Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


Скачать книгу

lagen klar auf der Hand. Für die Firmen waren dies folgende: Leerzeiten im Angestelltenbereich gab es praktisch nicht mehr, hier sparte die Firma sehr viel Geld. Der Bedarf an Räumlichkeiten und Infrastruktur war wesent­lich geringer, weil ein sehr großer Teil der Beschäftigten zu Hause arbeitete – auch hier sparte die Firma Geld. Und schließlich waren die Produkte selbst im allgemeinen weit weniger fehlerbehaftet, hatten also eine bessere Produkt­qualität und Termintreue. Dies war vor allem dem Umstand zu verdanken, daß die Aufgaben schon vor Auftragsvergabe sehr viel gründlicher definiert und abgeschätzt werden mußten als es früher üblich war und daß die Arbeiten jetzt – in Eigen­verantwortung – viel sorgfältiger durchgeführt wurden. Dadurch re­duzierte sich die Wahr­schein­lichkeit von Fehleinschätzungen beziehungsweise Fehlern erheblich, was zu großen Kosten­einsparungen führte. Denn gerade Fehler in den frühen Phasen einer Entwicklung, die in aller Regel erst sehr viel später entdeckt werden, ver­ursachen dann um so größere Kosten und Zeitüberzüge je später sie erkannt werden. Und schließlich war auch das Risiko, das bei technischen Problemstellungen immer auftreten kann, jetzt weitgehend vom Auftraggeber zum freien Mitarbeiter verlagert worden, jedenfalls soweit die Aufgabenstellung des Auftraggebers nicht schon fehlerhaft war. Das Gehalts­niveau ist jetzt zwar deutlich höher als früher, aber dafür entfallen für den Auftraggeber sämt­liche Sozialleistungen einschließlich Betriebsrenten für seine – jetzt eigenverantwortlichen – Auftragnehmer. Die Auftraggeber müssen dafür keine Rücklagen mehr bilden und werden gleichzeitig von dem damit verbundenen bürokratischen Verwaltungsaufwand entlastet.

      Auf der anderen Seite waren die Vorteile für den freien Mitarbeiter vor allem seine völlig freie Zeitverfügung und damit auch in gewisser Weise seine Lebensgestaltung. Er konnte jetzt bei­spielsweise – wenn er mit seinem Einkommen entsprechend gut auskam – ein halbes oder ganzes Jahr Urlaub machen. Er konnte auch Aufträge von anderen Firmen annehmen oder Weiter­bildungs­veranstaltungen besuchen. Er konnte sich freier entfalten und seine ‚Unterneh­mer-Qualitäten‘ entwickeln, indem er vielleicht Teile seines Auftrags an einen Unter­­auftrag­nehmer vergab. Er mußte nicht täglich zur Arbeitsstätte und zurück fahren. Er konnte sein Familien- oder generell sein Privatleben freier organisieren. Das war insbeson­dere für junge Fami­lien mit Kleinkindern ein unschätzbarer Vorteil, den sie gerne für sich in Anspruch nahmen.

      Es gab allerdings auch unerwünschte Nebeneffekte: So kam es verschiedentlich zur „Verein­samung“ von Menschen, weil die Betroffenen zum größten Teil ihrer Zeit – allein – zu Hause an ihren Computern saßen und zu wenig Kontakt zu ihren Arbeits­kollegen, die für manche überhaupt die einzigen Kontakte zu anderen Menschen schlechthin waren, bekamen. Sie wohnten durchaus nicht alle am selben Ort, weil das heimarbeit-bedingt auch gar nicht notwen­dig war, und sie trafen sich ja nur noch gelegentlich, zu bestimmten dienstlichen An­lässen. Dem versuchten allerdings die Auftraggeber häufig durch Förderung von Zusammen­künften und Gemeinschafts­veran­staltungen entgegen­zuwirken, denn es lag auch in ihrem ureigenen Interesse, die Zusammenarbeit in ihren Projekten zu fördern, weil der Erfolg der Arbeit letztlich davon abhing.

      Eine andere Begleiterscheinung war der gegenüber früheren Zeiten viel höhere Leistungs­druck, dem die Leute jetzt zwangsläufig ausgesetzt waren, denn sie mußten sich praktisch täglich neu bewähren, wurden ständig und unmittelbar an ihrem Erfolg gemessen. Von die­sem Erfolg hing schließlich auch ihre weitere Beschäftigung beziehungsweise Beauftragung sehr wesentlich ab, denn die vertragliche Bindung der Auftragnehmer zu ihrem Auftraggeber war jetzt deutlich geringer als bei den früher üblichen Festanstellungen. Das war gewisser­maßen der Preis, den sie für den größeren Freiheitsgrad in ihrer Selbstbestimmung und persönlichen Zeit­eintei­lung zahlen mußten.

      Auf der anderen Seite waren die Chancen, einen Auftrag zu erhalten, jetzt deutlich größer als in früheren Zeiten. Das hatte verschiedene Gründe: Zum einen waren die Firmen auf­grund der viel geringeren Zahl von Festanstellungen in ihren Betrieben auf die vermehrte Ver­gabe von Aufträgen an Externe angewiesen. Zum anderen gab es jetzt eine für alle Firmen in der EU einheitliche, nämlich am vereinbarten Auftragswert ausgerichtete Entloh­nungs­struktur. Die früher speziell in Deutschland sehr hohen Lohnnebenkosten pro Mit­arbei­ter sind ent­fallen, und das führte in der Tat zu einem größeren Beschäftigungseffekt. Denn damals beschäftigten die Firmen wegen der hohen Lohnnebenkosten lieber wenig Leute mit vielen Wochen­arbeits­stunden, anstatt mehr Leute mit weniger Wochenarbeits­stunden. Nach­dem diese „Schieflage“ beseitigt worden war und die Entlohnung nicht mehr auf Stunden­basis, sondern auf der Basis eines gut vorauskalkulierbaren Leistungswertes erfolgte, funk­tio­nierte der Arbeitsmarkt wesent­lich entspannter. Dem Auftraggeber konnte es jetzt egal sein, ob sein Auftrag von einem oder von mehreren Auftragnehmern gemeinsam bearbeitet wurde, ob also der Leistungswert – die Bezahlung – an einen Auftragnehmer ging oder unter mehreren aufgeteilt wurde. Hauptsache für ihn war, daß die vereinbarte Leistung in der vereinbarten Zeit und Qualität erbracht wurde. Zum Ausgleich für die entfallenen Lohn­neben­kosten mußten die Auftraggeber jetzt allerdings zwangsläufig ein inflations­bereinigt höheres Lohn­niveau als in früheren Zeiten akzeptieren, um die Auftragnehmer in die Lage zu ver­setzen, ihre Sozialversicherungs- und Vorsorgeauf­wen­dun­gen bezahlen zu können.

      Mit der Verein­fachung und europaweiten Vereinheitlichung der Vergütungsstruktur sowie dem automa­tischen Einzug der Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge bei jedem Kapital­transfer wurden innereuropäische „Verzerrungen“ aufgehoben und Verwaltungsaufwände auf allen Ebenen drastisch reduziert, was letztlich allen zugute kam: Das System war gerechter, und es war besser für die Bürger und besser für die Gesellschaft.

      Die in früheren Jahren in weiten Teilen vorherrschende Versorgungsmentalität existierte prak­­tisch nicht mehr. Das sogenannte „Soziale Netz“, vielfach auch als „Hängematte“ be­zeichnet und als Ruhekissen ausgenutzt, stand in dieser Form nicht mehr zur Verfügung. Jetzt gab es die Allgemeine Grundversorgung, und damit mußte zufrieden sein, wer nicht arbeiten wollte. Zusätzliche Hilfe bekamen jetzt nur noch nach­gewiesenermaßen wirk­lich kranke und notleidende, unterstützungs­bedürftige Menschen, die unver­schuldet in diese Situation geraten waren und nicht mehr allein herauskommen konnten. Das wurde streng kontrolliert. Wer arbeits­fähig war, hatte keinen An­spruch auf diese Unterstützung. So mußte sich jeder nolens volens selbst um eine Arbeit bemü­hen, sich selber kümmern, wenn er seinen Lebensstandard verbessern wollte. Und Arbeit gab es genug, obwohl sehr viele Arbeitsplätze, insbesondere in der Produktion durch den Robotereinsatz und in der Verwal­tung durch automatisierte Verar­bei­tungsprozesse, verloren­gegangen waren. Dafür gab es aber beispielsweise auch keine ehren­amtlichen Tätigkeiten mehr, auch keine unentgeltliche Nach­bar­schaftshilfe. Jede Tätig­keit mußte bezahlt werden. Besonders im Dienstleistungs­be­reich boomte der Arbeits­markt regel­recht, selbst in dem ehemals als „Service-Wüste“ ver­schrienen Deutschland. Angebot und Nachfrage waren gleichermaßen sehr groß, ob es sich nun um Kinder- oder Kranken­betreuung, Altenpflege, „Wellness“-Anwendungen im weitesten Sinne, Aus- und Weiter­bil­dung, Garten- und Landschaftspflege, Reparatur- oder Reinigungs­dienste, Transport­dienste, Unter­haltung jedweder Art, oder was auch immer handelte. Jeder Erwachsene hatte eine Aus­bildung, einen Beruf und – wenn er wollte – einen oder mehrere Jobs. Man hatte nicht keine Arbeit, weil es keine gab, sondern nur, wenn man nicht zu arbeiten brauchte, weil man auch so vermögend genug war, oder wenn man nicht arbeiten wollte, weil man Urlaub machte oder eine Weiterbildungs­maßnahme wahrnahm. Wie man überhaupt seine Zeit nach eigenem Gut­dünken frei einteilen konnte. So gab es nicht Wenige, die etliche Monate am Stück hart arbei­teten, um sich dann mit dem verdienten Geld eine längere Weltreise leisten zu können. Diese neu gewonnene Freiheit, sein Leben, seinen Alltag selbst bestimmen und gestalten zu können, nicht jeden Tag von neuem in die gleiche, zeitlich vorgegebene „Tretmühle“ gehen und seine Stunden „absitzen“ zu müssen, diese neue Freiheit war es vor allem, die – nach quälend langen gesell­schaftlichen Auseinander­setzungen – die Mehrheit der Bevölkerung schließlich doch für diesen gravierenden gesell­schaftlichen Wandel vereinnahmte. Und nicht nur das – sie förderte die Kreativität der Men­schen in einem Ausmaß, wie es vorher niemand sich auszu­malen vermochte. Das gesell­schaftliche Leben pulsierte in allen Bereichen. Im Kunsthand­werk,