Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


Скачать книгу

die für die jewei­lige Kernkompetenz des Unternehmens praktisch unverzichtbar waren, die die Kernauf­gaben des jeweiligen Geschäftes wahrnahmen und über das dazu notwendige Know-how verfügten. Zu diesen Kernaufgaben gehörten je nach Ausrichtung der Firmen ins­besondere die Systemanalyse, -design und -integration, die Spezifi­kation der jeweiligen Pro­dukte und ihrer Kom­po­nenten, Forschungsarbeiten, Expertenwissen, Kreativität und deren Umsetzung in Inno­vationen, spezifische Serviceaufgaben, sowie immer auch das Manage­ment der Auftrags­ab­wick­lung.

      Dahingegen wurde die Entwicklung von einzelnen Komponenten des Gesamtsystems nach vorgegebener Spezifikation nicht selten an Externe – andere Firmen oder selbständige „Heim-Arbeiter“ – unterbeauf­tragt, gegeben­en­falls auch die Fertigung, soweit diese über­haupt noch manuell erfolgte. In den Produktionsstätten waren nämlich fast ausnahmslos Roboter und softwaregesteuerte 3D-Drucker einge­setzt, was zu einer phantastischen Produktivitäts­steigerung geführt hatte, denn die Roboter waren per se fleißig, präzise und – wenn nötig – rund um die Uhr im Einsatz. Sie benötigten lediglich etwas Energie, die ihnen üblicherweise durch in den letzten Jahren dank eines erheb­lich gesteigerten Wirkungsgrades sehr viel effizientere Solartechnik zugeführt wurde. So benö­tig­te man selbst in größeren Produktions­stätten im allgemeinen nur noch ein bis zwei Perso­nen für die Aufgaben­programmierung der Roboter und deren Ausführungs­über­wachung.

      Zur stark angewachsenen Gruppe der Selbständigen zählten unter anderen auch alle soge­nann­ten „Heim-Arbeiter“. Im Grunde waren es aus­ge­lagerte Arbeitsplätze der großen Firmen, deren vormalige Angestellte sich in Anpassung an die neuen Gegebenheiten ver­selb­ständigt hatten. Dabei handelte es sich zum Teil um hochspezialisierte Fachkräfte, die als freie Mitar­bei­ter in enger Bindung zu einem bestimmten Auftraggeber immer wieder ganz bestimmte Pro­jekt­aufga­ben übernahmen und diese zu dessen Zufriedenheit erledigten, so daß sich hier sehr häufig ein längerfristiges vertrauensvolles Zusammen­arbeits­verhältnis herausbildete. Zum größeren Teil aber handelte es sich um Selbständige, die ihr Können und ihre Arbeitsleistung im Sinne einer „verlängerten Werkbank“ oder auch bestimmte Dienst­­leistungen an alle mög­lichen Interessenten auf dem freien Arbeitsmarkt anboten, sich mit ihren Fähigkeiten also selbst vermarkteten.

      Feste Wochenarbeits­zeiten gab es bis auf wenige Ausnahmen, besonders in den soge­nann­ten Präsenz-Berufen, nicht mehr. Das war möglich geworden, weil die Gehälter nicht mehr nach Zeitaufwand, sondern grundsätzlich nach Leistung gezahlt wurden. Dies wiederum war nur mög­lich, sofern jede zu erbringende Leistung vorher klar definiert und hinsichtlich ihres „Wer­tes“ abgeschätzt worden ist. Und genau das war gängige Praxis geworden, denn die Vorteile dieses reinen Leistungsprinzips gegenüber dem früheren „Beschäf­ti­gungs­­prinzip“, bei dem häu­fig mangels Auslastung oder aufgrund von Fehlbeschäftigung sehr viel „Tot­zeiten“ entstan­den beziehungsweise „Blindleistung“ erzeugt wurde und dadurch jede Menge Ineffizienz herr­schte, waren unbestreitbar groß. Die Beschäftigten im Angestelltenverhältnis bekamen – ge­nau wie die Selbständigen – von ihrem Auftraggeber klare, von Aufwand und Komplexität her überschaubare Auf­gaben­stellungen mit definierten Vorgaben zur Lieferung, Form und Qualität des Ergebnisses. Die eigentliche Arbeitszeit spielte dabei überhaupt keine Rolle mehr, der be­tref­fende Bear­bei­ter konnte so viel oder so wenig Zeit investieren wie er wollte beziehungsweise brauchte, und er konnte sich auch die Zeit einteilen wie er wollte, er mußte lediglich zum ver­ein­barten Zeitpunkt sein Ergebnis in der erwarteten Qualität ab­liefern.

      Die Durchsetzung des Leistungs­prinzips und die Automatisierung der Produktion mittels Robo­tern als treibende Faktoren hatten die Arbeitswelt total verändert. Es waren sehr viele kleine bis mittelgroße Unternehmen entstanden, und es gab ein „Heer“ von Selbständigen, die sich ihre Aufträge auf dem virtuellen Arbeits­markt, einer Homepage im WorldNet, suchten. In vielen Berufen konnte die Arbeit zu Hause – häufig am Computer, der über das WorldNet via verschlüsselter Datenübertragung mit der Firma verbunden war – erledigt werden. In die Firma ging man nur gelegentlich, zu vereinbarten Zeiten, um die Aufgaben­stellung gründlich durch­zusprechen, um beispielsweise mit den „Kollegen“ notwendige Ab­stim­mungen vorzu­nehmen, oder zu bestimmten Anlässen, aber auch um die für die Zusam­menarbeit wichtigen persönlichen Kontakte zu pflegen. Diese Entwicklung war nicht zuletzt auch durch die weite Verbreitung und umfang­reiche Nutzung von Computern in Verbindung mit der gesicherten Informations­übertragung über inzwischen sehr leistungsfähi­ge Kommuni­kations­netzwerke unter­stützt worden. Und sie hatte nicht nur im industriellen Bereich Platz gegriffen, sondern in allen Arbeitsbereichen, auch bei den Behörden, wo inzwischen sehr viele Auf­gaben von Heim-Arbeitsplätzen aus durch­ge­führt wurden, denn die meisten Behör­den­­anfra­gen kamen seit langer Zeit ohnehin übers WorldNet.

      Sehr vorteilhaft wirkte sich dieser Wandel auch auf das Verkehrsaufkommen aus, das

      da­­durch in Summe deutlich reduziert und zeitlich besser verteilt wurde, so daß selbst die so­genannte Rush hour damit ihren Schrecken verlor. Denn auch die immer noch notwen­di­gen Zusammentreffen – neben den weitverbreiteten Konferenzschaltungen mit Videoüber­tra­gung – verteilten sich jetzt besser über den Tag.

      Bei den sogenannten Call- und Präsenz-Berufen – dazu zählten all jene, bei denen der Betref­fende während einer bestimmten, vereinbarten Zeit entweder in Abrufbereitschaft oder sogar am Ort seiner Tätigkeit präsent sein mußte, also zum Beispiel alle Behörden und Organi­sa­tionen mit Sicherheitsaufgaben wie Polizei, Feuer­wehr, Not- und Rettungsdienste, aber auch Ärzte und Pfleger, Wach- und Schutz­dienste, in der Aus- und Weiterbildung und ähnliches – verhielt sich das natürlich etwas anders. Aber auch dort hatte sich das Leis­tungsprinzip zu einem gewissen Grade durch­gesetzt. Alle in diesen Berufsgruppen Tätigen hatten, wenn sie nicht selbständig waren, jeweils zeitlich begrenzte Verträge mit einem für diese Zeit festen Grundgehalt – einfach für ihre Anwesenheit. Ihre Tätigkeit während dieser Zeit wurde dann entsprechend der zuge­ordneten Wertigkeit extra honoriert. Nach Ablauf des Zeitvertrages konnte dieser verlängert werden oder auch nicht, je nach Bedarf und indi­vi­dueller Bewährung.

      Die meisten Schwierigkeiten mit diesem gesellschaftlichen Wandel hatten wohl die Gewerk­schaften, und von dort kamen auch die größten Widerstände, denn sie fürchteten ernsthaft und nicht ganz unbegründet um ihre Existenzberechtigung. Welche Rolle sollten sie noch spie­len, wenn die weitaus größte Mehrzahl aller Berufstätigen faktisch eigenständige Unter­neh­mer waren, die sich selbständig ihre Arbeit suchten und auch ihre Interessen selbst ver­traten?

      Aber gerade darin erkannte man schließlich die neue, freilich völlig andersartige Aufgabe der Gewerk­schaften, die insofern eine große Herausforderung für sie darstellte. Sie mußten um­denken. Es gab nicht mehr die großen, durch klare Fronten getrennten Blöcke – die Gruppe der Arbeit­nehmer auf der einen Seite, deren Interessen man gegen die Forderungen der Arbeit­geber auf der anderen Seite vertreten mußte. Diese Fronten hatten sich praktisch auf­gelöst. Jeder konnte Arbeitnehmer und Arbeitgeber zugleich sein, und viele waren in dieser Doppel­funktion tätig. Aber mit der konsequenten Einführung des Leistungsprinzips entstan­den auch ganz neue Aufgaben. So erkannte man ziemlich bald die Notwendigkeit, die Auf­trags­vergabe generell einer Art Qualitätskontrolle zu unterziehen, um der Willkür, der Über­vor­tei­lung und dem Mißbrauch nicht Tür und Tor zu öffnen. Und für den Fall, daß doch ein solcher Verdacht ent­stand, mußte es eine Schiedsstelle geben, an die sich jeder wenden konnte, um eine Klärung aus neutraler Sicht herbeizuführen. Ein solcher Fall war beispiels­weise gegeben, wenn der „Wert“ eines Auftrags vom Auftraggeber zu gering eingeschätzt und demzufolge unterbezahlt erschien, oder umgekehrt, wenn ein Auftragnehmer seine Leistung zu Dumping­preisen an­bot, um Mitbewerber auszuschalten. Der Aufwand für ein bestimmtes, zu verge­ben­des Arbeitspaket – und damit der Auftrags­wert – mußte jederzeit einer Überprüfung durch die Schiedsstelle standhalten können. Diese Kontroll- und Schieds­funktion als neutrale Instanz über­nahm jetzt die Gewerkschaft. Klar, daß sie sich völlig neu orientieren und die neue Rolle und die damit verbundenen Aufgaben selbst erst lernen muß­te. Vor allem mußte sie auch über die notwendigen Fachleute in ihren Reihen verfügen, um die erforderliche