Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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Ambitionen und Möglichkeiten.“

      „Ja, das ist richtig. Da das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet ist, die Schüler mit einem breiten Spektrum an Themen – Wissens-, Forschungs- und Arbeitsgebieten sowie Prozes­sen, Methoden und Tools – bekanntzumachen, Vielfalt zu zeigen, Interessen zu wecken, aber auch die Gelegen­heit der Vertiefung potentieller Interessensgebiete zu ermöglichen und zu unter­stützen, ha­ben die Schüler nach dem Schulabschluß bereits eine relativ gute Vorstellung hin­sicht­lich ihrer beruflichen Ausrichtung und Perspektiven, so daß sie die berufsorientierte Aus­bildung nahtlos anschließen können.“

      „Und alles kostenlos! Das finde ich phänomenal! Bei uns in China müssen die Eltern noch selbst für die Kosten der Ausbildung aufkommen“, sagte Chan.

      „Erst ab der Oberstufe!“ korrigierte Frau Li.

      „Ja, richtig, erst ab der Oberstufe“, gab Chan zu. „Aber immerhin! Und das Mittagessen müs­sen sie bei uns auch selber zahlen.“

      Frau Li warf ihr einen strengen Blick zu, äußerte sich aber nicht weiter dazu.

      „Ja, das war auch hier ein langes, zähes Ringen“, sagte Ellen. „Aber letztlich hat sich die Erkennt­nis durchgesetzt, daß diese europäische Gemeinschaft ihren Bestand im harten Wett­­bewerb mit den bevölkerungs- und/oder rohstoffreichen Ländern nur behaupten kann, wenn sie zur geistigen Elite gehört, wenn sie bei Wissenschaften, Forschung und Techno­logien in der Champions League mitspielen kann. Und wenn du das erreichen willst, dann mußt du konse­quen­­ter­­weise die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen. Und eine gute Schul­bildung ist nun mal die wichtigste Voraussetzung für jeden einzelnen, um den Herausforderungen unse­rer modernen Gesellschaft gerecht zu werden und in diesem Wett­bewerb zu bestehen. Deshalb wird die ganze Aus­bildung bis zum Abitur aus Steuergeldern finanziert, also von allen Bürgern der Gemeinschaft, nicht nur von denjenigen, die noch bereit sind, für den Nachwuchs und damit für den Fortbestand der Gemeinschaft zu sorgen. Und deshalb haben wir auch her­vorragend ausgestattete Kindergärten und Schulen, ein her­vorragendes Bildungssystem und her­vor­ragende Lehrkräfte. Alles hervorragend – anders könnten wir gar nicht bestehen.“

      „Vernünftige Einstellung!“

      „Und es gibt einen weiteren wichtigen Beweggrund dafür: Chancengleichheit! Denn nicht alle Eltern sind in der wirtschaftlich guten Lage, die Kosten für eine so umfassende Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. Diese Kinder – und das sind gar nicht so wenige – würden klar be­nach­teiligt. Das wollen wir nicht!“

      „Sehr fürsorglich!“

      „Ja, aber es ist nicht nur altruistisch gedacht, sondern auch ein wenig egoistisch – aus Sicht der Gesellschaft. Denn andernfalls ginge unserer Gesellschaft ein nicht unerhebliches Poten­­tial an Leistungsträgern verloren! Diese Situation hatten wir ja lange genug: nämlich massenweise schlecht bis gar nicht ausgebildete Jugendliche, die nichts leisteten, sondern im Gegenteil die Gesellschaft erheblich viel Geld kosteten. Das war eine lost-lost-situation: Diese Jugendlichen waren frustriert, denn sie empfanden sich als Loser ohne jede Zukunfts­perspektive, und für die Gesellschaft waren sie nur eine Belastung, denn sie mußte beträcht­liche Sozialhilfeleistungen für sie aufbringen und obendrein eine gesteigerte Krimina­li­tätsrate bekämpfen. Da ist das Geld doch besser so angelegt, wie wir das jetzt machen. Darauf hätte man übrigens schon viel frü­her kommen können!“

      „Ja, natürlich, da hast du völlig recht! Die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen steigt zwangs­läufig, wenn diese keine Perspektive für sich sehen, sich als Loser empfinden und deshalb frustriert sind. Dann machen sie die Gesellschaft für ihr Schicksal verantwortlich und reagie­ren ihre Wut an den gesellschaftlichen Institutionen, Einrichtungen und an ihren Bürgern ab.“

      „Zweifellos! Deshalb ist es umso wichtiger, alle Mitglieder der Gesellschaft ‚mitzunehmen’ und gleichermaßen zu fördern. Aber wie gesagt: Irgendwann ist auch das Ende der Fahnen­stange erreicht. Für die Finanzierung der berufsbezogenen Ausbildung, also für die Zeit nach dem Abi, muß jeder selber aufkommen. Sie sind dann erwachsen, haben eine tadellose Ausbildung und damit ein solides Fundament, um für sich selber zu sorgen.“

      „Aber sie haben doch dann noch kein eigenes Einkommen und sind immer noch in der Aus­bildung.“

      „Doch, ja! Sie erhalten ja, wie schon erwähnt, von der AGV ein monatliches Grundeinkom­men. Und wenn ihnen das tatsächlich nicht reichen sollte, dann darf man doch schließlich auch ein bißchen Unter­stützung durch das Elternhaus erwarten, wenn die Gesellschaft schon für die Kosten der ersten 18 Jahre aufge­kom­men ist, oder? Bei Euch in China müssen sie ja sogar schon ab der zehnten Klasse Schul­geld zahlen, wie ich vorhin gehört habe.“

      „Das habe ich gesagt, ja“, bestätigte Frau Li. „So ist es bei uns auch. Trotzdem würde mich interessieren, wie es hier diejenigen machen, die vom Eltern­haus her nicht so gut ausge­stattet sind?“ wollte Frau Li wissen.

      „Normalerweise hat jeder Jugendliche eine Ausbildungsversicherung, die staatlicherseits bei der Geburt mit einem Startgeld initiiert und dann von den Eltern üblicherweise mit monat­lichen Raten fortgeführt wird“, erwiderte Ellen. „Die angesparten Beträge können nach dem Abi abge­rufen werden. Damit kann jeder Jugendliche seine Grundversorgung aufbessern und hat dann eine ziemlich üppige finanzielle Grund­ausstattung – je nach­dem, ob und wieviel die Eltern über die Jahre angelegt haben. Wenn die Jugendlichen gut sind, oder wenn sie es geschickt anstellen, dann werden sie gesponsert, erhalten zum Beispiel ein Stipen­dium von einem Unternehmen, einer Institution, einem Förderverein oder einem wissen­schaftlichen Institut. Und unabhängig davon kann man aber auch bei jeder Bank ein sehr günstiges Studiendarlehen erhalten. Das vergeben die Banken schon aus ganz eigen­nützigem Interesse, denn sie verbinden natürlich mit jedem dieser Darlehen die Hoffnung, diesen Dar­lehens­nehmer auch später als Kunden zu behalten. Aber wie gesagt: Wenn sie nicht auf allzu großem Fuße leben, dann kommen sie allein mit der Grundversorgung, der AGV, ganz gut über die Runden.“

      „Verstehe!“

      „Naja, und außerdem haben viele Studenten nebenher irgendeinen Job, um sich noch etwas dazu zu verdienen. Und die Studentenbuden in den Uni-Camps sind ja auch sehr preiswert – wie übrigens auch die Mensa. Also, da hat bisher noch jeder sein Auskommen gefunden.“

      „Das ist bei uns in China bis auf die Grundversorgung ganz ähnlich“, be­stätigte Frau Li. Und noch ehe sie weitersprach, ver­nahm sie einen Klingelton. „Oh! Das könnte mein Mann sein“, sagte sie. „Dann muß ich mich jetzt leider verabschieden.“

      Und da kam auch schon Robby ins Zimmer und führte Herrn Li herein. Frau Li machte ihn mit Ellen bekannt; Chan und er kannten sich ja bereits. Chan lud ihn ein, Platz zu nehmen. Aber er war in Eile, wollte nur seine Frau abholen. Sie hatten jetzt noch eine Verabredung in der Stadt. Frau Li bedankte sich bei der Verabschiedung für die freundliche Einladung und das sehr inte­res­sante Gespräch. Sie habe eine Reihe von Gemeinsamkeiten in den beiden Schulsystemen erkannt, aber auch einige Unterschiede. Und so nehme sie gerne einige wertvolle und inte­res­sante Anregungen mit nach Hause. Ja, und wenn Ellen tatsächlich mal nach Beijing kommen sollte, dann müsse sie sie unbedingt dort besuchen, sagte sie noch, bevor sie ging. Chan gelei­tete ihren Besuch noch bis zur Haustür, wo auch schon ein Taxi wartete. Als sie Herrn Li die Hand zum Abschied reichte, fragte sie ihn, ob es denn morgen bei der Verabredung bleibe.

      „Ja, ja, selbstverständlich. Um 17.00 Uhr werde ich hier sein“, hatte er geantwortet, und Chan er­wi­derte: „Fein, mein Mann wird sich freuen.“ Dann winkte sie beiden nach, bis sie im Taxi ver­schwan­den.

      Nachdem sie abgefahren waren, kam Chan zurück ins Wohnzimmer zu Ellen.

      „Du hast doch schon noch ein bißchen Zeit, Ellen?“ fragte Chan. „Wir müssen ja unser Ge­spräch, nur weil sie weg ist, nicht so abrupt abbrechen, oder?“

      „Nein, nein! Kein Problem, es pressiert mir nicht.“

      „Und? Was sagst du?“

      „Ja, was soll ich sagen?