Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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      „Ja, natürlich. Die Eltern können zum einen im Kindergarten zuschauen, wie das da läuft – allerdings bei diesen Lernstunden, über die ich gleich rede, versteckt hinter einer Spiegel­wand.“

      „Wieso hinter einer Spiegelwand?“ wollte Frau Li wissen.

      „Das macht man ganz bewußt, damit die Kinder sich nicht durch ihre Eltern beobachtet oder beeinflußt fühlen. Man hat die Erfahrung gemacht, daß sie dadurch abgelenkt sind und anders reagieren, als wenn die Eltern nicht anwesend sind. Die Eltern sind also in dem Moment gewissermaßen ein Störfaktor. Und so etwas möchte man möglichst vermeiden. . . . Ja, und die andere Möglichkeit ist, sich das zu Hause am Bildschirm anzuschauen, denn die machen ja Videoaufnahmen und stellen die ins WorldNet ein.“

      „Ach, das ist ja interessant!“ zeigte sich Chan begeistert. „Dann könnte ich mir das also auch mal anschauen?“

      „Hm, . . . ja und nein! Du könntest es dir bei den Eltern der Kindergartenkinder anschauen, wenn die dich lassen, selbst­ver­ständlich. Aber generell haben nur die sogenannten closed user groups Zugang zu diesen ver­schlüsselten Videos, also beispielsweise die Angehörigen, das Kindergartenpersonal und deren Vorgesetzte. Man will ganz einfach von vornherein ver­meiden, daß irgend jemand auf die Idee kommen könnte, die damit übertragenen Informa­tionen für kriminelle Zwecke zu miß­brauchen, verstehst du?“

      „Ja, verstehe!“

      „So, aber was ich eigentlich erzählen wollte, ist folgendes: Also, die Kindergruppe sitzt da im Raum und wartet schon ganz gespannt auf den ‚Engländer‘. Gespannt sind sie, weil ihre Betreuerin ihnen angekündigt hat, daß da ein Besucher aus England kommt, der überhaupt kein Deutsch versteht, der aber eigentlich ganz gern hier in Deutschland für eine Zeit leben möchte. Also, was ist zu tun? Die Kinder mußten nicht lange überlegen: Der muß halt Deutsch lernen! Ja, sagte die Betreuerin, aber wie soll er das machen? Er kennt doch hier niemanden, der ihm dabei helfen könnte. Sollen wir ihm dabei helfen? ‚Ja’, schrien alle Kinder. Also so ungefähr mußt du dir das vorstellen. Die Kinder werden vorgespannt, ihre Hilfsbereit­schaft wird motiviert und sie werden in eine Rolle versetzt, in der nicht sie die Lernenden sind, sondern die ‚Besserwissenden‘. Deshalb sind sie schon ganz begierig, den Besuch endlich zu empfangen. Und dann kommt er – ein aus­ge­bildeter Komiker, der es versteht, binnen kürzes­ter Zeit die Herzen der Kinder zu erobern. Ich sage dir, selbst wir Eltern haben uns schlapp gelacht hinter dem Spiegel! Er spielt so ‘n bißchen den Tolpat­schigen, weißt du, den Unbe­hol­fenen. Und er spricht nur Englisch, natürlich ganz ein­fache Sachen, am Anfang vor allem solche Worte, die im Deutschen sehr ähnlich klingen, also zum Beispiel bei der Begrüßung: ‚Good­ morning‘! Ein Mädchen lacht und ruft: ‚Guten Morgen‘, heißt das! Der Engländer guckt erstaunt und versucht, es auf deutsch nachzu­sprechen. Natürlich verspricht er sich dabei gelegentlich und macht allerlei Späße, so daß die Kleinen immer was zu lachen haben. Die Betreuerin vermittelt immer dann, wenn die Kinder nicht selber drauf kommen, was es bedeu­ten soll. So spielen sich die beiden immer gegenseitig die Bälle zu und binden dabei die Kinder ein. ‚My name is Peter‘. Die Kinder verstanden sofort und riefen: ‚Der heißt Peter‘. ‚Ich heiße Bernd‘; ‚Ich heiße Julia‘; . . . riefen die Kinder durcheinander. Der Engländer tat so, als verstünde er gar nichts; spielte den Hilf­losen. ‚Isch haiße . . . ???‘ stammelte er fragend in die Kinderrunde. ‚Er weiß nicht, was das bedeutet: Ich heiße . . .‘, hilft die Betreuerin nach. ‚Wißt ihr noch, wie er sich vorgestellt hat‘? fragt sie die Kinder. ‚Ja, er hat gesagt: My name is Peter‘, ruft wieder ein Mädel. ‚Ja genau! Und so müßt ihr ihm auch euren Namen sagen, dann versteht er euch‘, erklärt die Be­treuerin, während der Engländer seine hilflose Rolle sehr amüsant weiterspielt. ‚My name is Julia‘, begann die erste. Und alle riefen ihre Namen durch­einander. Der Engländer machte durch unbeholfen wirkende Gesten deutlich, daß er vor lauter Lärm nichts verstand. Als es dann endlich etwas ruhiger geworden war, ging er nacheinander zu jedem Kind, gab ihm die Hand und sagte: ‚My name is Peter. What is your name‘? ‚Peter‘, antwortete der erste, der zufällig auch so hieß. ‚No, no‘! sagte der Engländer und schüttelte den Kopf: ‚My name is Peter‘! während er mit dem Finger auf sich zeigte. ‚What is your name‘? fragte er wieder und zeigte mit dem Finger auf Peter. ‚Peter‘, antwortete dieser noch einmal, und der Engländer schüttelte wieder den Kopf. ‚Your name‘! forderte er energischer und tippte mit dem Finger auf Peters Brust. Die Betreuerin half etwas nach: ‚Er denkt, du sprichst seinen Namen nach. Er weiß ja nicht, daß du auch Peter heißt. Sprich den ganzen Satz – so, wie sich der Eng­länder vorgestellt hat, dann versteht er dich besser‘. ‚My name is Peter‘, kam endlich die erlösende Antwort. Na ja, der Engländer trieb dann noch ein paar Späßchen des Erstaunens und der Verwechslungen, womit er alle Kinder immer wieder zum Lachen brachte, und machte dann seine Vorstellungsrunde. Die Kinder hatten kapiert und antworteten alle im Satz. . . . Es war wirklich lustig. . . . Oder ein anderes Beispiel: ‚I like dancing‘! Die Kinder überlegen, was er wohl meinen könnte. Wenn sie nicht drauf kommen, nimmt der Engländer plötzlich die Betreuerin bei der Hand, zieht sie nach vorn und tanzt ein bißchen mit ihr. Sofort haben die Kinder kapiert. Der meint Tanzen! Der Engländer sagt: ‚Yes, I like it‘! Die Betreue­rin hilft: ‚Yes gleich ja; I like it – ich liebe es, ich mache es gern‘. Und so geht das immer weiter: ‚I like coffee‘; ‚I like tea‘. ‚I am happy‘; ‚I am hungry‘; und so weiter, und so weiter. Du glaubst nicht, wie begeistert die Kinder bei der Sache sind! Vor allem auch, weil alles so lustig ist, und weil der Engländer so viele Komik-Einlagen gibt. Sie merken gar nicht, daß sie selbst dabei lernen. Gegen Ende der Übung wiederholen sie alle zusammen noch einmal, was sie dem Engländer alles für deutsche Worte und Sätze beigebracht haben. Der spricht alles geduldig nach, und anschließend fragt er die Kinder: ‚Did you learn English a bit‘? Die Betreuerin hilft wieder ein bißchen, aber die Kinder haben schnell kapiert. Zu Hause erzählen sie ganz stolz: ‚Wir haben heute einem Engländer Deutsch beigebracht. Und ich habe dabei Englisch gelernt‘! Sie wollen jeden Tag mehr lernen und warten schon immer ganz ungedul­dig auf den lustigen Engländer.“

      „Das hört sich wirklich sehr interessant an“, bestätigte Chan.

      „Oder ein anderes Beispiel“, fuhr Ellen fort, die jetzt erst richtig in Fahrt kam. „Wir haben dort einen Zauberer, der jede Menge kleine physikalische oder chemische Experimente macht, die die Kinder mit Verblüffung und großem Erstaunen verfolgen. Der Zauberer ist natürlich auch ein Komiker, der es versteht, die Kinder immer bei Laune zu halten. Auch hier sind er und die Betreuerin wieder ein eingespieltes Team. Häufig geht natürlich so ein Versuch erst mal daneben. Dann wird gerätselt, was da wohl passiert sein könnte – und was eigentlich hätte passie­ren sollen. Warum manche Körper schwimmen und andere untergehen und wa­rum das so ist. Warum manche Luftballons aufsteigen und andere nicht. Warum Flug­zeuge fliegen und Autos nicht. Und so weiter und so weiter. Und immer wird sehr anschaulich erklärt. Die Kinder verfolgen das mit Leidenschaft!“

      „Das glaube ich sofort! Denn Emotionen sind sehr wichtig fürs Lernen. Sie beeinflussen unser Unterbewußtsein, und dies wiederum beeinflußt den Lernprozeß. Fühlen wir uns wohl, sind wir positiv gestimmt, dann können wir etwas Neues viel besser aufnehmen und das Gelernte auch viel besser behalten als wenn wir schlechtgelaunt oder sogar im Streß wären. Deshalb ist auch die Lernumgebung, die Atmosphäre, in der wir uns befinden, so wichtig für die Motivation, die Lernbereitschaft und die Leistungsfähigkeit. Wenn man also das Interesse der Kinder auf so eine nette, lustige Art wecken kann, wie du das gerade beschrieben hast, dann ist der Erfolg ja schon vorprogrammiert!“ pflichtete Chan spontan bei.

      „Ja, und auch das Schreiben und Rechnen wird ihnen auf ähnlich lustige und spielerische Weise beigebracht. Natürlich alles immer nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten beziehungs­weise Fähigkeiten, und schon gar nicht unter Ausübung eines Leistungsdrucks, denn man darf sie ja auch nicht überfordern. Aber ihr natürlicher Wissensdrang soll jedenfalls gestillt werden. Und der ist ja bekanntlich groß. Wenn man sich nur vergegenwärtigt, wie sie einen in dem Alter mit Tausenden von Fragen manchmal richtig löchern können! Da soll keine Frage unbeantwortet bleiben. Das ist natürlich eine ziemlich große Herausforderung für die Ausbilder.