Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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gewisser­maßen als Feinde des Menschen zu betrachten. Sie sind ja vom Menschen für den Menschen geschaffen worden! . . . So, und zweitens gewinnen wir Men­schen daraus den Nutzen, daß wir uns ganz auf solche Aufgaben kon­zentrieren können, die uns Spaß und Freude bereiten, die für uns interessant und an­spruchsvoll sind, die Kreativität erfordern. Das meinte ich vorhin mit neuen Freiräumen. Was nützen dir die besten Gedanken und Pläne, wenn du sie allein schon aus Zeitgründen nicht verwirklichen kannst. Stell dir doch mal vor, wie frustrierend es sein muß, wenn du im Alter dein Leben Revue passieren läßt und feststellen mußt, daß du zwar ´ne Menge tolle, inte­res­sante Ideen und Absichten im Laufe deines Lebens gehabt, aber keine davon verwirklicht hast. Das wäre doch eine schreckliche Erkenntnis! . . . Siehst du, und so etwas dürfte dir heutzutage eigentlich nicht mehr passieren. Du hast einfach ganz andere Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung! Und es liegt einzig und allein an dir selbst, ob du etwas daraus machst oder nicht. Die ‚Umstände‘ kannst du jedenfalls nicht mehr als Entschuldigung für Untätigkeit und unerfüllte Wünsche verantwortlich machen. Und damit komme ich jetzt zur Quintessenz meiner Ausführung: Nun kommt es nämlich darauf an, mit diesem Zeitgewinn etwas Sinnvolles anzufangen, nicht in ein Loch der Trägheit, der Lethargie zu fallen. Und ich finde, das klappt auch sehr gut. Du brauchst dich doch bloß mal umzuschauen, wieviel Leute überall ihre Selbst­verwirklichung gefunden haben, zum Beispiel durch künstlerische, kunst-handwerkliche oder handwerkliche Tätigkeiten. Das ganze kultu­relle Leben ist regelrecht aufgeblüht, der Bildungssektor boomt; Umweltpflege und Land­schafts­gestaltung verschönern unser Leben, . . . naja, und von der Freizeitgestaltung gar nicht zu reden. Ein schöneres Leben kann man sich doch gar nicht vorstellen! Also, was macht dich so skeptisch? Warum bist du so pessimistisch?“

      „Das war jetzt aber ´ne lange Rede!“ stellte Jochen fest, indem er dabei tief durchschnaufte. „Oder vielmehr schon ´nen ganzer Vortrag.“

      „Wieso wunderst du dich darüber, Jochen?“ unterbrach ihn Adrian Musenmann lautstark, damit es auch keiner überhören konnte: „Du müßtest doch eigentlich wissen, daß der Klaus an verbaler Inkontinenz leidet!“

      Alle lachten, während Klaus Eppelmann leicht verlegen wirkte.

      Nachdem sich alles wieder ein bißchen beruhigt hatte, begann Jochen Grüner erneut: „Was du sagst, Klaus, klingt ja plausibel und mag auch alles richtig sein. Aber ich denke immer schon ein bißchen weiter. Und ich frage mich, wohin diese Entwicklung noch gehen wird, verstehst du? Gerade weil es schon seit Jahren so ist, wie du es gerade dargestellt hast, deshalb entwickelt sich ja alles noch viel rasanter als früher. Die Erkenntnisse und Techno­lo­gie-Fortschritte galoppieren ja regelrecht! . . . Wer steuert diese Entwicklungen, damit das Ganze nicht in schiefe Bahnen gerät? Wer behält da überhaupt noch einen Überblick? Und wo soll das alles schließlich enden? . . . Das sind Fragen, die mich beschäf­tigen, die mir aber keiner beantworten kann.“

      Es trat eine Pause betretenen Schweigens ein.

      „Also, eines hätten sie von mir aus schon längst mal machen können“, meldete sich der vor­laute Adrian wieder zurück, „nämlich allen Schauspielern einen Chip ins Hirn einpflanzen, damit die nicht dauernd ihre Texte vergessen. Dann könnte ich die heute dies und morgen das spielen lassen – ganz egal, sie hätten alle Rollen immer parat, und wir brauchten auch nicht immer so lange zu proben. Das wär’ doch was, oder?“

      Einige schmunzelten, andere schüttelten den Kopf.

      „Ja, wie Klaus schon sagte, es hängt einzig und allein vom Menschen selbst ab, was er daraus macht“, mischte sich nun auch Qiang in die Debatte ein, dem es nicht gefiel, daß Adrian alles so ins Lächerliche zog. „Man kann heute bereits sehr vieles tun, und man wird künftig immer noch mehr Möglichkeiten haben. Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten. Aber man muß nicht alles, was man an tech­nischen Möglichkeiten beherrscht, auch wirklich tun. Gerade das Beispiel von Adrian zeigt ja, daß man sehr wohl in der Lage ist, sich Selbst­beschränkungen auf­zu­erlegen. Denn mit so einer Chip-Implantation hat man ja schon hin­länglich experimen­tiert. Und nachgewiesener Maßen beherrscht man diese Technik. Aber man ist trotzdem wieder davon abgekommen – aus ethischen Erwägungen! Das zeigt doch, daß der Mensch sich seiner Verantwortung als höchstentwickeltes Geschöpf dieser Erde sehr wohl bewußt ist! Nicht umsonst haben ja die Diskussionen über ethische und mora­lische Grundsätze unseres Handelns die ganze Entwicklung in zunehmendem Maße beglei­tet. Das muß dir doch auch ein gewisses Vertrauen in die Zukunft geben, Jochen?!“

      Jochen Grüner wiegte seinen Kopf bedächtig hin und her: „Nein, nein. Diese Aussage stimmt ja so nicht! Die Tatsache, daß es – ethische Erwägungen hin oder her – eben doch schon eine Reihe von Menschen mit einem Chip im Kopf gibt, zeigt doch, daß es immer Menschen gibt, die sich nicht um moralische Bedenken kümmern, wenn sie sich damit einen persönlichen Vorteil versprechen. Also, mit dem Vertrauen, das ist so eine Sache. Da bin ich eher skeptisch. Ich habe schon zu viele menschliche Enttäuschungen er­lebt.“

      „Du bist und bleibst halt ein Pessimist!“ rief Adrian Musenmann dazwischen. „Gegen Pessi­mis­mus ist kein Kraut gewachsen! Ein hoffnungsloser Fall!“

      „Spotte du nur“, entgegnete Jochen Grüner, „Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall! Und Ober­flächlichkeit wird eines Tages auch bestraft, warte nur.“

      „Willst du nicht zum Theater kommen?“ hänselte Adrian weiter. „Ich hätte eine Prima-Rolle für dich: ‚Der eingebildete Kranke‘ von Molière. Oder von mir aus auch: ‚Der Misanthrop‘, was hältst du davon?“

      „Hey, Leute, das bringt uns doch jetzt wirklich nicht weiter!“ griff Gunter Guter ein.

      „Aber es zeigt doch sehr anschaulich, daß nicht alle Menschen solche Thematik von grund­sätz­licher Bedeutung mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandeln“, beharrte Jochen Grüner. „Also wer gibt euch soviel Vertrauen, daß schon alles seinen richtigen Gang nehmen wird?“

      „Eine Garantie dafür wirst du natürlich niemals und von niemandem bekommen!“ entgegnete Gunter Guter. „Aber das sollte trotzdem kein Grund für dich sein, daß du vor lauter Besorgnis in Resignation verfällst. Selbstverständlich müssen wir uns einen geschärften Blick für mög­liche Fehlentwicklungen bewahren und rechtzeitig einschreiten, wenn sich solche dennoch anzubahnen scheinen. Nichtsdestotrotz müssen wir offen bleiben für neue Entwicklungen und nicht schon vom Grundsatz her gegen alles Neue opponieren. Sie haben uns bisher schon so viele Verbesserungen und Erleichterungen für unser Leben gebracht, daß wir sie nicht mehr missen möchten. Und es wird weitere Verbesserungen geben, davon bin ich über­zeugt!“

      „Und es wird weitere Arbeitsplätze kosten“, konstatierte Jochen Grüner.

      „Gib dir keine Mühe, Gunter. Aus einem Pessimisten kannst du keinen Optimisten machen!“ mischte Adrian sich wieder ein, noch bevor Gunter Guter das Wort ergreifen konnte. „Das ist völlig aussichtslos. Ich sag‘ ja: Hoffnungsloser Fall!“

      „Also komm, Adrian, jetzt reicht´s aber mit deiner Polemisiererei!“ mischte sich nun auch Volker Ungerecht ein, dem es offenbar allmählich zu bunt wurde. „Es muß auch kritische und warnen­de Stimmen geben! Wer weiß, wo wir ohne sie möglicherweise schon hin gedriftet wären. Schließlich ist nicht jede Entwicklung wirklich nur zu unserem Nutzen.“

      „Also gut! Sprechen wir über was anderes“, willigte Adrian ein. „What about sex?“

      Aber mit dieser sicher auch ein wenig provokatorisch gemeinten Aufforderung erntete Adrian nur noch mehr Unmutsäußerungen aus der Herrenrunde, so daß er schnell einen anderen Vorschlag nachschob: „What about jobs?“

      Wieder lautes Murren und Unmutsäußerungen, teils sogar spöttisches Lachen. Die Herren hatten auch auf dieses Thema keine rechte Lust. Im übrigen, glaubten wohl auch die meisten von ihnen, sei das ja ohnehin wieder nur einer seiner längst nicht immer belustigenden Scherze gewesen. Und das hatte Adrian sich selbst zuzuschreiben, denn er hatte sich durch seine vielen spaßigen, häufig aber nicht wirklich witzigen und teilweise sogar unqualifizierten Äußerungen über die Jahre den Ruf eines nicht unbe­dingt immer ernst zu nehmenden Spaß­vogels erworben.