Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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und Bauern-Staat mit einem riesigen Heer von Analphabeten. Wo während der Jahre der Kultur­revolution die meisten Schulen und Universitäten lange Zeit sogar gänzlich geschlossen waren. Wo Intellektuelle gedemütigt und in die Verbannung geschickt wurden. Wo Bildung schlichtweg verpönt war. Erst mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik in China, die wir Deng Xiaoping verdanken, wurde endlich was für das Bildungs­wesen getan – dann aber umso mehr! Er hatte erkannt, wie wichtig die Bildung für die Entwicklung des Landes ist. Ich habe mir einen Satz aus einer seiner Reden 1985 gemerkt, der das klar belegt und mich sehr beeindruckt hat:

      ‚Die Stärke und das wirtschaftliche Wachstum unseres Landes sind zunehmend abhängig von der Leistungs­fähigkeit der Arbeitskräfte und der Quantität und Qualität der Intellektuellen. Unter der Voraussetzung eines guten Bildungs­systems kann China, ein Land mit einer Milliarde Menschen, enorme intellektuelle Ressourcen aus­schöpfen, die kein anderes Land aufweisen kann’.

      Er sollte recht behalten. Seit 1986 gibt es in China offiziell eine allgemeine Schulpflicht, wenn sich das in den ländlichen Provinzen auch nicht immer gleich flächendeckend durch­setzen ließ. Der Staat hat gewaltige Anstrengungen unternommen, um den Analphabetismus zu bekämpfen – nicht nur durch die reguläre Grundschul­bildung der Kinder, sondern auch durch Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene, die ja einen riesigen Nachholbedarf hatten. Dafür wurden erhebliche Investitionen in die Infrastruktur, die Lehrkräfte und die Aus­bil­dungs­­programme gesteckt. Und es hat sich gelohnt, es hat sich ausgezahlt. Seitdem ist kolossal viel geschehen: China hat sich in diesen fast hundert Jahren vom armen, rückständigen Agrarland zur weltgrößten Wirtschaftsnation und zum führenden Technologietreiber ent­wickelt.“

      Es trat ein Moment der Stille ein. Frau Li saß ganz aufrecht in ihrem Sessel und war sichtlich sehr stolz auf die Leistungen des chinesischen Volkes. Es klang nicht überheblich. Und es war mitnichten ihre Intention, ihr Gegenüber, Europa oder gar die ‚Westliche Welt’ insgesamt herab­zusetzen. Nein, es war einfach nur der Stolz auf die eigene Leistung, chinesischer Natio­­nal­stolz. Es war Ausdruck des für China charakteristischen Patriotismus, der sich im Laufe dieser Jahrzehnte – gefördert von der chinesischen Regierung – immer stärker heraus­­­gebildet hatte.

      Ellen spürte diesen Stolz, der aus jeder Äußerung, jeder Geste, jeder Mimik ihres Gegen­übers unübersehbar herüberstrahlte. Der chinesische Patriotismus war ihr längst vertraut aus vielen anderen Begegnungen mit Chinesen und natürlich auch aus den Medien, und sie wußte ihn daher richtig einzuordnen. So registrierte sie ihn jetzt ohne irgendwelche Neid­gefühle. Sie empfand auch keinerlei Abneigung. Warum auch? Warum sollten die Chinesen auf ihre enormen Leistungen nicht stolz sein? Und warum sollte man ihnen dafür nicht die gebührende Anerkennung zollen? Sie haben sie verdient, die Anerkennung! Es war eine ganz heraus­ragende Leistung, dieses Milliardenvolk mit seinen verschiedenen, oft wider­strebenden Ethnien in so kurzem Zeitraum vom bettelarmen Habenichts zum Welt­besten zu entwickeln. Gewiß, sie haben immer noch keine wirklich demokratischen Verhältnisse. In einem totalitären Regime lassen sich die Dinge schneller bewegen, Entscheidungen schnel­ler fällen und durchsetzen. Das geht häufig auf Kosten des Einzelnen, aber zum Nutzen des Ganzen. Soll man sie deshalb ver­dammen? Wäre China unter demokratischen Verhältnissen heute da, wo es jetzt steht? Existierte es überhaupt noch in dieser Form, oder wäre es nicht längst schon auseinander­gefallen in verschiedene Teile – hätte es also nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die ehema­lige Sowjetunion?

      Solcherlei Gedanken gingen Ellen durch den Kopf, während Frau Li sich im Gefühl des Stolzes sonnte. Aber es dauerte nicht lange, bis sich Ellen die Frage stellte: Wieso reden wir jetzt hier eigentlich über Stolz? Ich wollte doch lediglich etwas über das chinesische Schul­system erfahren. Andererseits wollte sie aber auch nicht unhöflich erscheinen und abrupt das Thema wechseln. So suchte sie gerade noch nach einem geeigneten Übergang, als Chan sich wieder einschaltete.

      „In diesem Kontext erinnere ich mich gerade an einen Satz, den ich damals, als ich ihn las, für merkenswert hielt, und den ich deshalb hier mal zum besten geben möchte. Er lautet:

      ‚Any country that wants to compete in the world economy needs a comprehensive education policy that includes spending on higher education, science and technology, and professional training’.

      Dieser Satz steht im World Development Report 1992, herausgegeben von der Welt­bank. So, wenn man diesen Satz zugrunde legt, dann kann man sagen: China hat seine Haus­aufgaben gemacht.“

      „Das will ich wohl meinen“, pflichtete Frau Li ihr sofort bei.

      „Okay, that’s it!“ fuhr Chan fort. „Aber ich denke, Ihr wolltet Euch noch etwas über die unter­schied­lichen Schulsysteme austauschen.“

      Ellen ergriff sofort die sich bietende Gelegenheit: „Ja, richtig. Wenn Sie erlauben, Frau Li, ...“

      Frau Li nickte.

      „ . . . wie sieht es eigentlich mit Fremdsprachen in China aus?“

      „Jeder Schüler lernt zwei Fremdsprachen. Die erste ist bei uns Englisch, das ist Pflichtfach für alle. Die zweite kann man wählen. Und da sieht es in der Praxis so aus, daß man etwa folgende Reihenfolge nach Häufigkeit aufstellen kann: Japanisch, Deutsch, Französisch, Spanisch.“

      „Interessant. Und wann fangen Sie mit den Fremdsprachen an?“

      „Englisch bereits im Kindergarten; die zweite Fremdsprache im fünften Schuljahr.“

      „Aha, das ist ja ähnlich wie bei uns. Und wie sieht so ein typischer Schultag aus? Sie fangen ja sehr früh morgens an; um 7.30 Uhr sagten Sie, glaube ich, vorhin?“

      „Ja, das ist richtig. Aber der Unterricht beginnt erst um 8.00 Uhr. Wir nutzen die ersten 20 bis 30 Minuten für eine allmorgendliche Gymnastik mit anschließenden Konzentrationsübungen. So werden die Schüler optimal auf den Unterricht eingestimmt.“

      „So etwas habe ich schon mal im Fernsehen gesehen. Da stehen alle Schüler in militärisch anmutender Ordnung aufgereiht auf dem Schulhof, abwechselnd eine Mädchen- und eine Jungenreihe in ihren verschiedenfarbigen Schuluniformen, und folgen den Anweisungen eines Lehrers.“

      „Es mag etwas militärisch anmuten, ja. Aber ohne Ordnung und Disziplin geht es nicht. Wenn man da im Westen häufig von Drill spricht, dann verkennt man ganz einfach die Tat­sache, daß ein zahlenmäßig so großes Volk wie das chinesische ohne Ordnung und Diszi­plin zwangs­läufig im Chaos enden würde.“

      „Das mag sein. Aber was ich da mal in einem Bericht gesehen habe, das sah schon sehr nach militärischem Zeremoniell aus.“

      „Dann haben Sie vermutlich den Appell am Wochenbeginn gesehen. Wir pflegen in der Tat eine bestimmte Zeremonie, den Montagmorgenappell, bei dem alle Schüler auf dem Hof in Reih’ und Glied zum Hissen der Nationalflagge antreten müssen. Anschließend singen alle die chinesische Nationalhymne und der Schulleiter hält noch eine Ansprache. Auf diese Weise pfle­gen wir von klein auf unseren gesunden Nationalstolz, der unser Zusammen­ge­hö­rigkeits­gefühl als Nation stärkt und in uns neue Kräfte für neue Taten mobilisiert. Das ist eine sehr richtige und wichtige Einrichtung, die für die Entwicklung unserer Jugend zu ver­ant­wor­tungs­vollen, gemeinschaftsdienlichen und heimatverbundenen Staatsbürgern in hohem Ma­ße förder­lich ist. Aber nochmal: Ja, es mutet in gewisser Weise militärisch an, wenn sie da in Reih’ und Glied antreten und strammstehen, die Fahne hissen und die Nationalhymne singen. Andernfalls jedoch, wenn sie wie ein Hühnerhaufen auf dem Schulhof ´rumständen, ginge die ganze Symbolik verloren und die beabsichtigte Wirkung der Handlung verpuffte total. ‚Militärisch’ bedeutet Ordnung und Disziplin zu halten, und genau das ist es, was wir in unserem großen Volk unbedingt brauchen, um nicht ins Chaos abzurutschen, wie ich vorhin schon erklärte. Deshalb ist es nicht verwerflich, wie man aus manchem westlichen Kommen­tar heraushören könnte, sondern absolut notwendig und richtig, die Einheit der Nation und das Zusammengehörigkeits­gefühl der Menschen mit geeigneten Maßnahmen zu fördern.“

      Wieder trat ein Moment betretenen Schweigens ein. Ellen hatte offensichtlich noch mal in dieselbe Wunde getroffen, wenn auch unbeabsichtigt.