selten erarbeiten unsere Schüler auf diese Weise sehr nützliche Lösungen für deren Probleme. Etliche solcher Projektarbeiten bieten den Schülern sogar die Möglichkeit zu Auslandsaufenthalten, wo sie weitere, sehr wertvolle Erfahrungen sammeln können.“

      „Ja, das ist sehr gut. Das halte ich für sehr wichtig, daß die frühzeitig mal rauskommen und was von der Welt sehen – das erweitert ihren Horizont kolossal“, bescheinigte Chan. „Aber auch mal abgesehen vom Auslandsaufenthalt – allein schon die Tatsache, daß die Jugend­lichen nicht nur abgeschirmt in der Schule lernen, sondern mit den unterschiedlichsten Berufs- und Lebens­bereichen der realen Welt außerhalb der Schule konfrontiert werden, dort Eigenverant­wortung übernehmen müssen und dabei frühzeitig ihre Erfahrungen sammeln können, das wird ihr Selbstbewußtsein und ihre Leistungsfähigkeit stärken.“

      „Genau!“ fuhr Ellen fort: „Das zählt für mich zu einem der wichtigsten Vorteile der Projekt­arbeit überhaupt, daß hier die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Schüler gefordert und geför­dert wird. Es gibt zwar für jedes Projekt einen Mentor, den sich die Gruppe aus dem Kreise der Lehrer oder auch Außen­stehender selbst auswählen kann, aber der hat immer nur unter­stützende, beratende Funk­tion. Die Projektgruppe muß sich völlig selb­stän­dig organisie­ren, muß die Aufgaben struktu­rie­ren und verteilen, die Lösung im Team erarbei­ten, die Ergeb­nisse präsentieren. Sie muß sich aber auch selbst um die für die Durchführung notwendige Finanzierung kümmern, falls für die Aufgabenbearbeitung Geld benötigt wird. Auch wenn es sich dabei im allgemeinen um sehr begrenzte Mittel handelt, das Budget muß erst einmal akquiriert werden. Und es bleibt ihrem Einfallsreichtum und ihrer Überzeugungs­kraft überlassen, wo sie einen Sponsor finden. Und natürlich müssen sie auch lernen, mit dem gegebenen Budget auszukommen und ent­sprechend haushalterisch umzugehen. So lernen sie neben der fachlichen Thematik auch immer gleich die Planung von Projekten, die Zeit- und Kostenschätzung für die Durch­führung sowie das Management und Controlling von Projekten, was sie später im Beruf not­wen­di­gerweise beherrschen sollten.“

      „Das ist sehr wichtig, ja“, bestätigte Chan. „Aber auch die in der Teamarbeit erworbene So­zial­­kompetenz, die Motivation zum Lernen, das Interesse an geistig anspruchsvollen und fach­über­greifenden Themen, das Entwickeln von Problemlösungsstrategien, der Wille zum Erfolg und die Überwindung von ‚Krisen’ oder Streitigkeiten – das sind ja alles äußerst wert­volle Erfah­­rung­en, die ihnen in ihrem Leben noch sehr nützlich sein werden. Übrigens auch die Metho­den­kompetenz, die sie durch die Unterstützung ihres Mentors erfahren! Und, last but not least, werden sie auf diese Weise ja auch sehr frühzeitig auf ihren späteren Beruf hingeführt,